Читать книгу Das Geheimnis der goldenen Brücke - Michael Kunz - Страница 9
Kapitel 3
ОглавлениеPeter war mittlerweile in der zweiten Klasse und weder Mirko noch seine Freunde hatten ihre Abmachung vergessen. Sie machten einen großen Bogen um ihn. Einmal hatte Mirko ihn sogar gefragt, ob er nicht Lust hätte, sich seiner Clique anzuschließen. „Ich brauche euch nicht“, hatte Peter ihm matt entgegnet und dabei mit den Achseln gezuckt. Mirko nickte einsichtig und entschied, das Kräftemessen mit Peter als unentschieden zu bewerten und jemand anderes als Opfer auszuwählen. Jemand, der schwach genug für ihn war, um sich weiterhin als Anführer einer Gruppe behaupten zu können. Es war das Einzige, was ihm Kraft gab. Zu Hause jedenfalls fand er diese Kraft nicht. Sein Vater saß den ganzen Tag vor dem Fernseher, nachmittags ging er dann aus dem Haus und wenn er abends heimkam, schrie er seine Mutter an, die daraufhin weinte. Manchmal schienen auch Gegenstände umzufallen, vielleicht wurden sie auch geworfen. Das alles konnte Mirko von seinem Bett aus hören. Jeden Abend dasselbe. Er hasste seinen Vater dafür. Und er hasste Peter. Wenn sein Vater abends herumbrüllte und er deswegen nicht einschlafen konnte, stellte er sich vor, wie Peter von seiner Mutter bei der Schule abgeholt wurde, wie er ihr auf dem Heimweg von seinen Erlebnissen berichtete, wie sie dann gemeinsam lachten und dann, zu Hause eingetroffen, zusammen Mittag aßen. Er stellte sich vor, wie Peter mit seinen Eltern am Wochenende auf den Rummelplatz ging, Popcorn aß, Achterbahn fuhr, durch die Geisterbahn rollte und sich dabei alle ängstlich einander die Hand hielten.
Wenn Mirko mit seinen Eltern wirklich einmal unterwegs war, dann meistens nur deswegen, weil sie zum Amt mussten und Mirko nicht alleine zu Hause bleiben sollte. Oder vielleicht wäre ihnen das sogar egal gewesen und sie nahmen ihn nur mit, weil das Amt sie dazu aufgefordert hatte. Es war immer dasselbe Amt und auf dem Weg dorthin stand im Sommer der Wagen eines Eisverkäufers. Die ersten Male hatte er seine Mutter gefragt, ob er ein Eis haben könne. „Ein anderes Mal vielleicht“, hatte sie ihm leise ins Ohr geflüstert und dann ängstlich zu seinem Vater geblickt. Einmal hatte der Vater es mitbekommen und er sah ihr verhasst in die Augen: „Du hast wohl ein Rad ab? Wir haben kein Geld für Eis! Ich will nichts mehr davon hören!“ Seitdem schwieg Mirko, wenn sie an dem Eisverkäufer vorbeikamen. Einmal beugte sich der Eisverkäufer aus dem Wagen: „Komm her, du bekommst ein Eis von mir“, denn die Sonne schien an diesem Tag gnadenlos und die sengende Hitze erstickte jeden Anflug von Arbeitslust. Der Eisverkäufer tupfte sich mit einem Taschentuch die schweißbenetzte Stirn, während er Mirko an ihm vorbeilaufen sah, als hätte dieser ihn gar nicht gehört. Er sah dem Kind hinterher, das sich schließlich umdrehte und verweint mit dem Kopf schüttelte. „Ich verstehe“, murmelte der Eisverkäufer. „Armes Kind!“
*
In all den Jahren hatte der Eisverkäufer schon in tausende Gesichter gesehen. Fröhliche, neugierige, in sich versunkene Blicke hatte er beobachtet. ‚Aber dieses Kind...’, überlegte er kopfschüttelnd und meinte damit Mirko, der mit seiner Mutter immer mindestens zehn Schritte hinter seinem Vater herging. ‚Wahrscheinlich schämt sich dieser Mann für seine Familie’, überlegte er. Mirko war das einzige Kind, das nie ein Eis bekam. Er hätte es ihm sogar geschenkt.
Der Eisverkäufer hatte viel Zeit zum Nachdenken, denn die Kunden kamen meist unregelmäßig. Er dachte oft über das Leben nach, überlegte, ob es vielleicht das Los seines alternden Geistes sei, dass er sein Leben mit 60 Jahren nicht mehr so unbeschwert wahrnahm, wie er es als Kind tat. Je älter er wurde, desto mehr Angehörige und Freunde hatte er zu Grabe getragen, stets in dem Bewusstsein, dass ihn dieses Schicksal auch eines Tages ereilen würde. Durch seine Augen nahm er sein Leben eigentlich wie einen Film wahr und, freilich, solange er ihn ansah, blieb er spannend, dramatisch oder romantisch. Einmal würde dieser Film jedoch zu Ende sein und das war eine Gewissheit, die ihn mit den Jahren immer stärker bedrängte und ihn gegenüber seinem Leben demütig werden ließ. Und immer, wenn er Mirkos Vater vorbeistolzieren sah, sagte er sich: „Demut ist die Kraft, sich verneigen zu können. Aber dieser Bastard kennt keine Demut!“ Eigentlich hätten Kinder auch diese Kraft in sich, überlegte er dann, sie drücke sich eben nur anders aus. Und er kam zu dem Entschluss, dass jeder Mensch diese Kraft anders empfände und würde man ihn persönlich einmal fragen, wie er diese Empfindung beschriebe, gäbe er zur Antwort: „Sie ist schillernd und makellos. Genau wie die Farbe der Demut.“
*
Das, was sich langsam aber zielstrebig auf der braunen Erde fortbewegte, war der treue Schatten einer Ameise. Es ist schwierig, mit Bestimmtheit zu sagen, ob auch Ameisen wie wir Menschen einen Namen haben, aber wenn, dann wäre ihr Name vermutlich Lilli gewesen. Das hätte zu dieser kleinen Ameise sehr gut gepasst. Vielleicht, weil sie so athletisch und unbezwingbar wirkte. Vielleicht, weil sie so unermüdlich und fleißig ihre Arbeit verrichtete. Vielleicht, weil sie irgendwie auch neugierige Augen hatte, immer auf der Suche nach Nahrung und Gefahren. Obgleich sie sehr taff war – ganz bestimmt war sie ebenso tapsig. Ameisen sind einfach tapsig! Weil sie so kleine Beinchen haben. Deswegen sind sie tapsig.
Lilli hatte zittrige Beinchen, das lag an der Last, die sie auf dem Rücken trug. Es musste wohl das Vier- oder Fünffache von dem sein, was Lilli selbst wog. Aber ihr bemerkenswerter Wille war ungebrochen und unerbittlich, beinahe willenlos folgte sie der Pheromonspur, jene, welche sie wissen ließ, dass sie nicht vom Weg abgekommen war. Man muss wissen, dass Ameisen diesen Duftstoff versprühen, um ihren Weg zu markieren. Dadurch finden sie wieder zurück, aber auch andere Ameisen zu ihnen hin. Doch für den Fall, dass ein Regenguss die Duftstoffe wegspült, behelfen sie sich auch mit ihrem guten Gedächtnis – Ameisen erinnern sich an ihre Umgebung.
Ihre kleinen Äuglein hatten etwas Magisches, Liebevolles und sie strahlten auch eine unbeschreibliche Selbstaufgabe aus, sodass man fast meinen konnte, ihr einziger Gedanke, der in ihr lebte, war: ‚Ich muss helfen! Gleich habe ich es geschafft!’ Manchmal hielt Lilli inne und streifte ihre kleinen Fühlerchen an ihren zittrigen Vorderbeinchen ab, um sie zu putzen. Um dann wieder, ganz behutsam und vorsichtig, nach dem Geruch des Pheromons zu suchen.
In diesem Moment aber spürte sie noch etwas anderes: Die Luft um sie herum begann zu zirkulieren, die Temperatur schwankte plötzlich ungewöhnlich stark. Lilli bekam Angst. Besorgt beschleunigte sie ihre Schritte, dann änderte sie die Laufrichtung, mehrmals und irgendwie gegensätzlich. Aber das war ihre Ungewissheit, denn die Erschütterungen auf dem Erdboden wurden immer stärker und schienen von allen Richtungen ausgelöst zu werden.
Hastig suchte Lilli nach der Duftspur, ihre Beinchen irrten von einer Stelle zur nächsten. Plötzlich verfinsterte sich der Himmel, ein riesiger Felsbrocken stürzte auf sie herab, die Erde begann zu beben, Druck baute sich in der Luft auf, die dann zornig dem unbeirrt fallenden Monster auswich. Lilli kam ins Wanken, ihre Beine zitterten, dann lief sie hastig davon, sie musste ihr Leben retten, rannte und rannte, panische Angst trieb sie weiter voran, hin und her hetzte sie, völlig verwirrt und verzweifelt, von der Duftspur abgekommen, und dann klappten ihre Beine plötzlich unter einer unerträglichen Last zusammen. Sie sank zu Boden, etwas presste sie noch tiefer, erdrückend, erstickend, und dann bekam sie keine Luft mehr, der letzte Atemzug wurde durch den unermesslichen Druck ausgepresst, aber ehe sie sich dessen bewusst war, wurde sie zerstampft!
Ihre Beinchen zuckten, so, als ob sie noch sagen wollten: ‚Aber wir müssen doch noch weiter gehen und helfen. Gleich haben wir es geschafft!’ Und dann wurde es finster um ihre Augen und Lilli spürte so viel Erleichterung, so viel Wärme, dass sie all ihre Hast vergaß und friedlich starb.
*
Neugierig hob Peter seinen Fuß an und prüfte, ob er die Ameise erwischt hatte. „Eine Ameise mit einem Stückchen Blatt“, überlegte er halblaut, grinste zufrieden und hielt schließlich Ausschau nach anderen Krabbeltieren. Am liebsten waren ihm große Käfer, sie knackten wie Nüsse unter seinen Schuhen. Die Schnecken allerdings ließ er in Ruhe, sie waren ihm zu schleimig und klebrig und nur schwer von den Schuhsohlen abzubekommen. „Ah, hier ist noch eine Ameise“, freute er sich wieder. Und patsch!
„Peter! Verdammt!“, ärgerte sich Erik, der erst jetzt begriff, warum Peter so seltsam hin und her hüpfte. „Warum trittst du denn auf die Ameisen?“
„Die müssen doch sowieso sterben.“
„Und deswegen tötest du sie, weil sie sowieso sterben müssen?“
„Es sind doch nur zwei winzige Ameisen.“ Peter hob die rechte Hand nach oben und bildete mit Zeige- und Mittelfinger ein V, während er dabei hüpfte und überschwänglich grinste, vielleicht, um das Gesagte zu untermalen, vielleicht, um dem Vater auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten, vielleicht auch nur, um seine Unsicherheit herunterzuspielen.
„Was ist bloß los mit dir?“, protestierte Erik.
„Was soll los sein?“
„Du kannst doch nicht einfach anderen Lebewesen Leid zufügen und dann noch Spaß daran haben!“
*
„Füge anderen kein Leid zu“, zischte ES, „nur dein eigenes Leid schärft deine Ohren für meine Stimme! Wenn du meine Stimme nicht hörst, meinen Schatten nicht siehst, wirst du den Weg nicht finden. Den Weg zur goldenen Brücke.“
*
„Na gut, Paps“, stöhnte Peter, aber seine Augen wirkten fröhlich. Er henkelte sich bei Erik ein, um zu verdeutlichen, dass er ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkte, während sie weiterliefen.
„Weißt du, warum die Ameisen kleine Blattstückchen tragen?“
„Na, warum wohl, Paps! Sie verstecken sich.“
„Ganz sicher nicht.“
„Dann fressen sie also die Blätter?“
„Sie fressen auch nicht die Blätter.“
„Dann bauen sie irgendwas daraus, oder?“
„Nein, tun sie auch nicht.“
„Ein Wettkampf also: Wer schafft die schwersten...“
„Peter, das ist auch nicht richtig! Sie züchten einen Pilz auf diesen Blättern, von dem ernähren sie sich.“
„Mensch, das wollte ich jetzt als nächstes sagen!“, schimpfte Peter empört, aber es war nur gespielte Empörung. Und gesagt hätte er es auch nicht.
„Wir sind jetzt ungefähr einen Kilometer gegangen. Und jetzt schau dir den Laubbaum dort drüben an. Würdest du all seine Blätter abzupfen, sie auf deine Reise mitnehmen und nach jedem Kilometer ein Blatt hinlegen, könntest du unserer Erde eine wunderschöne Kette basteln.“
„So viele Blätter hat dieser Baum?“
„Vielleicht sogar noch mehr, aber das wissen nur sehr wenige.“
„Und wer?“
„Der Wind zum Beispiel. Er weiß alles. Jeden Tag fährt er wie ein Kamm durch das Laub und zählt die Blätter. Und die Wolken wissen es auch. Sie lassen ihre Tropfen herunterfallen und wenn schließlich jeder Tropfen auf einem Blatt sitzt, wissen sie genau, wie viele Blätter der Baum hat.“
„Ich kann aber weder den Wind noch die Wolken fragen.“
„Aber du kannst ihnen zusehen und zuhören. Hast du das schon einmal gemacht?“
„Nein, das finde ich doof.“
„Weil du sie nicht verstehst, stimmt’s?“, meinte Erik verständnisvoll, machte dann plötzlich einen erschreckten Gesichtsausdruck und flüsterte: „Hörst du das auch?“
„Was meinst du? Papa, du machst mir Angst!“
„Der Baum raschelt mit seinen Blättern. Er flüstert dir etwas ins Ohr, hör’ mal genau hin!“
„Es hört sich lustig an, richtig fröhlich“, freute sich Peter und legte dabei seine offenen Handflächen hinter den Ohren an, als sei er schwerhörig und beide Hörgeräte zu Hause.
„Das wollte der Baum dir auch sagen: Ich bin froh, dass du die Dinge so gut verstehst, wenn du ihnen deine Aufmerksamkeit schenkst.“
Erik ging auf den Baum zu, breitete seine Arme aus und umarmte ihn so liebevoll, als hätte ihn der Baum soeben zum glücklichsten Menschen dieser Welt gemacht.
„Warum machst du das, Papa?“
„Ich verabschiede mich von diesem Baum.“
„Aber der Baum versteht dich doch gar nicht.“
„Bist du dir ganz sicher? Möchtest du spüren, wie sein Herz klopft? Dann komm und umarme ihn auch.“
Peter ging daraufhin auf den Baum zu, legte seine beiden Arme großzügig um ihn und spürte mit jedem weiteren Augenblick, wie gut dem Baum diese Umarmung tat. Je länger er ihn umarmte, desto stärker spürte er, wie gern der Baum sein Freund wäre. „Ich hab’ dich lieb, Baum. Ich verspreche dir, ich komme auch bald wieder.“ Etwas Trauriges lag in diesen Worten, die Peter aus sehr tiefer Zuneigung gesprochen hatte.
Nun bückte sich Erik, schaufelte in seine beiden Hände Erde und formte sie zu einem Kelch. „Hast du gewusst, dass sich in meinen Händen etwa eine Milliarde Lebewesen befinden?“
„Ist eine Milliarde viel?“
Mama kauft doch immer die kleinen Dosen mit Erbsen, wo du uns doch mal gefragt hast, was 400 ml bedeutet.“
„Ich weiß, welche du meinst! Hab’ aber vergessen, was ihr damals gesagt hattet. Ich weiß nur noch, dass du die Erbsen dann gezählt hast“, lachte Peter, er fand es nämlich schon damals wahnsinnig amüsant.
„Da siehst du es: Andere Papis genießen am Wochenende die Sonne im Schaukelstuhl oder basteln an ihrem Motorrad oder treffen sich mit Kumpels zum Kegeln, während dein Papa zu Hause sitzt und brav die Erbsen für seinen Sohnemann zählt. Es waren immerhin über tausend Erbsen in der Dose. Wenn ich jetzt jeden Tag tausend Dosen zählen würde, dann würde ich tausend Tage benötigen. Da hättest du inzwischen dreimal Geburtstag gehabt.“
„Und dann?“
„Dann könnte ich zu dir sagen: Peter, das sind eine Milliarde Erbsen. Und die Dosen werden dann wahrscheinlich alle in meinem Arbeitszimmer landen“, lachte Erik, der sich gerade Annas verärgertes Gesicht und die kleine Speisekammer, bis zum Rand mit Erbsendosen gefüllt, vorstellte.
*
„Dummes Kind! Was nützen dir eine Milliarde Erbsen, wenn du doch keinen einzigen Gedanken daran verschwendest, mich zu suchen?“ ES stampfte mit dem Fuß auf und rief voller Zorn: „Aaaah!“
*
„Was war das, Paps?“
„Was meinst du? Ich habe nichts gehört!“
„Es klang wie ein A.“
„Eine Krähe vielleicht“, stellte Erik kurzerhand fest, wippte dann leicht mit der Erde in den Händen, um das Objekt, auf das er nun verweisen wollte, auch optisch hervorzuheben: „Jetzt schau dir mal die Erde an.“
Peter begutachtete die Erde wie ein angehender Wissenschaftler, stocherte vorsichtig mit dem Zeigefinger darin herum und wurde in der Tat fündig: „Ein Regenwurm... Noch ein Regenwurm. Und so ein komisches Käferdings.“
„Das ist eine Assel. Und schau mal da hin: Das ist ein Tausendfüßler.“ Erik deutete mit der Nase auf einen Wurm mit zahllosen Füßchen, der ängstlich im Erdreich Schutz suchte.
„Igitt!“
„Das ist alles Natur.“
„Ja, aber das sind doch keine Milliarde Lebewesen.“
„Da gibt es ja auch noch Bakterien, Milben, Springschwänze, Wimperntierchen und anderes. Und vergiss nicht die Pilze! Das ist aber alles so klein, dass du sie nicht mehr zählen kannst. Weil du sie nämlich gar nicht mehr siehst. Dafür gibt es dann spezielle Apparate, mit denen sich diese kleinen Lebewesen gigantisch vergrößern lassen. Bloß weil du diese Lebewesen nicht sehen kannst, bedeutet das also nicht, dass sie nicht da sind.“
„Hhm.“
Erik schüttete die Erde schwungvoll auf den Boden, klatschte mehrmals in die Hände und rieb dann die Hände an den Hosenbeinen ab, um sich von der restlichen Erde loszusagen.
„Da wird Mama schimpfen, ich sehe ja jetzt schlimmer aus als du“, sagte er kopfschüttelnd, während er die großflächigen Schmutzflecke auf der Jeans begutachtete.
„Sag mal Peter, zertreten deine Schulfreunde eigentlich auch die Ameisen?“
„Schon“, antwortete Peter zögerlich.
„Du solltest besser deinen eigenen Weg gehen, nicht immer nehmen die anderen den richtigen Weg. Und wenn sie etwas Dummes machen, dann lass sie es ohne dich machen. Es ist nicht immer einfach, gegen den Strom zu schwimmen. Aber gerade diese Kraft macht dich zu einem ganz besonderen Menschen.“
Nun blieben sie stehen und Erik ging in die Hocke, um seinem Jungen in die goldbraunen Augen sehen zu können: „Aber egal wie viel Kraft du hast, setze sie niemals ein, um anderen Leid zuzuführen. Komm, lass uns jetzt nach Hause gehen. Mama hat das Mittagessen bestimmt bald fertig. Und auf dem Rückweg erzähle ich dir noch eine Geschichte über die Entstehung unserer Erde, wenn du möchtest.“
„Klar möchte ich!“
„Vor sehr langer Zeit lebte ein kleiner Gedanke und war sehr traurig über sein langweiliges Leben. Und somit beschloss er eines Tages, ein Kunstwerk zu schaffen. ‚Irgendwann, wenn ich längst vergessen bin, wird man es bestaunen. Ich bin mir ganz sicher, eines Tages wird man sich meines Kunstwerkes bewusst. Und staunen wird man, ganz fest staunen. Jawohl!’ Und so formte der Gedanke aus einer Idee eine Kugel, die er Sonne nannte. Er rieb sie zwischen den Händen, deswegen wurde sie immer heißer und heißer, bis sie schließlich 300-mal so heiß war wie der heutige Tag. ‚Das ist genau richtig’, überlegte sich der kleine Gedanke, ‚meine Sonne darf nicht heißer und nicht kälter sein. Und sie darf nicht größer und nicht kleiner sein.’ So ließ er die Sonne vorsichtig los und freute sich, als er sie schweben sah. ‚Nun will ich warten, was passiert’, dachte sich der kleine Gedanke, machte es sich gemütlich und schaute seiner Sonne zu.
Alles, was in die Nähe der Sonne kam, hielt sie mit ihren unsichtbaren Händen fest und aus diesem Grund kreisten einige Zeit später viele Kugeln um die Sonne herum. Diese Kugeln nannte der kleine Gedanke Planeten. Manche waren ihr sehr nah und deswegen fürchterlich heiß. Aber die meisten waren sehr weit weg, deswegen war es bitter kalt auf ihrer Oberfläche. Ein Planet, unsere Erde, fiel dem kleinen Gedanken auf, denn sie unterschied sich von all den anderen: Er war weder zu nah, noch zu weit weg von der Sonne. ‚Schade, dass die Erde so klein ist. Wenn sie eines Tages von Luft umgeben wird, dann ist meine Erde viel zu schwach, die Luft mit ihren kleinen, schwachen Armen festzuhalten. Oh ja, ich befürchte, die Luft wird in den Weltraum entschwinden!’ Deswegen formte der kleine Gedanke einen zweiten Planeten und nannte ihn Theia. Er schubste ihn an und so kam es, dass Theia und die Erde zusammentrafen. Das gab einen riesigen Knall! In alle Richtungen flogen die Trümmer. Aber die beiden Planeten waren noch sehr weich und geschmeidig, sie konnten verschmelzen und die Erde wurde größer. Und das, was von Theia übrig blieb, nannte der kleine Gedanke den Mond. ‚Er soll von nun an ein Begleiter sein und meine stürmische Erde umkreisen. Wie Mann und Frau sollen sie zusammenbleiben, und einer braucht den anderen. Ich bin mir sicher, meine Erde wird sich bald beruhigen.’ Und so geschah es tatsächlich. Aber der kleine Gedanke begutachtete die Erde skeptisch, denn etwas fehlte noch: ‚Der Weltraum ist groß und gefährlich’, dachte er, ‚der Mond kann meine Erde nicht beschützen.’ Er betrachtete die anderen Planeten und als er den größten unter ihnen sah, strahlte er: ‚Dich nenne ich Jupiter und du passt auf die Erde auf. Wie ein Staubsauger sollst du alles Geröll, das auf die Erde zufliegt, aus dem Weg räumen!’
Alles war also perfekt eingerichtet, um Leben entstehen zu lassen: Die Erde hatte Wasser, das weder zu Eis gefror, noch in den Weltraum verdampfte. Sie hatte einen Mond, deswegen wurde es ziemlich gleichmäßig warm auf ihr. Die Sonne war nicht zu groß, sonst hätte sie nicht die Kraft gehabt, bis zum heutigen Tag die Erde zu wärmen. Die Sonne war auch nicht zu klein, sonst hätte der kleine Gedanke seine Erde näher an die Sonne rücken müssen. Aber dann gäbe es wahrscheinlich auf der einen Erdhälfte nur Tag und auf der anderen nur Nacht, denn die Erde hätte sich nicht mehr wie ein Kreisel gedreht. Jupiter gab es schließlich auch noch, der für die kleine Erde den Dreck wegräumte. Und genau aus diesem Grund, dass nämlich alles perfekt eingerichtet war für die Erde, konnte sich das Leben auf ihr entfalten. Leben, das immer wieder ausgestorben ist, um neuen Arten Platz zu machen. Vielleicht wird es uns Menschen auch einmal so ergehen? Wenn wir die Natur allerdings in Ruhe lassen, lässt sie uns auch in Ruhe. Aber wenn wir sie beherrschen wollen, beherrscht sie uns. Das ist ein ganz einfaches Gesetz.“