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1. Adolf Hitler: Starker oder schwacher Diktator?

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Dass es um die Rolle und Bedeutung Adolf Hitlers im Dritten Reich zu einer historischen Kontroverse kommen konnte, erscheint auf den ersten Blick geradezu unverständlich. Wo immer man zwischen 1933 und 1945 in Deutschland hinsah, der Führer war omnipräsent. Keine Entscheidung von Gewicht, keine große Selbstinszenierung des Nationalsozialismus, kein Plan für die zukünftige Gestaltung Deutschlands wäre doch ohne Hitler denkbar gewesen!

Auch viele Zeitgenossen haben aus dem eigenen Erleben der übermächtigen Rolle Hitlers im Nationalsozialismus verständnislos auf die historische Debatte über einen (vermeintlich) doch so klaren Sachverhalt geblickt. Und in der Tat bedarf es auch einer zugespitzten Interpretation der politischen Zustände des Dritten Reiches, um, wie Hans Mommsen es auf einem der Höhepunkte der Auseinandersetzung getan hat, Hitler als einen „in mancher Hinsicht schwachen Diktator“ (87, S. 702) zu bezeichnen.

Polykratie im Dritten Reich

Allerdings ist die Beobachtung, dass das „innere Gefüge“ des Dritten Reiches nicht so recht zu dem nach außen getragenen Bild des straffen Führerabsolutismus passte, durchaus alt. Schon dem aus NS-Deutschland emigrierten jüdischen Politologen Ernst Fraenkel war bei der Analyse der innen-, speziell justizpolitischen Entwicklung Deutschlands in den 30er-Jahren (65) aufgefallen, dass sich der traditionelle Gesetzesstaat in Deutschland unter Hitlers Führung zunehmend auflöste, und zwar zugunsten eines um sich greifenden, von Führer und Partei gelenkten Maßnahmenstaates. Dies produziere, so Fraenkel, tendenziell ein nach politischer Opportunität reagierendes Führungschaos. Ein weiterer emigrierter deutsch-jüdischer Wissenschaftler, Franz Neumann, war noch weiter gegangen und hatte 1944 Deutschland unter Hitlers Führung als ein System von vier konkurrierenden Machtzentren, der Partei, der Bürokratie, der Wehrmacht und der Industrie analysiert, das in einer „organisierten Anarchie“ geendet sei und nur durch eine „charismatische Führergewalt“ zusammengehalten werde (90, S. 22, 543). In der Nachkriegszeit waren Studien wie die von Hannah Arendt (51, S. 618), von Hugh Trevor-Roper (45) oder auch von Gerhard Schulz (56) erschienen, die zwar Hitler als den Dreh- und Angelpunkt des Dritten Reiches sahen, gleichwohl nicht einseitig von einer reinen Monokratie im Nationalsozialismus sprechen wollten. Nachhaltigste Wirkung erzielte Karl Dietrich Brachers Werk über das Ende der Weimarer Republik in den 50er Jahren (57; 58), das die polykratische Komponente im NS-Herrschaftssystem breit berücksichtigte.

In den 1970er Jahren entstand nun aber aus dieser von einer jüngeren Historikergeneration als unbefriedigend und widersprüchlich empfundenen Deutungslage ein scharfer wissenschaftlicher Meinungsstreit. Zu diesem mag beigetragen haben, dass sich die bis dahin gängigen Hitlerbiographien auch zu keiner wirklich überzeugenden Interpretation der Rolle des Führers hatten vorarbeiten können. Während etwa A. Bullock Hitler mehr als prinzipienlosen Opportunisten beschrieben hatte, dem es nur um die Machterhaltung ging (63, S. 37), zeichnete J. Fest 1973 den „Führer“ doch mehr als ein geistig beschränktes, von seiner Zeit hochgespültes Gewächs, das gleichwohl mit seinem im Männerheim ausgebildeten sozialdarwinistischen Instinkt die Zügel in der Hand behalten habe (64). Und der Amerikaner Rudolph Binion suchte gar die Verbrechen des Nationalsozialismus mit einer psychosozialen Studie zu erklären, die Hitlers Psychose über die Falschbehandlung des Brustkrebses seiner Mutter durch einen jüdischen Arzt und mancherlei seelische Erschütterungen im Pasewalker Lazarett, in dem er 1918 mit einer Gasvergiftung gelegen hatte, in den Vordergrund stellte (54).

„Revisionistische“ Interpretation

„Ich kann einfach nicht glauben, dass es ausreicht, einer jüngeren Generation die Tatsache der Ermordung von 5½ Millionen Juden mit Hitlers fanatischem Antisemitismus und seiner wie immer begründeten politischen Durchsetzungskraft zu erklären“ (86, S. 67) – so suchte Hans Mommsen sehr persönlich den Beweggrund seiner kritischen Neuinterpretation verständlich zu machen. Nach einigen vorlaufenden Auseinandersetzungen wurden die gegensätzlichen Positionen in aller Deutlichkeit und mit nicht unerheblicher Polemik bei einer Tagung des Deutschen Historischen Instituts London in Cumberland Lodge bei Windsor 1979 vorgetragen. Dabei profilierten sich Hans Mommsen auf der einen und Klaus Hildebrand auf der anderen Seite als die gewichtigsten Wortführer der differierenden Interpretationsrichtungen, so dass es angängig erscheint, die Kontroverse anhand der von diesen beiden herausragenden Historikern vorgebrachten Argumentationslinien zu verdeutlichen. Selbstverständlich aber sind noch eine Reihe weiterer gewichtiger Mitdiskutanten aufgetreten, die der englische Historiker Mason dann reichlich verallgemeinernd in zwei Lager eingeteilt hat: Auf der einen Seite stünden die „Programmologen“ oder „Traditionalisten“, später auch „Intentionalisten“ genannt, die die bislang gültige Interpretationsrichtung verträten und die Rolle Hitlers im Dritten Reich als letztlich entscheidend beurteilten. Auf der anderen Seite die „Revisionisten“, „Strukturalisten“, „Funktionalisten“, die diese bisherige Sicht einer Revision unterziehen wollten, die von den strukturellen Gegebenheiten als mächtigstem Wirkfaktor ausgingen und unter Hintansetzung Hitlers als Person das Funktionieren des Dritten Reiches erklärten (70).

Mommsen ging davon aus, dass schon Hitlers eigene Partei alles andere als ein wohlgeordneter politischer Verband war. Ein wirkliches Programm hatte sie ebenso wenig wie geordnete innere Strukturen. „Die NSDAP und die ihr angegliederten Verbände glichen […] eher einer Vielzahl miteinander konkurrierender Klientelen als einer schlagkräftigen, bürokratisch durchorganisierten Herrschaftsapparatur“ (87, S. 701). Was sich auf der Parteiebene über Jahre ausgebildet hatte, wurde 1933 auf den eroberten Staat übertragen: „Selten gelangte eine Partei so unvorbereitet zur politischen Macht wie die NSDAP am 30. Januar 1933“ (83, S. 30) – so hatte Mommsen schon 1976 auf der Grundlage einschlägiger Vorarbeiten (55; 91) geurteilt. Es gab kein positives Ziel, allenfalls negative wie die Zerschlagung des Parlamentarismus und die notwendig darauf folgende Usurpation der Macht durch den Nationalsozialismus. Deshalb haftete, so Mommsen, „der Charakter des Vorläufigen und Unfertigen“ dauerhaft dem nationalsozialistischen Staat an, „die Spannung zwischen überkommener Staatsverfassung und der sie überlagernden Herrschaftszonen der Parteieliten machte sein eigentliches Wesen aus“ (83, S. 32). Dies wurde schon an ganz zentralen Führungsbereichen überdeutlich: Kabinettsbesprechungen wurden im nationalsozialistischen Deutschland immer seltener, bis sie 1938 ganz aufhörten. Der Staatsekretär, später Reichsminister der Reichskanzlei (1937) Hans Lammers, geriet, je länger je mehr, in den Hintergrund und musste mit dem Chef der Parteikanzlei, Martin Bormann, schließlich regelrecht feilschen, um wenigstens gelegentlich zum Führer vorgelassen zu werden. Reichsinnenminister Frick, Sprachrohr des bürokratischen Staatsaufbaus, konnte die geplante Verfassungsreform nicht durchsetzen und geriet mit seinen Vorstellungen immer mehr ins Abseits, bis er 1942 nach Böhmen abgeschoben wurde. Über die Polizei, genuine Aufgabe des Innenministers, hatte er ohnehin keine Gewalt, weil sie vom Reichsführer SS usurpiert worden war. Die von ihm intendierte große Reichsreform, über die schon in Weimar erfolglos gestritten worden war, weil sie die Ländergrenzen tangierte, scheiterte aus demselben Grund kläglich, obwohl doch jetzt im zentralistischen Führerstaat partikulare Interessen eigentlich gar keine Rolle mehr hätten spielen dürfen. Am Ende verbot der Führer 1935 einfach jede weitere Diskussion und verschob das Problem wie so oft in eine ungewisse Zukunft. Solches Scheitern wurde zum Programm, weil praktisch auf allen Ebenen Partei- und Staatsbeamte um Macht und Einfluss kämpften – kämpfen konnten, weil es keine regulierende Instanz gab, weil klare Festlegungen wie man sie von einem „starken Mann“ erwarten sollte, im Staate Hitlers vermieden wurden. So wurde die Rivalität zwischen Bürgermeister beziehungsweise Landrat und NSDAP-Kreisleiter, zwischen Ministerpräsidenten beziehungsweise Reichskommissaren und NSDAP-Gauleitern, zwischen Polizei beziehungsweise Justiz und SS und so weiter notorisch. So sehr Hitler hartes und entschlossenes Durchgreifen propagierte, so wenig war er selbst auf dem Gebiet der Staatsverwaltung dazu in der Lage, scheute die Entscheidung, behandelte wichtigste Fragen dilatorisch. Es war bezeichnend, als eine im Umkreis der Parteikanzlei 1942 entstandene Denkschrift diesen Führungsstil als das Prinzip des „Wachsenlassens […] bis der Stärkste sich durchgesetzt hat“ beschrieb (85, S. 52). Rational war in alledem einzig die Beachtung der propagandistischen Wirkung aller Maßnahmen, so dass in der Regel der Anschein der Führungskraft Hitlers nach Außen gewahrt blieb. Vollends zerrüttet stellte sich nach Mommsen die Lage gegen Ende des Krieges dar, als der Führer die Realität gar nicht mehr wahrnehmen wollte und geradezu gespenstisch aus seinem unterirdischen Quartier Befehle ausgab an jene, die schon nicht mehr lebten oder gar überhaupt nie existiert hatten. Vor dem Hintergrund einer solch desaströsen Führungsschwäche und administrativen Unfähigkeit erschien Mommsen die NS-Herrschaft als „mit gleichsam innerer Notwendigkeit zur Selbstvernichtung“ hintreibend.

Wie aber, so fragt sich angesichts eines solchen Befundes, konnte sich das Regime dann 12 Jahre lang an der Macht halten, sogar sechs Jahre davon einen Weltkrieg führen, der anfänglich glänzende militärische Erfolge brachte? Mommsens Antwort lautete: Hitler war nur „extremer Exponent einer durch den Wegfall aller institutionellen, rechtlichen und moralischen Barrieren freigesetzten antihumanitären Impulskette“ (85, S. 66), die ihre Wurzeln in den alten Eliten hatte, welche auch im Nationalsozialismus gesellschaftlich entscheidend blieben, mit dem Nationalsozialismus Antibolschewismus und Antisemitismus teilten, freilich zusätzlich wie die ganze Gesellschaft „kumulativ radikalisiert wurden“ und damit eine zerstörerische Eigendynamik entwickelten. Der Nationalsozialismus ist, so diese Interpretation, also nicht eine von Hitler den Deutschen aufgezwungene, von einem allmächtigen Diktator gelenkte Ideologie, sondern fußte auf gesellschaftlichen Voraussetzungen, konkret den dominanten reaktionären Kräften, die seinen Erfolg letztlich erst möglich machten. So sah es auch Martin Broszat: die „Kollaboration zwischen den konservativen Gegnern der Demokratie und der nationalsozialistischen Massenbewegung“, sie sei es gewesen, die Hitlers Herrschaft die eigentliche Dauer verliehen habe (61, S. 24).

Hatte Karl Dietrich Bracher Hitlers Stellung in diesem Führungschaos noch mit einem sozialdarwinistischen Kalkül Hitlers erklärt, durch das der Führer selbst zum arbiter supremus geworden sei, womit seine letztliche Entscheidungsgewalt noch eine Steigerung erfahren habe (58, S. 42), so wollte Mommsen für eine solche Annahme bei so wenig Rationalität und Effektivität in der Führung nun überhaupt keinen Beleg mehr sehen. Deshalb war und blieb für ihn Adolf Hitler am Ende eben doch nur und schlicht ein „schwacher Diktator“.

„Intentionalistische“ Interpretation

Gegen diese Sicht der Verhältnisse im NS-Staat hat sich vielfacher Widerspruch erhoben, der wohl am prononciertesten von Klaus Hildebrand vorgetragen wurde. Dabei fällt auf, dass Hildebrands Perspektive zunächst und vor allem von einer präzisen Analyse der nationalsozialistischen Außenpolitik bestimmt wurde. Die Außenpolitik sah der Diktator als wichtigsten und daher ihm alleine vorbehaltenen Politikbereich an. Und hier lässt sich, so Hildebrand, von Anfang an eine Art „Programm“ feststellen, an dessen Erfüllung Hitler bis zum Ende arbeitete. Freilich darf „Programm“ in Hildebrands Sinne nicht als ein exakter Plan mit wohl kalkulierten Ablaufmustern verstanden werden, sondern vielmehr als eine Art „Willens-Achse“ (66, S. 13), als eine Ansammlung von Maximen, Projekten, Ideen, die zielstrebig verfolgt wurden unter Ausnutzung von eingetretenen Situationen und bewusst herbeigeführten Sachlagen. Hitlers außenpolitische Ziele waren im wesentlichen durch seinen rassistischen Antisemitismus und die Erlangung der Weltherrschaft für Deutschland im Zuge einer systematischen, stufenweisen Eroberung erst Europas, dann der Welt festgelegt. Auch das Scheitern dieser Idee war berücksichtigt: in diesem Falle sollte Deutschland als der erwiesenermaßen Schwächere untergehen. Dieses schon in „Mein Kampf“ angelegte „Programm“ suchte der Diktator, wie Klaus Hildebrand und mit ihm etwa auch Hillgruber (71) und Jacobsen (74) quellennah darzulegen verstanden, insbesondere in den Jahren 1939 bis 1942 allen Widrigkeiten zum Trotz zu exekutieren. In immer weitere Räume ausgreifend, begrenzte Erfolge vorschnell zu totalen Siegen erklärend, war er bestrebt, diese Weltherrschaftspläne unter rassistischen Prämissen zielgerichtet umzusetzen. Am Ende führte er damit aber eine Politik, die gerade nicht den Vorstellungen der traditionellen Elite entsprach, deren Kollaboration mit Hitler Hans Mommsen zum zentralen Erklärungsgrund der Geschichte des Dritten Reiches gemacht hatte (68, S. 90). Hitler erscheint damit doch wieder als „master in the Third Reich“ (94 I, S. 11).

So charakteristisch und symptomatisch es ist, dass die gegensätzlichen Positionen in der Einschätzung der Rolle und Bedeutung Hitlers an den inneren Strukturen des Dritten Reiches einerseits und der Außenpolitik des Führers andererseits exemplifiziert wurden, so wenig blieben die konträren Denkschulen an diesem Punkt stehen, sondern waren bemüht, den jeweiligen Interpretationsansatz korrigierend auch auf den empirischen Befund der Gegenseite zu übertragen.

In dem Vorgehen, das Hildebrand als konsequent verfolgtes außenpolitisches „Programm“ bezeichnete, vermochte Mommsen nichts weiter als ein reichlich konfuses, von situativen Notwendigkeiten, utopischen Vorstellungen und propagandistischem Gerede bestimmtes, in jedem Fall unstrukturiertes Handeln zu erkennen. Für dieses trug nicht der Diktator allein die Verantwortung, sondern auch das im Bereich der auswärtigen Politik und der Innenpolitik, im Kompetenzengerangel wirkende Personal. Der italienische Außenminister Graf Ciano hatte schon die deutsche Außenpolitik mit einem Hühnerhof verglichen, in dem es einfach zu viele Hähne gebe (66, S. 39). Als geradezu typisch erscheint in diesem Zusammenhang in vielen Argumentationsketten immer wieder der Anschluss Österreichs 1938, zu dem Hitler, unschlüssig und unsicher wie immer, von Göring habe gezwungen werden müssen. „Ziemlich gegen Hitlers Willen“ habe Göring eine „politische Intervention“ in eine „militärische Besetzung“ umgewandelt (88, S. 86–97; 77; 79; neuerdings 53). Der außenpolitisch zielstrebig agierende Diktator also doch nur ein unsicherer, getriebener „Durchführer“?

Und Hitlers ferneren Zielen, besonders der angestrebten Weltherrschaft, wollte Mommsen schlicht „keinerlei Realitätsgehalt“ beimessen (83, S. 45). Vor allem aber lehnte er es ab, Hitler jene Rationalität zuzusprechen, die zwingend notwendig wäre, wenn man von einem zielgerichteten „programmatischen“ Handeln im Sinne Hildebrands in der Verfolgung der außenpolitischen Ziele ausgehe. Am Ende, so Mommsen, müsse man, wenn man Hildebrands Auffassungen folgen wolle, dann Hitler sogar noch in gewisser Weise – horribile dictu – „historische Größe“ attestieren, womöglich den Begriff Nationalsozialismus durch „Hitlerismus“ ersetzen (86, S. 65). Nach Martin Broszat war – in Fortführung dieser Position – schließlich Hitlers Außenpolitik sowieso nur „metaphorisch“, uneigentlich auf die innenpolitische Wirkung und jedenfalls nicht auf Verwirklichung angelegt (62, S. 392ff.).

Umgekehrt betonten Hildebrand und Vertreter seiner Position, wie Sebastian Haffner, nun noch prononcierter die ältere Ansicht Brachers zur Herrschaftsrealität im Dritten Reich: Hitler habe, so formulierte Haffner, in der Innenpolitik absichtlich einen Zustand herbeigeführt, „in dem die verschiedenen eigenständigen Machtträger unabgegrenzt, miteinander konkurrierend und einander überschneidend, nebeneinander und gegeneinander standen, und nur er selbst an der Spitze von allen […] Denn er hatte das vollkommen richtige Gefühl, dass […] absolute Herrschaft nicht in einem intakten Staatswesen möglich ist, sondern nur in einem gebändigten Chaos. Deswegen ersetzte er von Anfang an den Staat durch ein Chaos – und man muss ihm zugestehen, dass er es solange er lebte, zu bändigen verstand“ (67, S. 58f.) Darüber hinaus wurden Ausmaß und Bedeutung des von Mommsen konstatierten polykratischen Chaos in Frage gestellt und relativiert, existierten Kompetenzüberschneidungen und sich widersprechende Regierungssysteme doch auch unter anderen politischen Voraussetzungen. Schon 1912 zum Beispiel hatte sich der britische Lord Haldane bei seiner berühmten Mission bestürzt über das „Chaos im gleichen Schritt und Tritt“ in der Regierungsmaschinerie des preußisch-deutschen Konstitutionalismus (70, S. 290) geäußert. Ungelöste Konflikte und vertagte Entscheidungen müssen, so ein weiteres Argument, keineswegs als Führungsschwäche interpretiert werden, sie mögen auch dem Desinteresse des an „Wichtigerem“ interessierten Diktators geschuldet sein, für dessen Regierungsstil dies eben signifikant war, ohne dass dies wirklich existentielle Bedeutung bekommen hätte. Entscheidend wird vor diesem Hintergrund die Frage, ob und wie solche Konfusion eingedämmt und produktiv umgelenkt werden kann, womit dann die Frage nach der Rolle des Diktators neu dimensioniert im Raum steht.

Eberhard Jäckel kommt in diesem Zusammenhang das Verdienst zu, durch eine sehr präzise Analyse der Rahmenbedingungen und der politischen Optionen in der Machtergreifungsphase die Rolle Hitlers faktennah reflektiert zu haben. Ausgehend von der Überlegung, dass Hitler seine Ernennung zum Reichskanzler einerseits seiner nationalsozialistischen Anhängerschaft, die aber nicht die Mehrheit der Stimmen repräsentierte, und andererseits seinen konservativen Partnern, die aber in vielfachem Gegensatz zu seinen Anhängern standen, verdankte, konstatiert Jäckel eine im Grunde ausgesprochen problematische Regierungssituation am 30. Januar 1933. „Wer eine derartige Regierung führt, die aus zwei gegensätzlichen Gruppierungen besteht, ist in Gefahr, eine von ihnen oder sogar beide zu enttäuschen und so ihre Unterstützung zu verlieren. Um das zu vermeiden, muss er sie beide befriedigen, und da das vollständig nicht möglich ist, muss er zwischen ihnen lavieren und sie gegeneinander ausspielen. Das erfordert eine besondere Regierungskunst und hat, mit Erfolg betrieben, eine besondere Regierungsform zur Folge, die zu einer mehr oder minder großen Unabhängigkeit des Herrschers von beiden Gruppierungen führt“ (72, S. 40). Dass Hitler eben diese „Regierungskunst“ zu entwickeln im Stande war, stellt Jäckel sodann in einem prononcierten Überblick über den Aufbau der Hitler-Diktatur dar, der ihn als einen geschickten Taktierer erweist. Das von Mommsen konstatierte Führungschaos bestreitet auch Jäckel nicht, gleichwohl hebt er den scheinbaren Gegensatz anders als Haffner oder Bracher in einer einfachen, eingängigen Erklärung auf: Die „Konkurrenz jedenfalls ist ein Wesensmerkmal von Monokratie, und insofern sie eine weit gehende Eigenmächtigkeit der Ämter zur Folge hat, kann man sie auch Polykratie nennen. Nur darf man nicht verkennen, dass Polykratie eine notwendige Bedingung von Monokratie ist. Ein Monokrat kommt auf polykratischer Basis an die Macht, indem er von konkurrierenden Gruppen getragen wird, und er bleibt mit polykratischen Methoden an der Macht, indem er sich auf die Konkurrenz der Gruppen und Ämter stützt. Die entscheidende Frage ist nur, ob sie ihm den Willen aufzwingen oder er seinen durchsetzt“ (72, S. 64).

Vor diesem Hintergrund konnte Hildebrand im Blick auf die Innen- wie die Außenpolitik seine interpretatorische Grundlinie zusammenfassen: „Im Nebeneinander von monokratischen und polykratischen Elementen im nationalsozialistischen Staat offene Gegensätzlichkeiten und nahezu Unvereinbares zu entdecken und zu beschreiben, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Existenz eines Kompetenzenchaos im nationalsozialistischen Regime nichts besagt ‚gegen den definitiven und letztlich auch konsequenten Willen Hitlers und seiner Politik’ im Banne ihrer ‚Endziele’“ (69, S. 77). Und Karl Dietrich Bracher warnte gar davor, dass die Überbetonung der polykratischen Grundstrukturen zu einer Verharmlosung des Nationalsozialismus beitragen könne: „Die Geschichte des Nationalsozialismus ist die Geschichte seiner Unterschätzung“ (59, S. 62).

Diese Kontroverse um die Rolle und Bedeutung Hitlers im nationalsozialistischen Deutschland hat fruchtbar auf die historische Forschung gewirkt. Seit ihrem Entstehen sind immer mehr, immer präzisere Studien entstanden, die Mommsens oder Hildebrands Auffassungen mit empirischem Material zu verifizieren oder zu falsifizieren versucht haben. Allein die DDR-Historiographie hat sich wegen ihrer Verhaftung in der starren marxistischen Geschichtsdoktrin kaum daran beteiligt und sich einmal mehr damit selbst ins Abseits der wissenschaftlichen Diskussion gestellt (eine der wenigen Ausnahmen: 160).

Rebentischs Position

Besondere Bedeutung haben in der weiteren Diskussion die Forschungen Dieter Rebentischs erlangt, der aus der geschilderten Argumentation den logischen Schluss gezogen hat, die Herrschaftsführung im Führerstaat genauer als dies bislang in akzidentiellen Einzelbefunden der Fall war, zu untersuchen. Wie wurde denn eigentlich in dem gar nicht zu bestreitenden Kompetenzenchaos und Führungsgerangel tagtäglich „regiert“? Denn obwohl für den Nationalsozialismus „weder eine planmäßige, rational kalkulierende Vorausberechnung des verfassungspolitischen Handelns noch eine systematisch konzipierte Schrittfolge der verschiedenen Maßnahmen zu konstatieren“ ist, lässt sich „eine ideologisch motivierte Zielstrebigkeit zur Vermehrung und Vollendung der Führerherrschaft und eine generelle, von radikalisierenden Schüben zeitweise verschärfte Tendenz zur Durchsetzung und Verwirklichung weltanschaulicher Programmpunkte des Nationalsozialismus“ sehr wohl feststellen. Führungsstrukturen und Unterführer der NSDAP, die staatliche Verwaltung, Entscheidungsabläufe und dergleichen mehr kamen nun ins Blickfeld und es zeigte sich, dass „‚Hitlers Weltanschauung’ […] eben nicht allein die Weltanschauung Hitlers, sondern ein bei den Gauleitern, Kreisleitern und Ortsgruppenleitern in immer kleineren Abbildern reproduziertes Bekenntnis“ war. Das alte Argument, es habe in Hitlers Interesse gelegen, Rivalitäten zu fördern, Entscheidungen aufzuschieben, um am Ende selbst seine Entscheidungsgewalt für die Dinge, die ihn interessierten, zu festigen, erfuhr erneut seine Bestätigung. Vor allem aber wurde ein stark auf die Personalisierung der Politik zielender Führungsstil Hitlers herausgearbeitet – „Verwaltung contra Menschenführung“ (92) –, der zum einen partikulare, durchaus auch sich widersprechende Entscheidungen der Unterführer zuließ, zum anderen bewusst das Heft des Handelns nie aus der Hand gab, wo zentral wichtige Belange tangiert wurden. „In gewisser Weise war die polykratische Desorganisation des Reichsverwaltungssystems geradezu eine Voraussetzung für die führerstaatliche Autokratie Hitlers, weil ein mächtiger Staatsappart mit institutionalisierten Sachkompetenzen die Führungsentscheidungen stärker präjudiziert und rationalisiert hätte, als es mit Hitlers ideologischen Maximen vereinbar war.[…] Die Polykratie war demnach die spezifische Herrschaftsmethode einer irrational gesteuerten ideologischen Bewegung, die einen radikalen Krieg führte gegen Staat und Gesellschaft. Der nationalsozialistische Führerstaat war demnach auch keine bloße Fortsetzung des Obrigkeitsstaates oder eine besonders brutale Variante des autoritären Verfassungsstaates, er war vielmehr ein auf Hitlers Willkürherrschaft zentrierter, atavistischer Personenverband, nichts anderes als ‚Hitlers Regime, Hitlers Politik, Hitlers Sieg und Hitlers Niederlage’, in jedem Falle aber Hitlers eigene Schöpfung und insofern mehr als nur ein Fall totalitärer Herrschaft“ (93, S. 552f.).

Rebentischs Studie, deren Qualität auch Hans Mommsen nicht bestritt, wohl aber deren Schlussfolgerungen für das Hitlerbild (84), hat sehr anregend gewirkt und eine Vielzahl von Arbeiten vor allem über nationalsozialistische Funktionsträger (95; 89, S. 398; 60, S. 63; 78, S. 178; 80, S. 418; 76, S. 325) und über die regionalen NS-Eliten (82) initiiert. Durch solche Arbeiten ist der polykratische Befund erst in der notwendigen empirischen Dichte herausgearbeitet worden, ist die wild wuchernde Kompetenz- und Autoritätssucht, ja sogar Korruption (52) bis in die untersten Staats- und Verwaltungsebenen deutlich geworden, die als konstitutives Element des NS-Staates gleichwohl nie die entscheidende Autorität Hitlers in Frage gestellt hat. Viele aussagekräftige Einzelfälle und Ereignisse sind auf diese Weise bekannt geworden und haben das Funktionieren des NS-Staates besser „verstehbar“ gemacht: So auch zum Beispiel der des Heilbronner Kreisleiters Richard Drauz. Der war ein Frauenheld und Trinker, ein Schläger, Betrüger und schließlich auch ein Mörder, kurzum in gar keiner Hinsicht ein Mann, der dem propagierten Idealbild des NS-Parteifunktionärs entsprochen hätte. Drauz regierte als „kleiner König“ in Heilbronn, er bootete parteiinterne Gegner mit pefidesten Mitteln aus, er verstieß gegen Weisungen seiner Vorgesetzten, er setzte seine eigenen politischen Interessen rücksichtslos durch und war gegen jede Kritik von oben äußerst resistent. Er trug also nicht unwesentlich zum polykratischen Führungschaos in seinem Wirkungsbereich bei. Aber eines war ihm heilig: sein Führer Adolf Hitler. „Wenn für mich der Adolf Hitler sagt, das Wasser geht bergauf, dann geht’s für mich bergauf“, belehrte er seine Frau, die der Ansicht war, dass ihr Mann keine politische Überzeugung, sondern Hitler gegenüber nur Kadavergehorsam gekannt habe (Schlösser in 75, S. 155).

Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang schließlich auch die durch Rebentischs Perspektive angestoßene erneute Suche nach einschlägigem Quellenmaterial und dessen Edition, durch das sich Hitlers Führungskraft oder -schwäche erweisen ließe. Hierfür stehen beispielsweise die Arbeiten von Martin Moll (31; 81).

Kershaws Position

Auch Ian Kershaw hat die Interpretationsgegensätze durch eine genaue Analyse der Herrschaftsführung im Nationalsozialismus zu überwinden gesucht und dazu in bestechender Einfachheit die notwendigen Schritte zur Klärung der Kontroverse benannt. Wenn man, so Kershaw, den Nachweis führen wollte, Hitler sei ein „schwacher Diktator“ gewesen, so sei dies nur möglich, wenn sich erweisen ließe, dass der Diktator entweder 1) sich grundsätzlich als entscheidungsschwach beziehungsweise gar -unwillig gezeigt habe oder 2) wenn seine Entscheidungen von Untergebenen missachtet worden wären oder 3) wenn sein Entscheidungsspielraum von den strukturellen Rahmenbedingungen her eng begrenzt gewesen wäre. Für keine dieser Annahmen findet Kershaw indessen wirklich schlagkräftige Belege, im Gegenteil. Gleichwohl will er dieses Ergebnis keineswegs als Beweis für die Richtigkeit der Thesen der „Programmologen“ verstanden wissen. Vielmehr erklärt er die seiner Ansicht nach festzustellende Gleichzeitigkeit polykratischer wie monokratischer Herrschaft im Dritten Reich aus Hitlers Herrschaftsform, der „charismatischen“ Führerautorität. Dieses charismatische Führertum „leitete sich nur teilweise von Hitler selbst ab. In größerem Maße war [es] ein Produkt der Gesellschaft – ein Ergebnis der gesellschaftlichen Erwartungen und Motivationen, die Hitlers Anhänger auf ihn übertrugen.“ (24, S. 23). Dies bedeutete konkret, dass der Führer sich bewusst aus den Niederungen des politischen Alltags heraushalten musste, eher selten selbst die Dinge entschied, das Alltagsgeschäft den Nachgeordneten überließ, durch deren Rivalität das polykratische Gegeneinander erwuchs, letztlich dann die ganze Gesellschaft auch „kumulativ radikalisierte“. Am Ende stellte er sich auf die Seite des sozialdarwinistisch betrachtet Stärkeren, achtete vor allem stets darauf, dass der Mythos des starken und weisen Führers im Volk aufrechterhalten blieb. Aber die dadurch bedingte „Notwendigkeit, immer größere Meisterleistungen zu vollbringen, um die Massen an sich zu binden und ein Abflauen der ‚Vitalität’ des Regimes hin zur Stagnation, Ernüchterung und möglichem Zusammenbruch zu verhindern“ förderte letztlich die Selbstzerstörungstendenzen des Regimes. Hier steht Kershaw der Interpretation Mommsens wieder sehr nahe (23, S. 137).

Kershaws Analyse zeigt: Ein Ende der Diskussion ist keineswegs, wie Eberhard Jäckel in einer Rezension über Rebentischs Studie einmal gemeint hat, mit „einem Schlag“ erfolgt (73, S. 785) und auch H.-U. Thamers „Kompromiss“-Formel, das Dritte Reich „besaß eine starke monokratische Spitze und gleichzeitig polykratische Machtstrukturen. Das eine bedingte das andere“ (44, S. 73), die zu Recht viel Zustimmung gefunden und die Debatte ganz wesentlich entschärft hat, wird daran wohl kaum wirklich etwas ändern können. Und das hat gute Gründe.

Fortbestehende methodische Differenzen

Denn betrachtet man die Auseinandersetzung genauer, so wird deutlich, dass der Frage, welche Rolle Hitler im Dritten Reich gespielt hat, zwar gelegentlich auch differierende moralische und politische Einstellungen, wie Kershaw (23, S. 113) meint, weit mehr aber eine ganze Palette völlig gegensätzlicher theoretischer, methodischer und gesellschaftspolitischer Grundüberzeugungen zugrunde liegen.

Zunächst spiegelt sich in der Kontroverse um Hitler als starken oder schwachen Diktator ein Dissens über die methodischen Zugänge wider: Während Hildebrand dem biographischen Ansatz eine hohe Erklärungskraft gerade für die Zeit des Nationalsozialismus konzediert, lehnt Mommsen eben das vehement ab: „Ich sträube mich dagegen, die Ursachen […] in irgendwelchen überragenden persönlichen Qualifikationen Hitlers zu erblicken […] Ich bin überzeugt, dass das Genre der klassischen Biographie gegenüber einer Person wie Hitler notwendig versagt“ (86, S. 67).

Sein Zugang ist die Strukturgeschichte, die zweifellos komplexere, daher schwerer zu verstehende Erklärungsmuster liefert, nach Mommsen aber eben auch präziser analysiert. Sie entgeht, und dies schwingt deutlich in allen Argumentationen mit, zudem der Gefahr, Hitler als den Alleinverantwortlichen für die deutsche Katastrophe der Jahre 1933–1945 zu definieren, sondern berücksichtigt auch die Mitwirkung der Vielen, vor allem der alten Eliten, ohne deren Kollaboration seiner Meinung nach die Exekution der NS-Verbrechen gar nicht denkbar gewesen wäre.

Die „Programmologen“ setzen dem klar herausgearbeitete ereignisgeschichtliche Abläufe entgegen, um aus dem faktischen Geschehen der Zeit heraus das Funktionieren des NS-Staates zu erklären. Strukturelle und sozialgeschichtliche Theoreme sind ihnen verdächtig, der stets anders gedachten, nach vergangenen Mechanismen funktionierenden Zeit übergestülpt.

Und schließlich liegt der Kontroverse auch die Anlehnung an differierende, lange vor der Kontroverse entwickelte Deutungstraditionen zugrunde. Während Mommsen sich der Faschismustheorie bedient, die den Nationalsozialismus als eine Spielart der europäischen Faschismen ansieht und ihn als ein gesellschaftliches, ökonomisches und systemgebundenes Durchgangsstadium versteht, erscheint Hildebrand die Totalitarismustheorie, die den Aufbau eines totalen gleichgeschalteten Staates als Ziel, nicht als historische Wirklichkeit, und zwar in großer Ähnlichkeit zur kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion als das Kennzeichen des Nationalsozialismus versteht, als die geeignetere Grundlage für das Verständnis auch des Diktators.

Vor diesem Hintergrund ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Streit um den starken und schwachen Diktator eine wirklich befriedigende Lösung finden kann. Er durchzieht vielmehr auch fast alle anderen Kontroversen um den NS-Staat und taucht in unterschiedlichen Gewändern immer wieder auf. Das wird ganz besonders in der folgenden Kontroverse um das bedrückendste Kapitel der NS-Geschichte, den Holocaust, deutlich.

Das Dritte Reich

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