Читать книгу Der Glückskompass - Michael Kunze - Страница 5
EIN GLÜCKLICHER ZUFALL
ОглавлениеSie wollte mich zum Thema Glück interviewen. Sie, Silvia Jelincic, die Journalistin, die Glück gehabt hatte. Beim Flug über den Atlantik. Bei dem schrecklichen Gewitter. Nicht in dem Flugzeug zu sitzen, das abgestürzt war, sondern in einer anderen Maschine, unweit dahinter, das war schon großes Glück. Auch wenn es sich anfühlte wie ein Schock. Der Schock war ihr auf dem Foto im Internet anzusehen. Weit aufgerissene Augen, als sie vom Absturz erfuhr. Ich hatte ein wenig zu ihrer Person recherchiert. Schließlich wollte ich ja wissen, mit wem ich gleich die Ehre haben würde.
Das moderne Kaffeebistro, das sie als Ort für unsere erste Begegnung vorgeschlagen hatte, verströmte kecke Behaglichkeit. Die hellen Holztische vor den großen Fensterflächen hielten das herbstliche Grau draußen. An diesem frühen Nachmittag war es angenehm ruhig hier. Die Kellnerin trug etwas vorbei, das sehr liebevoll angerichtet aussah, aber ich hatte schon zu Mittag gegessen. Also bestellte ich nur einen Kaffee.
Wie üblich war ich zu früh dran. So blieb mir Zeit, mich für das Interview zu sammeln. Eigentlich absurd. Ich sollte mich sammeln, obwohl gerade das Sammeln in diesem Fall mein Problem war. Gesammelt hatte ich zur Glücksforschung über die Jahre viel zu viel. Wo sollte ich anfangen? Noch nie hatte mich jemand zum Thema Glück interviewen wollen. Wie sie wohl auf mich gekommen war? Konnte sie einen Hinweis aus der Presseabteilung bekommen haben? Das wäre typisch. Wenn die Pressestelle der Medizinischen Universität eine ungewöhnliche Anfrage bekam, war die erste Ansprechstation immer der Professor Kunze. Als Sozialmediziner war ich quasi für alles zuständig, wofür es keine Spezialisten gab.
Wie auch immer. Jedenfalls hatte Silvia Jelincic mit mir genau den Richtigen erwischt. Seit sechs Jahrzehnten befasste ich mich mit der Glücksforschung. In diesen Jahrzehnten hatte ich stapelweise Studien zum Thema Glück gelesen. Aber aufgearbeitet hatte ich das ganze Material nie. Das hatte ich immer vor mir hergeschoben, zumal andere Aufgaben stets drängender und näher an dem waren, was von einem Professor für Sozialmedizin erwartet wurde.
Ich hatte mich mit Blickrichtung U-Bahn-Station ans Fenster gesetzt, da ich annahm, dass meine Gesprächspartnerin aus dieser Richtung kommen würde. Hätte ich dieses Interview ablehnen sollen? Eine Stunde hatten wir dafür anberaumt. Für eines der riesigsten Themen überhaupt. Kein Tag verging, ohne dass in irgendeinem Magazin irgendjemand irgendeine neue Glücksstudie verwurstete. Meist ohne die Studie gelesen zu haben. Welches Essen und welche Diät machen glücklich? Wie werden Beziehungen und Singles glücklich? Welcher Extremsport und welche Schweigemeditation führen zum Glück? Lauter sensationelle Eintagsfliegen.
Ich konnte nur hoffen, dass mich Silvia Jelincic nicht zum Erzeuger einer solchen Eintagsfliege machen wollte. Professor Kunze enthüllt das wahre Geheimnis des Glücks. Ein Graus. Für einen solchen Artikel wollte ich meinen Namen jedenfalls nicht hergeben.
Da sah ich sie schon in einem langen Herbstmantel heraneilen. Sie war pünktlich.
Zum Glück hatte ich die U-Bahn gerade noch erwischt. Professor Kunze sei alte Schule und doch unorthodox, hatte mir ein gemeinsamer Bekannter erzählt. Alte Schule bedeutete jedenfalls, dass Pünktlichkeit bei dieser ersten Begegnung wichtig war.
Als ich dem Professor am Telefon gesagt hatte, dass ich zum Thema Glück recherchiere, hatte er sich etwas reserviert angehört. Vielleicht hatte er zu diesem Thema wenig zu sagen. Schließlich war er Mediziner. Er erwähnte eine berufliche Erfahrung, die er Mitte der 1960er-Jahre gemacht hatte. Das verwirrte mich. »Wie alt sind Sie denn?«, fragte ich ihn unumwunden.
In zwei Jahren würde er achtzig sein, lautete seine Antwort, die mich weiter verwirrte. Erst nach dem Telefonat sah ich mir seine Vita an. Ich war schon sehr gespannt auf diesen Professor, Jahrgang 1942, der immer noch an der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin der Medizinischen Universität Wien tätig war.
Eigentlich hätte ich erwartet, bei meinen Recherchen zunächst an einen Psychologen zu geraten. Die Studien zur Glücksforschung, die mir bis jetzt untergekommen waren, stammten alle von Psychologen. Allerdings nicht von heimischen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ich bei einem Sozialmediziner gelandet war. Auch gut. Dann konnte ich zunächst die körperlichen Aspekte des Glücks abklären. Aber inhaltlich erwartete ich von diesem Interview nicht allzu viel. Mich interessierte mehr die Person, die ich gleich treffen würde.
Da sah ich ihn auch schon am Fenster sitzen. Breites sympathisches Lächeln, das war ein guter Anfang. Und doch bemerkte ich in seinem Blick auch die Skepsis, die mir schon am Telefon aufgefallen war. Für so etwas hatte ich als Journalistin einen sechsten Sinn. Innerlich musste ich seufzen. Wenn ich die Katze aus dem Sack ließ, würde seine Skepsis bestimmt noch wachsen. Dass aus meinen Recherchen ein Buch werden sollte und dass ich eigentlich auf der Suche nach einem wissenschaftlichen Supervisor war, hatte ich ihm wohlweislich nicht verraten. Denn das verhieß Arbeit. Davor scheuten die Herren Professoren, die ich bisher kennengelernt hatte, zurück. Ganz zu Recht, denn über zu wenig Arbeit konnte sich in höchsten akademischen Kreisen niemand beschweren. Aber wahrscheinlich kam ein Sozialmediziner ohnehin nicht für meine Zwecke infrage.
Ich ließ meinen Mantel an der Garderobe hängen, wo ich ihn im Blick haben würde.
Der Professor erhob sich und deutete eine leichte Verbeugung an. »Guten Tag, Frau Jelincic, freut mich sehr. Sie haben mir noch gar nicht verraten, warum Sie eigentlich zum Thema Glück recherchieren.«
Autsch! Der Mediziner kam gleich zum wunden Punkt. »Guten Tag, Herr Professor.« Ich spürte seinen bohrenden Blick. »Vielleicht wird es etwas Größeres«, versuchte ich auszuweichen.
Er zog seine Stirn in tiefe Falten. Sein Blick wurde noch bohrender. »Sie meinen eine Artikelserie?«
Ich schüttelte den Kopf. »Noch größer«, sagte ich ein wenig verschämt, denn ich fühlte mich ertappt. »Aber von Ihnen brauche ich nur diese eine Stunde, Ehrenwort!«, schob ich nach, damit er nicht gleich dichtmachte.
»Noch größer als eine Artikelserie? … Sie meinen ein Buch. Ein Buch über Glück!«
Ich seufzte und nickte. Was dann geschah, überraschte mich.
Der Professor setzte sich an den Tisch, sichtlich entspannt, breit grinsend. Auch die tiefen Falten auf seiner Stirn waren verschwunden. »Glück ist ein großes Thema«, hob er an. »Vielleicht neben der Liebe das größte überhaupt. Dafür ist mir eine Stunde Interview zu wenig. Wenn Sie die Sache seriös angehen wollen, …«