Читать книгу Das Geheimnis der goldenen Brücke - Michael Kunz - Страница 8
Kapitel 2
ОглавлениеDie Jahre vergingen schnell und eigentlich war bis zu Peters sechstem Lebensjahr nichts Bemerkenswertes geschehen, was man nicht hätte auch bei jedem anderen Kind beobachten können: In diesen Jahren begreifen wir unsere Umwelt, nicht aber die Umwelt uns. Von den Eltern lernen wir das Sprechen, von den Freunden das Fluchen. Begeistert machen wir unsere ersten kleinen Schritte und zeigen Oma und Opa stolz unsere ersten Zähne, wenn sie uns besuchen. Wir sind leicht zornig, aber dafür schwer zu bändigen. Und nicht zuletzt nerven uns die Regeln, mit denen man uns bezwingt, denn schließlich haben wir schon unsere eigenen Regeln, die uns von den Zwängen lösen werden.
Das Schönste, was das Leben uns in dieser Zeit als Kind zu bieten hat, dürfte wohl die unbeschwerte Fröhlichkeit sein. Wir tollen, spielen, entdecken und lachen. Alles, was wir entdecken, genießt unsere grenzenlose Aufmerksamkeit und weckt in uns eine unbeschreibliche Freude und Neugier. Es ist eine Zeit, in der wir uns zwar bemühen, alles irgendwie einzuordnen, aber unser Einfallsreichtum macht aus jeder Ordnung wieder ein Durcheinander. Es gibt nichts auf der Welt, was nicht für neue Abenteuer zu gebrauchen wäre. Seien es die Spielzeugautos im Sandkasten, die sich ihren Weg durch den Wüstensand bahnen. Sei es das Dreirad, auf dem wir das Fahren lernen, damit wir Papa endlich morgens in die Arbeit folgen können. Sei es das Karussell auf dem Spielplatz, bei dem wir uns auf eine Rundbank setzen und uns so schnell drehen, dass wir wie ein Weltraumfahrer schwerelos im Kreis schweben, manchmal etwas benommen und von Übelkeit geplagt, wenn wir aus dem Karussell wieder aussteigen. Aber das ist eben etwas, das man in Kauf nehmen muss, wenn man Weltraumfahrer werden möchte.
Doch wir sind nicht unser ganzes Leben mutige Abenteurer, sondern beginnen eines Tages, uns den Fragen und Problemen des Lebens zu stellen. Fragen, die sich anfangs nur auf das magische Wort „Warum“ beschränken, aber mit den Jahren immer durchdachter gestellt werden und irgendwann so tiefsinnig sind, dass es keine erschöpfende Antwort mehr geben kann, wohl aber Vermutungen, die uns wieder zu neuen Fragen führen. Und was die Probleme anbelangt, so werden sie zunehmend schwieriger. Eines Tages haben wir eigentlich nur noch die Möglichkeit, ihnen auszuweichen, sie zu verharmlosen oder aber wir erklären es zu unserer Lebensaufgabe, sie zu lösen.
Dies alles nimmt seinen Anfang an unserem ersten Schultag. Mit Stolz tragen wir unsere bunte Schultüte, die nicht zufällig die Form eines kegelförmigen Filters besitzt. Es ist eine Mahnung an uns, das Leben in kleinen Schritten zu bewältigen. Schließlich schneiden wir einen Kuchen auch erst in Scheiben, bevor wir ihn verzehren. Aber eine Mahnung ersetzt natürlich nicht die Erfahrung und was kann wohl schmerzlicher sein, als festzustellen, dass das Leben eine einzige Verpflichtung ist?
Nun, ich will es euch gerne verraten: Es ist die Farbe der Hilflosigkeit.
*
Der Schulgong läutete zum Ende der letzten Stunde. Die Kinder standen auf, zeigten einander ein paar Bilder, steckten ihre Malstifte in ihre Federmäppchen, Stuhlbeine schleiften knarrend über den Fußboden, mit Klick! und Klack! schnalzten die Verschlüsse der Schulranzen zu, die Kinder verließen plappernd das Klassenzimmer, das aufgeregte Schnattern verstummte langsam und hinterließ schließlich eine leere Stille im Raum. Nun ja, nicht ganz. Leichtfüßig pendelte ein Malstift über einem Blatt Papier, über das Peter gebeugt war. Er war der Letzte.
„Du kannst es zu Hause fertig malen“, meinte die Lehrerin behutsam.
„Ich bin... schon fertig!“ Peter wühlte alle Gegenstände auf seinem Tisch zu einem Häufchen zusammen, schob sie wie Brotkrümel in seine Schultasche, die er mit einem Klack! zumachte, auf seinen Rücken schwang, um sich dann mit seinen dünnen Armen durch die Schlaufen zu wühlen. Etwas unbeholfen, wie die Lehrerin feststellte. Anschließend lief er hinaus, durch den Gang, die Treppe hinunter, riss die Eingangstür auf, als ob er um sein Leben rannte und eilte mit kindlichem Übermut auf Anna zu, die bereits auf ihn wartete, ihn nun erkannte, in die Hocke ging und die Arme weit ausbreitete, damit er nicht an ihr vorbei flog.
„Na, wie war dein erster Schultag?“, begrüßte sie ihn, aber Peter war völlig außer Atem und japste nur etwas wie: „Muss ich das schwere Ding jetzt jeden Tag tragen?“ Dabei deutete er mit einem Daumen auf den Schulranzen.
„Wenn du etwas lernen willst, dann ja. Was hast du denn da in der Hand?“ Anna streckte ihre beiden Hände aus und ergriff ein Blatt Papier, das Peter in der rechten Hand hielt.
„Das Bild haben wir heute gemalt. Wir sollten eine Geschichte mit Menschen malen, die wir lieb haben“, erklärte er schließlich, nachdem Anna das Bild einen Moment stillschweigend betrachtet hatte.
„Lass mich raten, das bin ich, stimmt’s?“, lachte sie plötzlich, es schien, als hätte sie sich erst jetzt auf dem Foto erkannt.
„Genau! Und das da ist Papa.“ Peter machte einen Fingerzeig auf eine rundliche Gestalt im Bild, an den Beinchen waren braune Stiefeletten, auf seinem Kopf ruhte sich ein Hut aus, der aber klein genug war, um ihn zweimal nebeneinander aufzusetzen.
„Der hat aber einen großen Kopf. Der ist ja größer als sein Bauch.“
„Das hat meine Lehrerin auch gesagt. Da hab’ ich gesagt: Ja, weil er sich gerade ärgert.“
„Jetzt verstehe ich auch, warum sein Kopf so rot ist“, schmunzelte Anna und strich Peter liebevoll durch das Haar.
„Nein, das ist sein Sonnenbrand, den er doch letzten Sonntag bekommen hat. Deswegen ärgert er sich ja auch so, weil du ihm zu wenig Sonnencreme ins Gesicht geschmiert hast.“
„Soso, das hast du dir also gleich zum Thema deines kleinen Kunstwerkes gemacht!“
Anna war eine bildhübsche Frau. Ihr brünettes, gepflegtes Haar war glatt gekämmt und bedeckte Nacken und Rücken bis auf die Höhe der Schultergürtel. Mag sein, dass ihre Bewegungen etwas kantig wirkten, weil ihr der Beruf als Physikerin eine ausgeprägte Entschlossenheit und Zielstrebigkeit abverlangte. Mag auch sein, dass ihre Stimme aus genau diesem Grund sehr verbindlich klang. Und es mag vielleicht sogar sein, dass ihr die humorvolle und völlig unkomplizierte Art eine sehr lebenslustige Ausstrahlung verlieh. Aber eines war ganz gewiss: Ihr Lachen bezauberte ausnahmslos jeden Menschen durch seine Heiterkeit. Es wirkte derart anschmiegsam und herzlich, dass manch einer nicht einzuordnen vermochte, ob er nun mehr ihre dunklen Augen unter ihren elegant geschwungenen Augenbrauen oder eher ihren schmalen und mit Sicherheit auch sehr verführerischen Mund bewundern sollte. Deswegen ergab es sich, dass ihre schlanke und sehr sportliche Figur häufig erst auf den zweiten Blick auffiel. Aber trotzdem ließ ihr Auftreten in keinem Augenblick vermuten, dass sie sich bereits seit einigen Jahren in Karate übte, eine Kampfkunst, die ihre Denkweise sehr stark geprägt hatte.
„Wo hast du denn diese Schramme her?“ Anna begutachtete die roten Kratzer auf seiner Stirn. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass er diese Verletzung heute Morgen schon hatte.
„Auf dem Pausenhof haben sie mich geschubst, von hinten, weißt du? Da bin ich gestolpert und auf das Pflaster gestürzt. Dann haben sie gelacht, ganz doofe Jungs waren das. Der Lehrer ist dazwischen gegangen und hat ihnen gesagt, dass sie was erleben können.“
„Meine Güte! Sag mir, wer das war! Die werden morgen ihr blaues Wunder erleben!“
„Ich kenne diese Schüler nicht, sie sind älter als ich. Ich weiß nur, dass es drei Jungs waren. Einen nannten sie Mirko.“
„Schon eigenartig, dass sie gleich zu dritt sein mussten, um es mit dir aufzunehmen. Morgen zeigst du sie mir in der Pause. Ich komme vorbei.“
„Und was, wenn sie dann übermorgen in der Pause...?“
Peter ließ den Satz ins Leere laufen, denn er hatte Angst, seinen Gedanken auszusprechen.
„Dann wird es für diese drei Typen auf diesem Pausenhof keinen Tag nach Übermorgen geben, das verspreche ich dir!“
„Mama, ich wünschte ich wäre groß und erwachsen. Dann könnte ich mich besser wehren gegen diesen Mirko und die anderen.“ Seine Augen wurden feucht und rot. Peter erlöste sich von der Träne mit einem Lidschlag und dann ergoss sich eine kristallene Perle auf seiner Wange und verlor erst ihren Halt, als sie das Kinn erreicht hatte.
Anna fasste Peters Kopf mit der freien Hand und drückte ihn tröstend an ihren Bauch: „Es bringt gar nichts, sich zu wünschen, älter zu sein. Wenn du nämlich groß bist, dann ist Mirko auch groß. Glaube mir, auf dieser Welt gibt es viele Mirkos, dein ganzes Leben lang werden sie dir über den Weg laufen.“
„Kennst du auch einen Mirko?“, wollte Peter wissen, aber es war eher die kindliche Neugier, die ihn zu dieser Frage trieb, als eine Schlussfolgerung aus dem Gesagten, das sich eigentlich mehr wie eine Anspielung als ein Ratschlag anhörte. Deswegen darf es nicht verwundern, dass ihre Antwort wie selbstverständlich klang: „Und ob!“ Sie betonte diesen Ausruf mit einer unerschütterlichen Gewissheit und wiederholte ihn noch einmal, diesmal aber etwas langsamer und ernster. „Ich kenne sogar viele Mirkos.“
Es folgte Schweigen. Kein betretenes, wie man es zum Beispiel erdulden muss, wenn man nach einer Begrüßung und einem Wortwechsel über das Wetter nur noch Leere und Verlegenheit verspürt. Nein, dieses Schweigen war mehr ein zeitgebendes, um das Gesagte wie eine Medizin im Körper ausströmen zu lassen.
In ihren Erinnerungen versunken, fühlte sich Anna plötzlich in ihre eigene Vergangenheit zurückversetzt. Sie hatte damals nicht gekämpft und war stattdessen ihrem Wunschdenken nachgehangen, dass sie sich, einmal älter geworden, gegen jeden Widersacher zur Wehr setzen würde. Eben aber erst in einer späteren Zukunft, die sie sich in ihrer Vorstellung oft und gerne ausmalte. Bis sich ihre Träume von einer furchtlosen Kämpferin jedoch zur Wirklichkeit verfestigten, richtete sie sich ihr Luftschloss kuschelig ein. Wenn sie sich schon in eine Ecke zurückzog, dachte sie, sollte dieser Platz wenigstens etwas Gemütliches und Beruhigendes haben.
Älter werden als Lösung des Problems? Diesem Irrglauben hing sie zwar schon lange nicht mehr nach, aber es wäre besser gewesen, sie hätte ihm überhaupt nicht nachgehangen. Und weil sie ahnte, dass Peter allmählich begann, den gleichen Fehler zu begehen wie sie in ihrer Kindheit, beschloss sie, ihm auf dem Heimweg die Geschichte von der Mühle des Alters zu erzählen:
„Es war einmal ein junger Knabe, der ging eines Tages zur Mühle des Alters und drehte an ihr im Uhrzeigersinn, damit sie sich schneller bewegte. Dabei sprach er voller Freude: ‚Ihr Menschen, seht, ich bin schon sieben Jahre! Bald werde ich acht Jahre! Bin ich nicht schon ein großer Junge?’ Die Menschen gingen an ihm vorbei und antworteten ihm: ‚Sieben Jahre? Meine Güte, bist du schon ein großer Junge geworden!’ Diese Worte machten den Knaben sehr stolz. So vergingen die Jahre, bis aus dem Knaben ein stattlicher Mann im Alter von 30 Jahren wurde. Abermals besuchte er die Mühle des Alters, betrachtete sie argwöhnisch und mit prüfendem Blick, setzte sich nieder und sah wortlos zu, während die Mühle sich drehte und drehte. Aber es kam schließlich der Tag, an dem er das fünfzigste Lebensjahr erreicht hatte und wieder suchte er die Mühle des Alters auf. Noch einmal wollte er sich nicht niedersetzen und wortlos zusehen, sodass er kurzerhand an der Mühle zu drehen begann, und zwar entgegen dem Uhrzeigersinn. Er hatte sich überlegt, dass es so möglich sein müsse, das Altern zu bremsen. Dabei dachte er sich: ‚Nun bin ich schon 50 Jahre gealtert und vermutlich habe ich die längste Zeit meines Lebens bereits verlebt. Wie gern wäre ich noch einmal sieben Jahre und wüsste das, was ich heute weiß.’ Und ehe er seinen Gedanken zu Ende geführt hatte, kam ein kleiner Junge zu ihm und bat, an der Mühle des Alters drehen zu dürfen. Der Mann ließ ab und als der Junge es erkannte, sprach er: ‚Aber mein Herr, ihr habt ja in die falsche Richtung gedreht!’“
„Was ist aus dem alten Mann geworden?“
„Nun, er ist eines Tages an seinem hohen Alter gestorben.“
„Das macht mich traurig, Mama.“
„Und mich macht traurig, dass du heute Probleme mit anderen Kindern hattest. Aber sei tapfer, du brauchst nämlich keine Angst vor anderen Kindern haben. Sie haben vielleicht zu Hause keine lieben Eltern.“
Peter richtete seine großen, goldbraunen Augen auf Anna: „Werden diese Kinder mal anders sein?“
„Das ist schwer zu sagen... Ja, vielleicht! Aber wenn nicht, werden sie ihren Kindern weitergeben, dass Streit die Probleme lösen kann.“ Anna blieb stehen, stellte den Ranzen ab, kniete sich zu Peter hinunter und packte ihn mit beiden Händen an seinen Schultern. Mütter machen das gerne, um eindringlich auf ihr Kind einzuwirken, meistens mit Vorwürfen wie: Was hast du dir dabei gedacht? Sie blickte ihm tief in die Augen und betonte mit ernstem Gesichtsausdruck: „Das tut es aber nicht!“
„Mama, ich wünschte, ich wäre ein Vogel. Frei wie ein Vogel! Dann würde ich hoch in die Lüfte schweben und die Welt von oben beobachten. Ich würde das Apfelbäumchen in unserem Garten sehen, hinunter segeln und einen Apfel abzupfen. Ja, und ich würde mich wieder vom Wind nach oben treiben lassen, den Apfelstiel im Schnabel. Und irgendwann würde ich einen bösen Menschen finden, tief unten in den Städten. Dann würde ich runter fliegen, aber nicht zu tief, damit mich niemand sieht und dann würde ich den Apfel fallen lassen, dass er genau auf diesen bösen Menschen trifft.“
Mit breit ausgestreckten Armen ahmte Peter einen Vogel nach und lief dabei, mit seinem Schatten spielend, in Schlangenlinien um Anna herum. Schließlich blieb er vor ihr stehen, verschränkte seine Arme hinter dem Rücken wie ein Häftling, blickte zu ihr hoch und fuhr fort: „Weißt du, was ich dann machen würde? Lachen! Ganz laut lachen!“
„Ach, wenn du ein Vogel wärst, würdest du dich nicht freuen. Keinen Augenblick wärst du glücklich darüber. Du würdest alles sehen, was die Menschen tun. Gutes und Schlechtes. Und du würdest alles hören, auch das Boshafte, was in den engen Gassen getuschelt wird. Du würdest dir dann wünschen, ein Maulwurf zu sein. Der sieht nichts. Der hört nichts. Der lebt in einer anderen Welt, tief unter der Erde. Und vielleicht ist es sogar eine glücklichere Welt.“
„Ich wünschte, du wärst ein Zauberer und könntest diese Welt in ein Paradies verzaubern.“
„Aber mein Kind, die Welt muss man gar nicht verzaubern. Man muss nur die Leute verzaubern, die darauf leben. Man muss sie in Menschen verzaubern.“
„Wer kann so etwas machen?“
„Jeder. Jeder Mensch kann in seinen Träumen zaubern wie eine Fee. Und wühlen wie ein Maulwurf. Und auch schweben wie ein Vogel.“ Bei dem letzten Satz lachte sie, denn die Fantasie ihres kleinen Jungen beeindruckte sie.
„Wenn ich groß bin, zeigst du mir dann das mit dem Träumen?“
„Auf jeden Fall, mein Schatz!“
„Und solange ich das noch nicht kann, Mama, träumst du mir die Welt schön, versprochen?“
„Großes Mama-Ehrenwort!“
„Du, Mama.“
„Hhm?“
„Das Leben ist so...“ Peter brach den Satz ab. Ihm fiel nicht das richtige Wort ein, deswegen bot ihm Anna eines an. Eines, das zumindest für einen Erwachsenen ganz treffend gepasst hätte.
„Schwierig?“
„Doof! Das Leben ist doof!“ Bei diesen Worten lief eine Träne über die weichen Konturen seines Gesichtes.
„Ach, mein Kind, sag doch nicht so etwas! Du bist erst sechs Jahre alt! Das Leben kann sehr schön sein. Aber das ist es nur, wenn du auf Entdeckungsreise gehst. Und dazu musst du dein Herz öffnen und bereit sein, das Leben so anzunehmen, wie es ist. Du wirst viele Farben aufspüren, die du vorher noch nie bemerkt hast. Deine Urgroßmutter hat immer gesagt: Nur wer die Farben des Lebens kennt, kann das Geheimnis der goldenen Brücke lüften.“
*
„Folge meinem Schatten!“, stöhnte ES. „Ich werde dir den Weg zur goldenen Brücke schon zeigen. Das Leid wird deine Sinne schärfen.“ Dann lachte ES Furcht erregend.
*
„Wo ist die goldene Brücke?“
„Ich weiß es nicht. Aber dein Herz kann es dir sagen. Denn es begleitet dich überall hin. Auch in die Träume.“
Wäre Peter dreißig Jahre älter, würde er vermutlich gegenhalten, dass man manche Farben lieber nicht aufspüren sollte. Vermutlich würde er dann das Gespräch mit einem Satz beenden wie: „Wenn ich alle düsteren Tage zusammen nähme und würde um diese Zeit später auf die Welt kommen, wäre ich wohl erst sechs Jahre.“
Wie gut, dass Peter tatsächlich erst sechs Jahre alt war.
*
Am nächsten Tag, als die Schule nach dem Pausengong ihre Schüler wie zähflüssigen Haferbrei ausspuckte, war Peter zwar nicht gleich der Erste, der den Pausenhof betrat. Gut, es rollte dann noch eine ganze Lawine von Kindern auf den Hof, aber schließlich sah man auch Peter in der Menge.
Er war der Letzte.
Eine schmächtige Gestalt, schwarze, gelockte Haare im Kurzhaarschnitt. Er trug eine blaue Jeans und einen schwarzen Pullover mit einer Mickey Mouse auf der Bauchseite.
„Hallo Mickey Mouse!“, rollte ein abschätziges Gelächter zu ihm. Panik! Angst! Diese Stimme kannte er! Er musste weglaufen. Irgendwohin. Aber wohin? Er drehte sich nach rechts. Nach links. Genau: ins Gebäude. Ins Lehrerzimmer! Er rannte los. Er wollte jedenfalls losrennen. In der rechten Hand ein belegtes Brot. In der linken Hand eine Milchschokolade. Im Tetra-Pack. Mit Strohhalm. Plötzlich ergriff eine Hand seinen Pullover. So grob wie der Arm eines Krans. Sie ballte sich zur Faust. Wie sehr wünschte er sich, dass sein Pulli zerriss. Er, dann von der Faust befreit, losrennen und im Lehrerzimmer Schutz suchen konnte. Doch nichts dergleichen geschah. Die drei Gestalten stellten sich vor Peter, um ihm den Weg zu versperren. Einer von ihnen ergriff die Milchschokolade, der andere das Pausenbrot. „Danke für die Milch, Mickey Mouse“, spottete Mirko. „Ist da noch was drin für mich?“ Schmieriges Grinsen. Zum Teufel mit diesem Mistkerl! Der Mistkerl drückte den Trinkbehälter zusammen, die Milch schoss wie eine Fontaine aus dem Strohhalm heraus und direkt auf Peters Gesicht und Pullover. „Das tut mir aber außerordentlich leid, Mickey Mouse.“ Es klang alles andere als bedauernd.
Peter schwitzte, seine Hände waren feucht, sein Herz raste und die Füße waren kalt. Typische Anzeichen von Angst. „Schon in Ordnung.“ Verängstigt und leise stolperten Peter diese Worte heraus. Als er ansetzte um zu sagen: „Ihr könnt die Milch behalten“, krallte sich plötzlich von hinten eine Hand in Mirkos rechte Schulter. Peter konnte nicht sehen, wem sie gehörte, die Milch klebte auch an seinen Augen und überzog sein Blickfeld mit einem weißen Schleier. Eine ruhige, aber ernste Stimme sagte: „Möchtest du denn dem Jungen seine Milch nicht zurückgeben?“ Vom ersten bis zum letzten Wort zwängten sich die Finger wie eine Zange immer fester in Mirkos Schulter, es wurde so schmerzhaft, dass es sich anfühlte, als würden jeden Moment die Knochen brechen. Die anderen beiden hatten die Person mittlerweile bemerkt und blieben regungslos stehen.
„Ja, klar. Hier, bitte“, stotterte Mirko leise, bemüht, jetzt bloß keinen Schmerzensschrei von sich zu geben und übergab mit zittriger Hand die Milchschokolade. Peter hatte sich inzwischen die Milch aus den Augenwimpern gewischt und begann nun auch, die Lage zu begreifen. Nun lächelte er einem ihm sehr vertrauten Gesicht zu. Es war seine Mutter. „Es gibt Menschen im Leben“, fuhr sie in ruhigem Tenor fort, „denen sollte man keine Probleme machen. Sonst kann es passieren, dass man selbst Probleme bekommt. Verstehst du das?“ „Ja. Klar. Keine Probleme machen“, wiederholte Mirko mechanisch, zwischen jedem Satz eine kurze Pause, vielleicht, um den Schmerz in der Schulter besser zu verkraften. „Gut“, schloss Anna, „dann wird dieser Junge ab sofort in Ruhe gelassen.“ Und erst, als Mirko mit „Jawohl“ ihrer Aufforderung nachkam, ließ der Griff nach und hinterließ einen beißend stechenden Schmerz. „Wer sind Sie?“, wollte ein anderer Junge wissen und Anna warf ihm einen drohenden Blick zu: „Euer schlimmster Albtraum, wenn ihr euer Versprechen brecht.“ Dann drehte sie sich von ihnen ab und verließ den Schulhof. Sie hatte Peter kurz zugelächelt, aber sie hielt es für klüger, mit ihm zu Hause zu sprechen.
Es ist eben gut, einen Freund zu haben. Aber es ist besser, einen Freund zu haben, der für uns da ist, wenn wir ihn brauchen. Am besten ist es aber, einen Freund zu haben, der für uns auch da ist, wenn wir ihn nicht brauchen. Vielleicht wird er uns daran erinnern, dass wir ihn gerade in diesen Momenten am meisten brauchen, wo wir es am wenigsten ahnen.