Читать книгу Das Geheimnis der goldenen Brücke - Michael Kunz - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеDer Raum um ihn herum war sehr weich, eng und finster, aber auch angenehm warm gewesen. Er hatte seine Beine angewinkelt und sich nach vorne gebeugt, um den Raum besser auszunutzen. Dieser Raum war etwas ganz Besonderes. Manchmal begann dieser leicht zu vibrieren und erzeugte dabei eine schöne Melodie. Und es gab auch noch etwas anderes zu hören, aber für eine Melodie war dieser Nicht-Klang viel zu lebendig.
Er hatte festgestellt, dass meistens dann, wenn der Raum einen Nicht-Klang erzeugte, fernab von seinem Platz ein anderer Nicht-Klang entstand, aber bedeutend leiser und dumpfer. Manchmal war der Nicht-Klang lauter oder leiser, meistens war er schnell und bemerkenswert entschlossen. Dann wiederum war er bebend und impulsiv, und manchmal musste er lustig sein. Denn er brachte ihn zum Lachen. Aber warum, das wusste er nicht. Es war einfach so. Und in manchen Augenblicken war dieser Nicht-Klang zart, ruhig und sehr einschmeichelnd. Er spürte dann sehr deutlich, dass es wegen ihm so war, und um gewissermaßen zu antworten, drückte er vorsichtig mit den Füßen gegen die Wand des engen Raumes. Es war also ein Raum, der ihn immer ansprach: durch Melodien und Nicht-Klänge. Und wenn all das nicht stattfand, dann war zumindest das unermüdliche, gleichmäßige Klopfen zu hören, von welchem er spürte, dass es um ihn herum und zugleich in ihm war.
Plötzlich umschlang ihn der Raum wie eine Fessel. Das Klopfen wurde hektischer. Der Raum erhitzte sich, begann zu beben, weitete sich wieder, um sich dann gleich von neuem zusammenzuziehen. Die weiche Wand quetschte und drückte so stark an jedem einzelnen Glied, dass es ihm Schmerzen bereitete. Er wurde ruhelos, fühlte sich bedrängt. Er brauchte mehr Platz und drehte sich, damit sein Kopf nach unten kam. Er spürte, dass er sich trennen musste. Von diesem Ort, an dem er immer glücklich war.
Der Raum bebte auf und ab, wollte ihn zermürben, ihn, diesen Störenfried, loswerden. Sein Kopf wurde in einen engen Kanal gedrückt, dann unsanft von etwas Kaltem gepackt und durch den Kanal gezerrt. Es war grauenvoll, fühlte sich kalt, rau und grob an. Etwas wollte ihn um jeden Preis aus diesem Leben reißen. Er verstand nur nicht, warum. Was hatte er denn falsch gemacht? Mit ganzer Kraft versuchte er sich dagegen zu wehren, wollte sich festkrallen, strampelte mit den Beinen. Aber es war völlig zwecklos. Er fand einfach keinen Halt.
Wie ein übermächtiges Ungeheuer peitschte plötzlich ein unvorstellbar grelles Licht in sein Gesicht und durchbohrte seine Augen. Panische Angst überkam ihn. Er schrie, weinte, versuchte mit den Füßen, dieses Ungeheuer wegzustoßen, schaffte es aber nicht, war zu schwach und ein Gefangener an diesem Ort der Verdammnis. Es war kalt. Und laut. So viele Geräusche stürzten auf ihn ein, dass er tief in seinem Herzen beschloss, aus dieser verfluchten Welt, in welche er ohne Grund verbannt wurde, zu flüchten. Eines Tages wollte er auf jeden Fall wieder zurück in die Dunkelheit und Wärme. Das war sein erster Gedanke nach seiner Geburt!
*
ES hatte sich heimlich in einem Schatten der Menschen versteckt, die sich um das Baby gestellt hatten und beobachtet, wie das Kind sich quälte. „Gut so, mein Kind. Nur das Leid wird deine Sinne schärfen.“ ES trat aus dem Menschenschatten hervor, beugte sich mit seinen knochigen Fingern über das Baby und lachte heimtückisch, wie eine alte Hexe.
*
Ein wohltuender Schatten hatte sich endlich über ihn gebeugt, hatte das Ungeheuer besiegt und in die Unterwelt zurückgedrängt.
Als er endlich in zwei Armen liegend wieder zur Ruhe kam, vernahm er einen einschmeichelnden Nicht-Klang, der von einer wunderschönen Melodie begleitet wurde. Es kam ihm so vertraut vor, dass er sicher war, dieser Nicht-Klang war nur für ihn allein bestimmt.
Töricht Kind, wenn es nicht spürt,
dass ein liebend Herz es führt,
ganz zart sein Gemüt berührt,
wenn ein Traum sein Herz verführt.
Mutter wiegt beglückt ihr Kind,
und Tränen, die entsprungen sind,
reißt hinfort ein süßer Wind,
eilt zum Tränenmeer geschwind.
Er ahnte nichts von der großen weiten Welt. Von den vielen Gefahren, die auf ihn warteten. Und von den schönen Momenten, die er – wie es für Menschen üblich ist – nicht genießen würde, weil er mit den Gedanken immer über die Zukunft grübeln würde. Eine Zukunft, die er zwar eines Tages nicht mehr erleben würde, weil auch für ihn das Leben nicht endlos währte, aber welcher er dann zumindest im Geiste schon oft genug begegnet wäre.
Eines Tages würde er von der unersättlichen Gier der Menschen erfahren, besessen von dem Gedanken des Reichtums. Ja, er würde sich vielleicht auch von dieser Besessenheit beflügeln lassen, immer den Dingen nachzueifern, die er noch nicht besaß und vielleicht nie besitzen konnte. Wenn allerdings doch, so würde er spätestens in den letzten Stunden seines Lebens die Zeit bedauern, die er für den Erwerb dieser Dinge verschwendet hatte. Weil auch er diesen Besitz eines Tages auf der Erde zurücklassen musste.
Er würde aber auch Menschen begegnen, die von der Macht besessen waren und darum nichts unterließen, ihn zu erniedrigen. Sie würden ihn als einen einfältigen Dummschwätzer abstempeln, seine Ideen belächeln und ihn dafür verachten. Vielleicht würde er irgendwann diese wirren Dinge glauben, die sie ihm ständig einredeten und dann sein Glaube an sich selbst Stück für Stück zerbröckeln. Es könnte passieren, dass er eines Tages sogar dem Glauben nachhinge, Reife und Alter müsse man sich erst verdienen, so, wie man sich auch Gesundheit und Schönheit verdiene. Und somit wäre sein einziges Bestreben die Verwirklichung dieser Idealvorstellungen, die im Grunde nur vergiftetes Gerede war. Aber vielleicht ist es die Bestimmung des Menschen, dass er über jeden einzelnen Prüfstein des Lebens mühsam klettern muss. Wer weiß schon, ob es sich bei diesen Prüfsteinen nicht zuletzt um die Stufen einer Treppe handelt, an deren Ende der Mensch die Dinge von oben und damit auch von einer anderen, höheren Warte betrachten kann? Nun ja, bei rechtem Licht betrachtet kann man natürlich die Treppe auch abwärts gehen, aber das ist eines von den wenigen Dingen, die der Mensch selbst in der Hand hat.
*
„Wie geht es dir, Anna?“, flüsterte Erik seiner Frau zu, die sich, noch schweißgebadet von der Geburt, aufgesetzt hatte und ein Neugeborenes in den Armen hielt.
„Ich bin sehr glücklich. Ich glaube, unser Sohn ist es auch. Sieh nur, wie friedlich er schläft.“ Anna küsste ihr Baby auf die Stirn und flüsterte: „Ach, mein lieber Peter! Willkommen im Leben!“
*
Mit Argwohn hatte ES diesem Gespräch zugehört. „Das Glück macht euch nur blind für diese Welt!“, murmelte ES verdrießlich, wandte sich dann zu Erik, fuhr mit dem knochigen Zeigefinger über seine Wange, presste seinen Mund ganz eng an sein Ohr und flüsterte hinein: „Pass gut auf ihn auf!“, und deutete dabei mit dem knochigen Zeigefinger auf das Baby. ES sprach nur einmal eine Warnung aus.
*
„Ja!“, meinte Erik spontan, wohl aber eher zu sich selbst als zu Anna, hielt dann kurz inne als überlegte er, warum er das gerade sagte und fuhr schließlich unbeirrt fort: „Ob er wohl etwas träumt?“ Erik hatte die Frage zwar an Anna gerichtet, aber er beugte sich zu Peter hinunter, begutachtete wissenschaftlich sein Gesicht und machte dabei den Eindruck, als wollte er sich vergewissern, dass Peter auch wirklich schlief.
„Oh ja, ganz sicher! Und es ist bestimmt sein erster Traum.“
„Leider ein Traum, den er wieder vergessen wird“, seufzte Erik.
„Er wird auch diesen Tag vergessen“, empörte sich Anna über diese ausgesprochen nüchterne Feststellung.
„Mag er vergessen, was er will. Es wird nichts daran ändern, dass er heute seine Geburt erlebt hat und gerade seine erste Geschichte träumt“, erklärte Erik und hob dabei belehrend seinen Zeigefinger.
Anna blickte zu ihm hoch: „Du hast Recht, Erik. Es ändert sich nichts daran.“
„Aber eigentlich ist es auch nicht von Bedeutung.“ Während Erik diesen Satz aussprach, streichelte er Anna über das Haar um das Gesagte zu bekräftigen.
„Ja, von Bedeutung...“, wiederholte Anna leise, als wollte sie damit zum Ausdruck bringen, dass ihr das Wort „Bedeutung“ schon lange nicht mehr über die Lippen gekommen war und fuhr schließlich fort: „Anscheinend ist der Geburtstag aber wichtig genug, um ihn jedes Jahr zu feiern!“
„Ach Anna, für einen jungen Menschen ist freilich jeder Geburtstag ein tolles Erlebnis, aber ich bin mir sicher, mit den Jahren wird man im Grunde genommen nur noch an das Unaufhaltsame erinnert.“
Anna blickte gedankenverloren aus dem Fenster, legte ihre Stirn in Falten, hob die Augenbrauen etwas in die Höhe und lächelte leicht. Es war ungefähr ein Blick, den Menschen aufsetzen, wenn sie sich über die kurzsichtige Meinung eines anderen eigentlich nur noch belustigen können, aber bemüht sind, jegliche Spur von Belustigung und den Wunsch nach Erklärung der eigenen Sichtweise zu unterdrücken.
„Als ich noch klein war“, begann sie langsam zu sprechen, legte dann eine kurze Pause ein und vollendete ihren Satz schließlich: „wollte ich einmal von meiner Großmutter wissen, ob sie ein Geheimnis habe, von dem niemand etwas wüsste. Sie beugte sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr: ‚Es gibt ein Geheimnis, das wir alle teilen: das Geheimnis der goldenen Brücke.’ Ich musste ein ziemlich blödes Gesicht gemacht haben“, lachte Anna. „Jedenfalls sagte sie dann: ,Wenn wir auf die Welt gekommen sind und unseren ersten Traum haben, können wir sie sehen: die Brücke aus purem Gold. Aber niemand weiß, wohin sie führt. Das ist ihr Geheimnis.’“
„Unglaublich!“ Erik hatte diesem Wort einen besonders hämischen und tiefen Klang verliehen und klatschte dabei in seine Hände. „Und das hat dir deine Großmutter erzählt?“ Erik machte eine ungläubige, aber auch belustigte Mimik.
„Was soll das heißen? Glaubst du mir etwa nicht?“, entrüstete sich Anna mit gespielter Empörung und blickte wieder auf ihr Baby: „Nicht wahr Peter, Papa glaubt uns nicht.“
„Ich würde eher sagen, dass ich deiner Großmutter nicht glaube!“, entgegnete Erik und setzte sich zu Anna auf das Bett.
„Das ist doch nur Wortklauberei. Ich habe dich schon längst durchschaut, du Schuft! Willst dich bei uns beiden wieder einschmeicheln.“
„Ach, und wenn schon! Schau, Peter ist gar nicht mehr sauer auf mich“, triumphierte Erik und streichelte Peter vorsichtig über die Wange.
„Woher willst du das jetzt schon wieder wissen?“
„So lieb und friedlich wie er guckt, kann er gar nicht sauer sein. Also, nun ja, so friedlich siehst du jedenfalls nicht aus, wenn du sauer auf mich bist.“
„Wie bitte?“, entfuhr es Anna, die für einen Augenblick sprachlos war über eine derart uncharmante Äußerung. „Du ja nun auch nicht gerade, Erik!“
Erik zog seinen Fotoapparat heraus und fotografierte die beiden. Es war einer von diesen Dingern, aus denen die Bilder gleich ausgedruckt wurden. Der Auslöser klickte, der Apparat summte einen kurzen Augenblick, spuckte dann ein weißes, viereckiges Blatt aus und Erik zog es aus der Halterung heraus. Er wedelte das Blatt etwas in die eine Richtung, dann in die andere Richtung. Man gewann ein wenig den Eindruck als versuchte er zu verhindern, dass sich das Foto von selbst entzündet. Mit der Zeit deutete sich eine leichte Schraffierung an, die erst dunkler, dann von verschiedenen Farbtönen eingekreist wurde und schließlich ein blasses Farbfoto angefertigt hatte. Am Ende erkannte man Anna und Peter, eingekuschelt in weißen Bettlaken. Hinter ihnen bäumte sich eine weiße Wand auf, an der ein kleines Bild mit einem unbekannten Gesicht hing. Erik begutachtete das Foto wie einen Geldschein. Er ärgerte sich über den Schatten, den er an der Wand fotografiert hatte. Ein Schatten, der weder vor dem Auslöser noch danach an dieser Stelle zu finden war, was den einzigen Schluss zuließ, dass Erik wieder einmal einen Finger vor das Objektiv gehalten hatte. Trotzdem kam es ihm etwas merkwürdig vor.
„Du siehst richtig süß aus, wenn du dich ärgerst“, scherzte Erik, sah auf die Uhr und stand unvermittelt auf: „Ach du meine Güte, ich muss noch zu einem Kunden! Pass auf, Anna, ich muss jetzt los. Ich rufe dich von unterwegs aus an, versprochen.“ Dann gab er Anna einen Kuss, verabschiedete sich von beiden und verließ das Zimmer.
„Ach Peter“, seufzte Anna und liebkoste ihr Baby liebevoll, „wenn du nicht aufpasst, ergeht es dir eines Tages genauso und du hetzt von einem Termin zum nächsten. Lass dir Zeit mit dem Erwachsenwerden. Das Leben hat so viele Farben, aber mit den Jahren wird man blind. Du bist noch jung, du hast noch alle Zeit der Welt, die Farben zu bestaunen. Deine Urgroßmutter hat einmal gesagt: Manche Menschen haben am Tag der Geburt das Glück, alle Farben auf einmal zu sehen. Ich wüsste zu gern, ob du gerade von ihnen träumst, mein Schatz.“ Anna gab Peter einen sanften Kuss und schlief vor Erschöpfung ein.