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KAPITEL 3 Parias, Rebellen und Romantiker:
Versuch einer soziologischen Analyse der jüdischen
Intelligenz in Mitteleuropa

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Wie wir bereits gesehen haben, bezeichnet der Begriff Mitteleuropa einen Bereich, der durch die deutsche Sprache eine Einheit bildet: Deutschland und das Kaiserreich Österreich-Ungarn. Die Situation der jüdischen Bevölkerungsschicht dieser Region und vor allem die der jüdischen Intelligenz kann nicht verstanden werden, wenn man die historischen Veränderungen nicht in Rechnung stellt, die Mitteleuropa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erlebt hat. Die Veränderung der Lebensform im religiösen und kulturellen Bereich muß mit Veränderungen der ökonomischen und der sozialen Struktur in Beziehung gesetzt werden. Den Begriff der »Determinierung« durch wirtschaftliche Verhältnisse wollen wir vermeiden; geeigneter ist Karl Mannheims Formulierung der Seinsgebundenheit. Er meint damit einen Zusammenhang zwischen Kultur und sozio-ökonomischer Realität, vielleicht sogar eine Abhängigkeit der ersten von der zweiten.

Mit anderen Worten: wenn wir die geistigen Inhalte der deutsch-jüdischen Kultur dieser Epoche analysieren wollen, müssen wir zuvor eine soziale Gegebenheit konstatieren, die wesentlich ist: Die rasante Entwicklung des Kapitalismus und die beschleunigte Industrialisierung in Deutschland und Österreich-Ungarn in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1870 und 1914 wandelt sich Deutschland von einem halb feudalistischen und rückständigen Land zu einem der wichtigsten Industriestaaten der Welt. Ein Beispiel dürfte genügen, um diese Veränderung zu illustrieren: Im Bereich der Stahlproduktion, einer der typischen modernen Industriezweige, produziert Deutschland, das 1860 noch hinter Frankreich und weit hinter England lag, im Jahre 1910 mehr als beide Länder zusammen! Bank- und Industriekapital verschmelzen miteinander. Mächtige Kartelle entstehen innerhalb der Textil- und Kohleindustrie, in der Eisen und Stahl verarbeitenden Industrie, der chemischen Industrie und der Elektrotechnik.1 Ein vergleichbares Phänomen, sei es auch geringeren Ausmaßes, finden wir vor in Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Die rasende Geschwindigkeit, die Brutalität, die Intensität dieser alles niederwälzenden Industrialisierung hat die mitteleuropäischen Gesellschaften erschüttert. Sie hat zur Bildung neuer politischer Systeme beigetragen, zu einer Veränderung der gesamten Werte-Hierarchie. Denken wir nur an den Aufschwung der Bourgeoisie und an die Formierung eines klassenbewußten Proletariats !

Angesichts dieses unaufhaltsamen Siegeszugs des Kapitalismus, der alles erfassenden Entwicklung im Bereich von Wissenschaft, Technik und industrieller Produktion, wo nur noch die Ware zählt und alles im Wert von Waren gemessen wird, entsteht innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und vor allem innerhalb der traditionellen Intelligenz eine kulturelle Reaktion, die bald verzweifelte, tragische Züge trägt, bald resignativ wirkt. Wir bezeichnen sie als romantischen Antikapitalismus.

Der romantische Antikapitalismus darf mit Romantik als Stilrichtung von Kunst und Literatur nicht verwechselt werden. Er ist eine Weltanschauung, die eine mehr oder weniger radikale Kritik an der Zivilisation der bürgerlichen Industriegesellschaft formuliert im Namen der sozialen, kulturellen, ethischen oder religiösen Werten einer präkapitalistischen Vergangenheit propagiert.2 Diese Weltanschauung bestimmt um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa und vor allem in Deutschland das Lebensgefühl von Kulturschaffenden und Universitätsangehörigen. Die akademischen Würdenträger gehörten im vergangenen Jahrhundert zur einflußreichsten und privilegiertesten sozialen Gruppe.

Die fortschreitende Kapitalisierung der Gesellschaft droht sie in die Situation ohnmächtiger Außenseiter abzudrängen. Sie reagieren, indem sie ihren Abscheu vor einer Gesellschaft bekunden, die ihnen seelenlos erscheint, standardisiert, oberflächlich und materialistisch.3 Eines der wesentlichen Themen ihrer Kritik, die wie eine Obsession bei Schriftstellern, Dichtern, Philosophen und Historikern immer wiederkehrt, ist das der Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation. Während der erste Begriff ein geistiges Klima bezeichnet, das von ethischen, religiösen und ästhetischen Werten geprägt ist, steht der zweite Begriff für eine materialistische und vulgäre Welt, in der der ökonomische Fortschritt regiert. Wenn der Kapitalismus nach der unerbittlich scharfsichtigen Formulierung Max Webers die Entzauberung der Welt bedeutet, so muß der romantische Antikapitalismus vor allem als nostalgischer und verzweifelter Versuch gewertet werden, die Welt aufs neue zu verzaubern. Zu diesem Versuch gehörte im wesentlichen die Rückkehr zur Religion, die Reaktivierung der unterschiedlichsten Formen religiöser Spiritualität.

Von der Weltanschauung des romantischen Antikapitalismus zeugen eine erstaunliche Anzahl künstlerischer Werke dieser Zeit und eine Vielzahl gesellschaftlicher Bewegungen und Gruppierungen: Romane von Thomas Mann und Theodor Storm, Gedichte von Stefan George und Richard Beer-Hoffmann, die Soziologie von Tönnies, Simmel oder Mannheim, die historische Wirtschaftsschule, der Kathedersozialismus (Gustav Schmoller, Adolph Wagner, Lujo Brentano), die Philosophie von Heidegger und Spengler, Jugendbewegung und Wandervogel, der Symbolismus und der Expressionismus. Allen gemeinsam ist die Ablehnung des Kapitalismus zugunsten einer unbestimmten, rückwärtsgewandten Sehnsucht. Was ihren politischen Standpunkt betrifft finden wir die unterschiedlichsten Ansätze: Als romantische Antikapitalisten können sowohl ideologische Verfechter der Reaktion (Möller van der Bruck, Julius Langbehn, Ludwig Klages) als auch revolutionäre Utopisten wie Bloch und Landauer gelten. Was im Bereich literarischen, künstlerischen und geisteswissenschaftlichen Schaffens in Deutschland zu dieser Zeit von Bedeutung ist, konzentriert sich innerhalb des magnetischen Felds dieser Geisteshaltung.

Welche Folgen hatten die ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in Mitteleuropa für die jüdische Bevölkerungsschicht? Der Aufschwung des Kapitalismus begünstigt die jüdische Bourgeoisie. Die jüdischen Mitbürger verlassen ihre Ghettos und Dörfer und siedeln sich in den Städten an. Während 1867 noch 70 % aller preußischen Juden in kleinen Dörfern lebten, fällt dieser Prozentsatz 1927 auf 15 %.4 Die gleiche Entwicklung beobachten wir im Kaiserreich Österreich-Ungarn. Hier konzentriert sich die jüdische Bevölkerung in Budapest, Prag und vor allem in Wien. Als Beispiel könnte ich meine eigene Familie anführen: sowohl meine Großeltern väterlicherseits, die aus der Tschechoslowakei stammten, als auch die von seiten der Mutter (sie kamen aus Ungarn) haben ihre Dörfer gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlassen, um sich in der Hauptstadt des Kaiserreichs niederzulassen. In den Städten etablieren sich ein jüdisches Großbürgertum und eine jüdische Mittelschicht, die ihren Einfluß im Bereich von Handel, Industrie, Bankwesen und Finanzen ständig vergrößern. Im Zuge ihres stetig wachsenden Reichtums und nach Aufhebung der alten bürgerlichen und politischen Restriktionen (in Deutschland 1869–1871) kennt diese jüdische Mittelschicht nur einen Ehrgeiz: die Assimilation, die Integration ins deutsche Volk. Ein Brief, den der Industrielle und spätere Minister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, 1916 geschrieben hat, spiegelt diese Einstellung in charakteristischer Weise wieder: »Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderen Stamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts … Meine Vorfahren und ich selbst haben sich von deutschem Boden und deutschem Geist genährt … Mein Vater und ich haben keinen Gedanken gehabt, der nicht für Deutschland und deutsch war …«5

Natürlich stellt dieses Beispiel fast einen Grenzfall dar, aber selbst für diejenigen, die sich weiterhin als Juden definierten, war die deutsche Kultur die einzig wertvolle. Vom Judentum blieben nur einige rituelle Überbleibsel wie der Besuch in der Synagoge zum Jom-Kippur-Fest und der alttestamentliche Monotheismus. Als ideale, beispielhafte Weisheitslehrer galten nicht mehr Moses oder Salomon, sondern Lessing und Goethe, Schiller und Kant. Vor allem Schiller wurde regelrecht verehrt. Seine Gesammelten Werke standen in der Bibliothek jedes deutschen oder österreichischen Juden, der etwas auf sich hielt. (Als meine Eltern Wien 1938 verlassen mußten, haben sie ihre Schiller-Ausgabe mitgenommen …) Die konsequentesten Verfechter der Assimilation waren in Deutschland die Mitglieder des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Zu diesem sozialen Milieu gehörte auch die Familie Gershom Scholems. Er schreibt dazu: »Die Bildung und Lektüre lagen ausschließlich im deutschen Kulturbereich, und ein Ausbruch aus ihm, besonders gar ins Jüdische zurück, begegnete in den meisten Fällen starken Widerständen. Die Assimilation ging sehr weit. Es wurde immer wieder betont, wenn auch in verschiedenen Nuancen, daß man dem deutschen Volk zugehöre und darin nichts weiter als eine Konfession bilde, wie andere auch. Das war um so paradoxer, als ja gerade das religiöse Moment, das angeblich den einzigen Unterscheidungspunkt bildete, in den meisten Fällen gar nicht vorhanden war und auf die Lebensführung ohne Einfluß blieb.«6

Dennoch wäre es falsch, in diesem Hunger nach Akkulturation nur simple Karrieresucht zu sehen. Auch ehrliche und echte Überzeugtheit spielte eine Rolle. Sogar ein zutiefst religiöser Jude wie Franz Rosenzweig konnte 1923, kurz nach der Veröffentlichung seines großen theologischen Werkes Der Stern der Erlösung noch schreiben: »Ich glaube, die Verjudung hat aus mir keinen schlechteren, sondern einen besseren Deutschen gemacht … Und der Stern wird wohl einmal und mit Recht als ein Geschenk, das der deutsche Geist seiner jüdischen Enklave verdankt, angesehen werden.«7

Bis zu einem gewissen Punkt war diese Assimilation möglich, aber es gab eine gesellschaftliche Schranke, die nicht zu überschreiten war. Moritz Goldstein bringt das 1912 in einem Text (»Deutsch-Jüdischer Parnass«) zum Ausdruck, der an die Klage eines enttäuschten Liebenden gemahnt: »Machen wir uns doch nichts vor: wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die andern fühlen uns ganz undeutsch … Sind wir nicht aufgewachsen mit dem deutschen Märchen? … Lebt nicht auch in uns der deutsche Wald, dürfen nicht auch wir seine Elfen und Gnomen erblicken …?«8

Die Assimilation hatte auch da ihre Grenzen, wo die jüdischen Mitbürger von einer ganzen Reihe gesellschaftlicher Tätigkeiten ausgeschlossen blieben. Der Zugang zur Verwaltung, zur Armee, zum Gerichtswesen und zum öffentlichen Schul- und Erziehungswesen blieb ihnen verwehrt. Seit Beginn des Jahres 1890 ließ sich sogar ein wachsender Antisemitismus beobachten; er hatte seine Ideologen, seine Aktivisten, seine Presse. Aus all diesen Gründen kann von einer wirklichen Integration der jüdischen Bevölkerung in Mitteleuropa nicht die Rede sein. Auf sie treffen einige der wesentlichen Bestimmungen Max Webers in seiner klassisch gewordenen Definition des Paria-Volkes zu: »Eine durch (ursprünglich) magische, tabuistische und mit rituellen Schranken der Tisch- und Konnubialvergemeinschaftung nach außen einerseits, durch politische und sozial negative Privilegierung, verbunden mit weitgehender ökonomischer Sondergebahrung andererseits, zu einer erblichen Sondergemeinschaft zusammengeschlossene Gruppe ohne autonomen politischen Verband.«9 Natürlich läßt sich die damalige Situation der Juden mit der bestimmter Kasten in Indien oder der der jüdischen Ghettobewohner im Mittelalter nicht vergleichen. Wirtschaftliche Sicherheit und eine zumindest formelle Gleichheit der Bürgerrechte waren seit der Emanzipation gewährleistet. Aber auf gesellschaftlicher Ebene hatte der Jude nicht aufgehört, Paria zu sein. Und er legte sich, um mit Hannah Arendt zu sprechen, Rechenschaft über die Tatsache ab, »how treacherous the promise of equality (is) which assimilation has held out.«10

Als Königsweg zum Erwerb gesellschaftlicher Würden und Ehren galt in Deutschland wie im übrigen Mitteleuropa die Universitätskarriere. Wie der Neukantianer Friedrich Paulsen schreibt, bildeten die Bürger mit universitärer Ausbildung in Deutschland eine Art von intellektueller Aristokratie. Das Nichtvorhandensein eines akademischen Titels hingegen stellte einen Makel dar, den weder Reichtum noch hohe Geburt völlig ausgleichen konnten.11 Das innere Gesetz der kulturellen Assimilation und das Bedürfnis, auf der sozialen Stufenleiter nach oben zu kommen, treiben das jüdische Bürgertum vor allem seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dazu, seine Söhne zur Universität zu schicken. »Wie die meisten deutschen Kaufleute, wollten auch die jüdischen höher hinaus. Die Auszeichnungen durch Ehrenämter, Titel und Orden, die ihnen trotz des Antisemitismus nicht ganz vorenthalten blieben, genügten nicht; ihre Söhne und Schwiegersöhne sollten mehr gelten als sie selber. Die Laufbahn des Offiziers und höheren Beamten, das Ziel des christlichen jungen Mannes, war dem jüdischen verschlossen, wenn er es sich nicht durch die Taufe erschloß, das akademische Studium offen.«12

So kommt man seit 1895 zu einem Anteil von jüdischen Studenten an den deutschen Universitäten, der 10 % beträgt, das sind zehnmal soviel, wie der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung ausmacht (1,05 %).13 Dieser massive Bildungsanstieg der jüdischen Jugend aus bürgerlichem Milieu führt um die Jahrhundertwende schnell zur Formation einer neuen sozialen Kategorie: der jüdischen Intelligenz.

Natürlich findet man jüdische Intellektuelle deutscher Muttersprache seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Moses Mendelssohn), aber seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist das Phänomen allgemein zu beobachten und wird zu einem neuen gesellschaftlichen Faktum. Diese jüdischen Intellektuellen sind ein typisches Beispiel für die sozial freischwebende Intelligenz, von der Mannheim spricht. Sie sind »deklassiert«, instabil, ohne feste soziale Einbindung. Ihre Lebensbedingungen sind ungeheuer widersprüchlich: tief verwurzelt in der deutschen Kultur, bleiben sie dennoch Außenseiter, Kosmopoliten, die ohne ihre Muttersprache nicht leben können, ohne innere Beziehung und im Widerspruch zu ihren geschäftstüchtigen, bürgerlichen Elternhäusern. Von der traditionellen, ländlichen Adelsschicht werden sie verachtet und haben keine Chance, in die gesellschaftlichen Kreise aufgenommen zu werden, wo ihr natürlicher Platz wäre (eine Karriere als Universitätsprofessor). Da sie ideologisch verfügbar sind, erliegen sie rasch der Faszination und fühlen sich von zwei entgegengesetzten Geisteshaltungen gleichermaßen angezogen. Thomas Mann hat die Eckpfeiler des Spektrums intellektueller Auseinandersetzungen im Deutschland jener Zeit im Zauberberg personifiziert: »Settembrini« verkörpert den liberalen Menschenfreund, Demokraten und Republikaner und »Naphta« den romantischen, konservativen Revolutionär.

Für viele junge jüdische Intellektuelle wird der Rationalismus, der Glaube an die Evolution des Fortschritts im Sinne der Aufklärung und die Philosophie der Neukantianer zum Anknüpfungspunkt. Diese Position steht nicht im Widerspruch zu einer Art von »verdünntem« Judentum, oft reduziert auf bloße monotheistische Ethik im Sinne von Hermann Cohen. Im Rahmen dieser Weltanschauung sind mehrere Standpunkte möglich. Das geht vom gemäßigten Liberalismus, der die bevorzugte Ideologie der jüdischen Bourgeoisie darstellt, bis zur Anhängerschaft an die Sozialdemokratie (Eduard Bernstein), an den Marxismus (Max Adler, Otto Bauer und die Austro-Marxisten) und sogar an den Kommunismus (Paul Levi, Ruth Fischer, Paul Frölich, August Thalheimer). Die vorherrschende Strömung im Geistesleben Mitteleuropas um die Jahrhundertwende aber ist der romantische Antikapitalismus. Es ist demnach unvermeidlich, daß ein großer Teil der neuen jüdischen Intelligenz, die ihre Universitätsausbildung um die Jahrhundertwende erhalten hat, von der romantischen Kritik an der industriellen Zivilisation wie »Naphta!« fasziniert ist. Gierig machen sie sich diese nostalgische, antibürgerliche Weltanschauung zu eigen. Im universitären Milieu gibt es ohnehin keine andere, vor allem nicht in den Geisteswissenschaften, auf die sich das Gros der jüdischen Studenten stürzt. Was daraus folgt, ist die Weigerung, in das Geschäft des Vaters einzutreten, die Revolte gegen das bürgerliche Familienmilieu und das heftige Streben nach einer »intellektuellen Lebensweise«.14 Nun kommt es zum Generationskonflikt, der von so vielen jüdischen Intellektuellen in ihrer Autobiographie beschrieben wird: dem Bruch der jungen, auf Kultur, Spiritualität, Religion und Kunst versessenen Antibourgeois mit ihren Eltern, die als Unternehmer, Geschäftsleute oder Bankiers erfolgreich sind und sich in Sachen Religion eines gemäßigten Liberalismus befleißigen, der sie nicht daran hindert, gute deutsche Patrioten zu sein.15 Leo Löwenthal, Literatursoziologe der Frankfurter Schule, schildert das Gefühl, das viele Intellektuelle seiner Generation beherrschte, in einem Interview: »Mein Elterhaus war sozusagen die Symbolisierung all dessen, was ich nicht wollte – schlechter Liberalismus, schlechte Aufklärung und doppelte Moral.«16

Mannheim verwendet den Begriff Generationszusammenhang, um die enge Bindung zu bezeichnen, die aus der Teilhabe an einem gemeinsamen geschichtlichen und gesellschaftlichen Schicksal einer Generation erwächst.17 Tatsächlich ist der Bruch zwischen den Generationen kein biologisches Faktum. Nur unter ganz bestimmten sozialen Bedingungen entsteht ein Abstand oder sogar eine Kluft zwischen den Generationen. Bei der neuen jüdischen Intelligenz, die in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts geboren wurde, läßt sich solch ein Generationszusammenhang nachweisen. Er betrifft die Gruppe von Intellektuellen, der diese Untersuchung gewidmet ist. Sie alle sind etwa in den letzten zwanzig Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren: Martin Buber 1878, Franz Kafka 1883, Ernst Bloch 1885, Georg Lukács 1885, Franz Rosenzweig 1886, Walter Benjamin 1892, Ernst Toller 1893, Gershom Scholem 1897, Erich Fromm 1900, Leo Löwenthal 1900. Allerdings muß ergänzt werden, daß die oben skizzierte soziologische Analyse lediglich Aufschluß gibt über die Chancen einer bestimmten Anzahl dieser jüdischen Intellektuellen, den romantischen Antikapitalismus zu vertreten. Sie kann nicht erklären, warum gerade diese Wahl von diesem oder jenem Menschen getroffen worden ist. Zu diesem Zwecke müßte eine Reihe von anderen Variablen geklärt werden, zum Beispiel solche psychologischer Natur. Das Beispiel der Familie Scholem mag hier aufschlußreich sein: Einer der Söhne, Reinhold, wird deutscher Nationalist, und bleibt es sogar nach 1945 …; der andere, Werner, betätigt sich als kommunistischer Abgeordneter, und den dritten, Gerhard, kennen wir als Zionisten und Historiker der Kabbala … Das soziale Milieu allein kann eine derartige Unterschiedlichkeit der Lebensläufe ganz offensichtlich nicht erklären!

Für den jüdischen Intellektuellen der »romantischen Generation« der Jahre 1880, der manchmal die halböffentlichen Kreise frequentierte, in denen der romantische Antikapitalismus erstmals in Begriffe gefaßt wurde (Lukács und Bloch besuchten den Kreis um Max Weber in Heidelberg), stellte sich sofort ein ganz bestimmtes Problem. Der Traum von der Vergangenheit, das wesentliche der romantischen Position, wurde von Assoziationen genährt, die über deutsches Nationalbewußtsein hinaus eine gemeinsame Geschichte und Religion, vielleicht sogar die Zugehörigkeit zur Aristokratie, voraussetzten.

Wie aber sah die Beziehung eines Juden zum Germanentum der Vorfahren aus, zum mittelalterlichen Adel, zum protestantischen oder katholischen Christentum? Von diesem allen Deutschen gemeinsamen kulturellen Erbe war er völlig ausgeschlossen. Es ist richtig, daß bestimmten jüdischen Intellektuellen der Sprung gelang, vor allem die Mitglieder des Kreises um Stefan George waren hier sehr erfindungsreich. Rudolf Borchardt wandelte sich zum deutschen Nationalisten; Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl zu konservativen Germanisten, Hans Ehrenberg zum protestantischen Theologen. Aber derart extreme Fälle kamen selten vor, sie lassen auf eine einigermaßen künstliche, selbstentfremdende Entwicklung und eine völlige Verneinung der jüdischen Identität schließen. Eine nicht zu überbietende Manifestation dieser Haltung liegt uns vor im Werk jüdischer Antisemiten wie Otto Weininger und Theodor Lessing. Für die anderen und damit für die Mehrzahl gab es im Rahmen der Neuromantik nur zwei mögliche Auswege: entweder die Rückkehr zu den eigenen historischen Wurzeln, zur eigenen Kultur und zur Nationalität und Religion der eigenen Ahnen, oder der Glaube an eine romantische und revolutionäre Utopie, die universellen Charakter hatte. Es ist nicht erstaunlich, daß eine Anzahl jüdischer Denker deutscher Sprache, die als Anhänger des romantischen Antikapitalismus gelten können, beide Wege gleichzeitig wählten. Sie entdeckten die jüdische Religion für sich neu, vor allem die restaurativen und utopischen Tendenzen des Messianismus, und sympathisierten bzw. identifizierten sich sogar mit revolutionärem, utopischem Gedankengut, das in gleicher Weise von Sehnsucht nach der Vergangenheit erfüllt war. Wie wir oben bereits gezeigt haben, entsprachen beide Tendenzen in struktureller Hinsicht einander.

Sehen wir uns die Wege näher an, die sie gingen. In der religiösen Atmosphäre der Neuromantik revoltieren viele jüdische Intellektuelle gegen die Assimilation ihrer Eltern und versuchen, die religiöse Kultur der Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren. So vollzieht sich eine De-Säkularisation, eine (partielle) Dissimilation, eine kulturelle und religiöse Anamnese, eine »An-Akkulturation«.18 Es gab Kreise und Vereinigungen, die hier als treibende Kräfte wirkten: der Club Bar Kochba in Prag, zu dessen Mitgliedern Hugo Bergmann, Hans Kohn und Max Brod zählten, der Kreis um den Rabbiner Nobel in Frankfurt (Siegfried Kracauer, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Ernst Simon), das Freie Jüdische Lehrhaus mit Franz Rosenzweig, Gerhard Scholem, Nahum Glatzer, Margarete Süssmann, die Zeitschrift Martin Bubers Der Jude usw. Aber diese »An-Akkulturation« erfaßt noch weitaus breitere Bereiche der Gesellschaft. Eine Vielzahl der von der Neuromantik beeinflußten jüdischen Intellektuellen sind von ihr betroffen. Sie trägt manchmal nationale Züge, vor allem durch den Zionismus, aber ihr vorherrschendes Charakteristikum ist die Hinwendung zur Religiosität. Die Auswirkungen der Assimilation gehen so tief, daß es äußerst schwierig ist, mit dem deutschen Nationalbewußtsein zu brechen. Im Rahmen des fortgeschrittenen Assimilierungsprozesses in Mitteleuropa verbleibt die Religion als einzig legitimes Merkmal für die »deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Demnach ist es verständlich, daß sie schnell zum wichtigsten Ausdrucksmittel der kulturellen Rückbesinnung wird.

Dennoch handelt es sich um eine neue Form von Religiosität. Sie ist geprägt von der Spiritualität der deutschen Romantik und sehr verschieden vom rituellen Traditionalismus des orthodoxen Judentums, das von der Assimilation nie betroffen war. Das Paradoxe dabei ist, daß diese jungen Intellektuellen ihre eigene Religion erst über die Vermittlung der deutschen Neuromantik entdecken. Ihr Weg zum Propheten Jesaja führt über Novalis, Hölderlin und Schelling. Mit anderen Worten, ihre Assimilation und Akkulturation wird zur Vorbedingung und zum Ausgangspunkt für den Prozeß der Dissimilation und An-Akkulturation. Es ist kein Zufall, daß Buber vor der Konzeption seiner chassidischen Schriften19 über Jakob Böhme geschrieben hat und Franz Rosenzweig sich fast zum Protestantismus bekehrt hätte, bevor er zum Erneuerer der jüdischen Theologie wurde. Gustav Landauer hat die mystischen Schriften Meister Eckharts übersetzt, bevor er sich der jüdischen Tradition zuwandte, und Gershom Scholem hat die Kabbala dank der Werke des deutschen Romantikers Franz Joseph Molitor wiederentdeckt. Das Erbe der jüdischen Religion wird wahrgenommen durch die Gläser einer von der Romantik blau getönten Brille, was die Empfänglichkeit für ihre irrationalen Züge natürlich erhöht, ihren jeder Institutionalisierung feindlich gesonnenen Impetus und ihre mystischen, explosiven, apokalyptischen Aspekte. In seinem ersten, 1919 veröffentlichten Artikel über die Kabbala verwendet Scholem ganz gezielt den Begriff »antibürgerlich«. Der Messianismus konzentriert wie ein Brennspiegel das gesamte Sturm- und Drang-Potential des Judentums in sich, was natürlich voraussetzt, daß auf seine liberale, neukantianische und aufklärerische Interpretation verzichtet wird, die das messianische Zeitalter in der allmählich fortschreitenden Vervollkommnung der Menschheit verwirklicht sieht. Das Judentum entdeckt dieses Lebensgefühl nun für sich. Was hier neu betont wird ist die ungeheure eschatologische Kraft der originären Tradition, von den Propheten bis zur Kabbala und vom Alten Testament bis hin zu Sabbatai Zwi. So wird der jüdische Messianismus mit seinen beiden Antriebskräften Restauration und Utopie zum Schibboleth der religiösen Rückbesinnung der um das Jahr 1880 geborenen jüdischen Romantiker. Und daß aus der romantischen Explosivität dieses neuen Messianismus eine größere Bereitschaft zur politischen Veränderung entsteht als aus dem rabbinischen Messianismus des orthodoxen Judentums, das sich in politischen Dingen vor allem ruhig verhielt und niemals Bereitschaft zur aktiven Parteinahme zeigte, ist evident.

Wie geht die politische Aktivierung dieser jungen jüdischen Intellektuellen vor sich? Wie läßt sich ihre Anhängerschaft an revolutionäre Utopien erklären?

Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir etwas weiter ausholen. Zuerst gilt es festzuhalten, daß sich jüdische Intellektuelle von der linken Bewegung und von sozialistischem Gedankengut generell angezogen fühlten. Historische Forschungen bestätigen, daß es sich bei einer Mehrzahl der jüdischen Linken in Mitteleuropa um Intellektuelle handelte.20 In Osteuropa, wo ein jüdisches Proletariat existierte, sah die Sache anders aus.

Der Antisemitismus erklärt dieses Phänomen auf seine Weise: Der heimatlose und kosmopolitische Jude tendiert instinktiv zum roten Internationalismus. Dieser Gemeinplatz ist offensichtlich falsch; die Mehrheit der Juden waren gute deutsche oder österreichische Patrioten, aber wahrscheinlich machte das Spannungsverhältnis von Assimilation und sozialer Verachtung und Marginalisierung im Rahmen der Volksgemeinschaft die jüdischen Intellektuellen sensibler für den internationalistischen Anspruch des Sozialismus als ihre nichtjüdischen Kollegen. Die Intelligenz spürte die Paria-Situation deutlicher als jüdisches Bürgertum und jüdische Geschäftswelt, litt stärker unter dem Antisemitismus, der sie überall umgab, unter der beruflichen und sozialen Diskriminierung. Hannah Arendt schreibt, diese neue Schicht von Intellektuellen sei der Welle antijüdischen Hasses um die Jahrhundertwende besonders stark ausgeliefert gewesen. »Ohne Schutz und Verteidigung« (»exposed without shelter and defense«) waren sie gezwungen, ihren täglichen Lebensunterhalt und ihre Selbstachtung außerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu suchen; so entwickelt sich in ihrer Mitte ein rebellisches »Paria-Bewußtsein«, das in scharfem Gegensatz steht zur konformistischen Haltung des Parvenu.21

Für den Paria gibt es nur zwei Möglichkeiten: Totale Selbstverneinung, wie wir sie bei Otto Weininger beobachten können, oder eine radikale Infragestellung des Wertesystems der Gesellschaft, die seine Andersartigkeit nicht toleriert. Seine gesellschaftliche Außenseiterposition treibt den Paria zu einem kritischen Blick; so wird er, in der Formulierung von Elisabeth Lenk, »zum Spiegel, der das Wesen der Gesellschaft reflektiert.«22

Die »negativen Privilegien« (Max Weber) der jüdischen, in die Paria-Rolle gedrängten Intellektuellen in Mitteleuropa äußern sich auf verschiedene Weise. Da ihnen Posten im Verwaltungsbereich und im öffentlichen Unterrichtswesen nicht zugänglich sind, sehen sich die jungen Hochschulabsolventen zu Tätigkeiten verdammt, die nur geringes gesellschaftliches Prestige genießen. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt als freischaffende Schriftsteller und Journalisten, als Künstler oder Privatgelehrte, als Privatlehrer usw. Nach dem deutschen Soziologen Robert Michels ist es diese Diskriminierung und Marginalisierung, die die Prädisposition der Juden zum Anschluß an die revolutionären Parteien verständlich macht.23

Das gleiche Phänomen haben Karady und Kemeny in Ungarn untersucht und festgestellt, daß »die Bildung eines harten revolutionären Kerns innerhalb der liberalen Intelligenzija in direktem Zusammenhang mit den Härten des Marktes steht. Der institutionalisierte Antisemitismus innerhalb bestimmter Berufsklassen wie zum Beispiel dem Professorenstand ist nur eine der Folgen, die die Ausgeschlossenen in der Überzeugung bestärken, daß ihre normale Integration in ein Berufsleben ihrer Qualifikation nur über eine Veränderung der Spielregeln erfolgen kann.«24

Die Bedeutung dieses Aspekts darf man nicht unterschätzen. Dennoch habe ich den Eindruck, daß die revolutionäre Radikalisierung einer Vielzahl jüdischer Intellektueller in Ungarn und Deutschland nicht reduziert werden darf auf Probleme des Arbeitsmarktes oder der Berufsaussichten. Wenn man verstehen will, warum der Sohn eines jüdischen Bankiers, Georg Lukács, Volkskommissar der Ungarischen Räterepublik wurde oder der Sohn eines reichen jüdischen Geschäftsmannes, Eugen Leviné, Führer der Münchner Räterepublik, müssen andere Überlegungen berücksichtigt werden.

Walter Laqueur hat versucht, die Anziehungskraft der Linken auf die Juden zu erklären. In seinem Buch über die Weimarer Republik schreibt er dazu: »Kurz gesagt, sie neigten zur Linken, weil sie die Partei der Vernunft, des Fortschritts und der Freiheit war, die ihnen geholfen hatte, gleiche Rechte zu erlangen. Die Rechte andererseits war in verschiedenen Abstufungen antisemitisch, weil sie die Juden als fremdes Element im Komplex Politik betrachtete. Diese Einstellung war das ganze 19. Jahrhundert hindurch ein Grundfaktum des politischen Lebens gewesen und änderte sich auch nicht im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.«25

Laqueurs Analyse ist sicherlich nicht falsch und legt Rechenschaft ab von der großen Zahl jüdischer Intellektueller, die sich in Deutschland und vor allem in Österreich zur Sozialdemokratie bekannten. Aber sie reicht bei weitem nicht aus, die Radikalisierung einer ganzen Generation jüdischer Romantiker zu erklären, die allem Mißtrauen entgegenbringen, was Rationalismus, industrieller Fortschritt und politischer Liberalismus heißt – und keiner von ihnen sympathisiert mit den Sozialdemokraten.

Alle diese jungen Leute sind erfüllt von revolutionärer Begeisterung und vom Bedürfnis, ein sozialistisches Gesellschaftsmodell zu gestalten, das den Kapitalismus ablösen soll. Was hat sie auf diesen Weg gebracht? Wie läßt sich zum Beispiel erklären, daß vom Max-Weber-Kreis in Heidelberg, in dem die neuromantische Weltanschauung vorherrschte, ausgerechnet die Juden – Lukács, Bloch, Toller – für die Revolution gestimmt haben?

Mit Sicherheit ist es ihre Paria-Situation, von der bereits die Rede war, ihr Außenseitertum und ihre Entwurzelung, die die jüdischen Intellektuellen empfänglich machte für eine Ideologie, die in radikalem Gegensatz steht zur bestehenden Ordnung. Aber hier im romantisch-antikapitalistischen Milieu kommen noch andere Motive ins Spiel. Der nationalen und kulturellen Romantik der Juden dient eigentlich der Zionismus. Aber seine Anhängerschaft bleibt gering. Die Assimilation ist zu diesem Zeitpunkt bereits zu weit fortgeschritten, als daß der Gedanke an eine jüdische Nation noch große Identifikationsbereitschaft auszulösen vermöchte. Für Mitteleuropäer ist diese Vorstellung zu abstrakt, in Osteuropa mochte das anders aussehen. Also ist es verständlich, daß die Mehrheit der jüdischen Intellektuellen eine Verweigerungshaltung zeigt, die allen Nationalismen gilt und eine romantische, antikapitalistische Utopie entwickelt, die im Internationalismus die einzige Möglichkeit sieht, soziale und nationale Ungleichheiten radikal auszumerzen. Anstelle des Zionismus votieren sie für den Anarchismus, den Anarchosyndikalismus oder eine romantische und libertäre Interpretation des Marxismus. Die Anziehungskraft dieser Ideen ist so groß, daß sie sogar die Zionisten beeinflussen; die Beispiele Martin Buber, Hans Kohn und Gershom Scholem zeugen davon.

Für die ganz spezifische Faszination, die die libertäre Utopie vor allem vor 1917 auslöste, gibt es verschiedene Gründe. Von allen sozialistischen Theorien ist sie zunächst einmal am stärksten geprägt vom romantischen Antikapitalismus. Der orthodoxe Marxismus, der in diesen Zeiten mit der Sozialdemokratie identifiziert wird, erscheint hingegen wie eine etwas linkere Version der liberalistischen und rationalistischen Philosophie und verehrt wie diese die industrielle Zivilisation. Die Kritik Gustav Landauers am Marxismus (»Sohn der Dampfmaschine«) ist typisch für diese Einstellung. Der autoritäre und militaristische Charakter des deutschen Kaiserreichs ruft den antiautoritären und libertären Protest der deutschen Intelligenz vor allem nach 1914 hervor, wo er ihr als Moloch erscheint, der nach Menschenopfern giert. Außerdem entspricht der Anarchismus eher der Stellung der Intellektuellen »ohne soziale Bindungen«, ihrer Entwurzelung und ihrem Außenseitertum vor allem in Deutschland, wo – anders als in Frankreich, Spanien und Italien – die libertäre Bewegung nicht sozial organisiert war und über keine Massenbasis verfügte.

Es ist die Gesamtheit der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Faktoren, die es möglich machte, daß in einem ganz bestimmten historischen Moment und inmitten einer ganz bestimmten Generation jüdischer Intellektueller der Zusammenhang zwischen jüdischem Messianismus und libertärer Utopie dynamisch wurde und sich in eine Beziehung der Wahlverwandtschaft verwandelte. Es ist schwierig festzustellen, welches das erste oder entscheidende Element gewesen ist. Wesentlich ist, daß sie sich wechselseitig befruchtet, bestärkt und stimuliert haben. In diesem spezifischen Zusammenhang entsteht das komplexe Netz von Verbindungslinien zwischen romantischem Antikapitalismus, Renaissance der jüdischen Religion, Messianismus, antibürgerlicher und antietatistischer kultureller Revolte, revolutionärer Utopie, Anarchismus und Sozialismus. Diesem sozialen und geschichtlichen Prozeß, der sich seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts entwickelt, gilt es nun, das konkrete politische Zusammentreffen bestimmter Umstände innerhalb einer Epoche hinzuzufügen.

Der Aufschwung der revolutionären Bewegungen im Europa dieser Zeit läßt sich innerhalb der Geschichte der Neuzeit mit nichts Ähnlichem vergleichen. Er beginnt mit der russischen Revolution im Jahre 1905 und endet mit dem definitiven Scheitern der deutschen Revolution im Jahre 1923. Es ist kein Zufall, wenn die wichtigsten Werke, in denen sich die Wahlverwandtschaft zwischen Messianismus und Utopie manifestiert, in diesem Zeitraum entstehen.

So stammen »Die Revolution« von Landauer aus dem Jahre 1907, »Geschichte und Klassenbewußtsein« von Georg Lukács und die zweite Ausgabe von Ernst Blochs »Geist der Utopie« aus dem Jahre 1923. Ebensowenig kann es Zufall sein, wenn die Schriften, in denen die Wahlverwandtschaft am intensivsten und am tiefsten empfunden wird und sich Messianismus und libertäre Utopie am radikalsten und am explosivsten äußern, in den Jahren 1917 bis 1921 entstehen, in denen die revolutionäre Welle ihren Höhepunkt erreicht. In diesem Zeitabschnitt zum Beispiel wurde »Der Heilige Weg« von Buber veröffentlicht, das Vorwort zur Neuauflage von »Aufruf zum Sozialismus« von Landauer, »Die Kritik der Gewalt« von Benjamin, »Der Geist der Utopie« von Bloch, »Der Bolschewismus als moralisches Problem« von Lukács und die beiden großartigen Theaterstücke von Ernst Toller, »Die Wandlung« und »Masse Mensch«. Das soll nicht heißen, daß diese Problematik nach 1923 nicht weiterbestand, wenn auch die äußere Form, ihr Charakter und ihre Intensität eine andere waren. In der Zeit der Katastrophe zwischen 1940 und 1945 kommt sie wieder zum Vorschein. In diesem Zeitraum entstehen Walter Benjamins Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, Martin Bubers »Utopie und Sozialismus« und wesentliche Teile von »Das Prinzip Hoffnung« von Ernst Bloch.

Bleibt noch zu klären, warum dieser »metaphysische Anarchismus« oder revolutionäre, romantisch inspirierte Messianismus fast ausschließlich auf Mitteleuropa beschränkt blieb.

Der Typ des revolutionären Juden ist in der politischen und kulturellen Szene Westeuropas praktisch nicht existent. Eine Ausnahme bilden hier die Juden, die, aus Osteuropa stammend, in England und auch in den Vereinigten Staaten zu ausgebeuteten Proletariern wurden. Aus dieser Gesellschaftsschicht kommen gegen Ende des 19. Jahrhunderts die militanten Anarchisten und Sozialisten. Die Juden aus altem westeuropäischem Stamm hingegen sind national und kulturell völlig assimiliert und soziale und politische Konformisten. Die Intellektuellen aus diesen Kreisen identifizieren sich gänzlich mit dem vorherrschenden bürgerlichen Liberalismus. Die Quellen für ihre Integration liegen in den bürgerlichen Revolutionen, die in Holland seit dem 16. Jahrhundert, in England seit dem 17. Jahrhundert und in Frankreich seit 1789 zur Emanzipation der Juden führten und deren wirtschaftliche, soziale und politische Integration in die kapitalistische Gesellschaft möglich machten. Wenn der revolutionäre Jude in Mittel- und Osteuropa auftaucht, so ist das vor allem zurückzuführen auf die Verzögerung oder das Scheitern der bürgerlichen Revolution in diesem Teil des Kontinents und auf die Verzögerung der kapitalistischen Entwicklung. Deren Resultat ist der begrenzte Charakter der jüdischen Emanzipation und Assimilation und die Paria-Situation der jüdischen Bevölkerung.

Der romantische, revolutionäre Messianismus hat die jüdische Intelligenz des Westens kalt gelassen. Die polemischen, rationalistisch-liberal geprägten Schriften, die heftig Stellung beziehen gegen diesen Typ von religiöser Utopie, stammen von jüdischen Intellektuellen englischer Muttersprache, zum Beispiel das Buch des 1915 in London geborenen Norman Cohn: The Pursuit of the Millenium. Revolutionary millenarians and mystical anarchists of the Middle Ages (London, Secker & Warburg, 1957) oder das eines ehemaligen Beamten des Foreign Office, Jakob Talmon: Political Messianism. The Romantic Phase (London, Secker & Warburg, 1960).

Den einzigen Riß im System von Assimilation und Integration im Westen bildet vor dem Zweiten Weltkrieg die Dreyfus-Affäre, aber dieses traumatische Ereignis vermochte den Glauben des französischen Judentums an die Werte des Bürgertums, der Republik und des Vaterlandes nicht zu erschüttern. Dennoch hat die Dreyfus-Affäre das Auftauchen einer revolutionären Figur ermöglicht, die den libertären Messianismus in außergewöhnlicher Weise markiert: Bernard Lazare. Er ist wahrscheinlich der einzige jüdische Denker im Westen, der mit Buber oder Landauer verglichen werden kann. Aber er war notwendigerweise dazu verurteilt, isoliert zu bleiben, verachtet und mißverstanden von der großen Mehrheit der französischen Juden.26

In Osteuropa sieht die Situation jedoch ganz anders aus, vor allem im russischen Reich, das vor 1918 auch Polen und die baltischen Staaten umfaßte. Die Teilnahme der Juden an den revolutionären Bewegungen ist hier viel massiver als in Mitteleuropa und im Gegensatz zu Deutschland blieb sie nicht auf die Intellektuellen beschränkt. Das ganze jüdische Proletariat organisiert sich im Bund oder hält es mit den beiden Fraktionen der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands): den Bolschewiki und den Menschewiki. Dies ist leicht zu erklären durch den höheren Grad an Unterdrückung, die andersartige soziale Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung, die zum größten Teil aus pauperisierten Arbeitern besteht, und die Gewalttätigkeit des überall dominierenden Antisemitismus. Mit einem Wort, die Paria-Situation der Juden im Zarenreich ist unvergleichlich brutaler als in Mitteleuropa. In allen revolutionären Bewegungen Osteuropas findet man eine Vielzahl jüdischer Intellektueller unterschiedlichster Couleur.

Als Sozialisten, Marxisten oder Anarchisten besetzen sie leitende Positionen und üben Einfluß als Organisatoren, Ideologen und Theoretiker aus. Nach Leopold H. Haimson stand die herausragende Rolle der russischen Juden innerhalb der revolutionären Intelligenz in keinem Verhältnis zu ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung.27

Die bekanntesten von ihnen bilden nur die sichtbare Spitze des Eisbergs: Leo D. Trotzki (Bronstein), Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Julius Martow (Zederbaum), Raphael Abramowitsch, Leo Deutsch, Pawel Axelrod, Mark Liber (Goldman), Fjodor Dan (Gurwitsch), Leo Kamenew (Rosenfeld), Karl Radek (Sobelsohn), Gregori Sinowjew (Radomylski), Jakow Sverdlow, David Rjasanow (Goldendach), Maxim Litwinow (Wallach), Adolph Joffe, Michail Borodin (Grusenberg), Adolf Warsawski, Isaac Deutscher usw. Nicht zu sprechen von den sozialistischen jüdischen Organisationen wie dem Bund und den linken Zionisten sowie den Juden, die, aus dem Osten stammend, in der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland gewirkt haben. Außer Rosa Luxemburg und Leo Jogiches sind hier Parvus (Israel Helphand), Arkadi Maslow (Isaak Tschereminski), August Kleine (Samuel Haifiz) und andere zu verzeichnen, in England gehören Aron Lieberman und Lazar Goldenberg zu den aktiven Revolutionären, in den Vereinigten Staaten finden wir Emma Goldman, Alexander Berkman und S. Yanofsky.

Diese revolutionären Führer und Ideologen haben ganz verschiedene, wenn nicht entgegengesetzte politische Ansichten. Ihre Beziehung zum Judentum reicht von totaler und bewußter Assimilation im Namen des Internationalismus bis zu jüdischem Nationalbewußtsein und stolzer Identifikation mit der jüdischen Kultur. Dennoch haben alle eines gemeinsam: Die Ablehnung des Judentums als Religion. Ihre Weltanschauung ist immer rationalistisch, atheistisch, säkular, sie sind Aufklärer und Materialisten. Die Überlieferungen der jüdischen Religion, die Mystik der Kabbala, der Chassidismus, der Messianismus interessieren sie nicht. In ihren Augen sind das nur obskurantistische Überbleibsel der Vergangenheit, reaktionäre, mittelalterliche Ideologien, derer man sich so schnell wie möglich entledigen sollte, um der Wissenschaft und dem Fortschritt zu dienen. Wenn ein jiddischer Schriftsteller mit revolutionärer Gesinnung wie Moische Kulback mit einer Mischung aus Faszination, Angewidertsein und Nostalgie über den Messianismus schreibt, so geschieht dies vor allem, um die traurige Rolle eines falschen Messias wie Jakob Frank zu beleuchten, der seine Anhänger ins Verderben stürzte.28 Eine aus Rußland stammende Anarchistin wie Emma Goldman ist weit entfernt von der mystischen Spiritualität eines Gustav Landauer. Im Denkgebäude ihres libertären Universalismus ist kein Platz für jüdisches Nationalbewußtsein, und die Religion – sei sie nun jüdisch oder christlich – gehört in den Bereich des Aberglaubens. Der erste Besuch in der Synagoge hinterläßt bestenfalls – wie beim Bundisten Medem – einen tiefen Eindruck wegen der großen Schönheit, die den leidenschaftlichen Gefühlen der Menge innewohnt. Der religiöse Sinn des Kultes bleibt ihm fremd.29 Die Begeisterung der jüdischen revolutionären Intellektuellen für den Atheismus und die Wissenschaften zeigt am besten diese Episode: Leo Jogiches, der die ersten Zirkel für jüdische Arbeiter in Wilna organisiert, beginnt seine Aktivitäten als politischer Erzieher mit einer Vorlesung über … Anatomie und bringt seinen Schülern ein echtes Skelett mit …30

Viele Historiker glauben, die Überzeugungen dieser russischen jüdischen Intellektuellen seien säkularisierter Ausdruck des Messianismus, materialistische und atheistische Manifestation von geistigen Strukturen, die das Erbe einer mehrere tausend Jahre alten religiösen Tradition sind. Dies ist eine Hypothese, die sich in mehreren Fällen als richtig herausstellen kann. Aber für die meisten der erwähnten Marxisten und Anarchisten ist sie unwahrscheinlich, denn nach ihrer Erziehung und ihrem sozialen und familiären Milieu waren sie so assimiliert, so wenig religiös, daß man eine konkrete kulturelle Verbindung mit dem messianischen Erbe vergeblich suchen wird. Jedenfalls enthält ihr Denken im Gegensatz zu dem vieler jüdischer Revolutionäre in Mitteleuropa nicht den geringsten Hinweis auf die Religion und nicht die geringste sichtbare Spur einer messianischen, religiösen Dimension.

Wie läßt sich dieser Unterschied zwischen der Weltanschauung der jüdischen Intelligenz Mitteleuropas und der des Zarenreichs erklären? Die Mehrzahl der jüdischen revolutionären Intellektuellen des Ostens stammt aus aufgeklärten, assimilierten, in religiösen Belangen indifferenten Familien. Einige von ihnen sind in den drei Städten geboren oder aufgewachsen, die die Bastionen der Haskala in Rußland bildeten: Odessa (Martow, Trotzki, Parvus), Wilna (Jogiches), Zamosc Rosa Luxemburg). Vielleicht sollten wir uns zuerst mit den Unterschieden zwischen der Haskala in Deutschland und in Rußland beschäftigen. Unter Haskala versteht man die Öffnung der jüdischen Religion für die rationalistische Philosophie der Aufklärung, wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin von dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn eingeleitet wurde. Rachel Ertel zeigt in ihrer Untersuchung über das Schtetl, daß die Haskala und die Emanzipation der Juden »in einem westlichen Europa, das sich in Nationalstaaten konstituierte, über eine Konfessionalisierung der jüdischen Religion erfolgte, die diese ihrer nationalen Eigenschaften entkleidete.« Im Gegensatz dazu trug »die Haskala in Osteuropa einen zutiefst nationalen Charakter. Wenn diese Bewegung im Westen die Konfessionalisierung erstrebte, so wollte sie im Osten die Säkularisierung.«31

Dieser nationale Inhalt der Emanzipation ist sowohl Resultat der Natur des zaristischen Staates – multinational, autoritär und antisemitisch – als auch der Situation der jüdischen Bevölkerung. Ihre Lebensbedingungen weisen alle Merkmale einer typischen Paria-Situation auf: Absonderung, Diskriminierung, Verfolgungen und Pogrome, territoriale Konzentration im Ghetto und im Schtetl, gemeinsame Kultur und gemeinsame Sprache, das Jiddische.

Natürlich haben viele jüdische marxistische Intellektuelle eine Bezugnahme auf jüdische Nationalität und Kultur strikt abgelehnt. Beim Bund und den sozialistischen Zionisten sah das anders aus. Es genügt, sich an die berühmte Antwort Trotzkis auf die Anfrage des Bundisten Medem beim Kongreß der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahre 1903 zu erinnern: »Ich gehe davon aus, daß Sie sich entweder als Russe oder als Jude betrachten?« »Nein«, antwortete Trotzki, »Sie irren sich. Ich bin einzig und allein Sozialdemokrat …«

Die jüdische Identität, ob sie nun akzepiert oder abgelehnt wird, ist zumindest seit den schrecklichen Pogromen im Jahre 1881 eine nationale und kulturelle Identität, nicht mehr eine ausschließlich religiöse. Im Gegensatz zu Deutschland gibt es im Zarenreich sehr wenig Juden, die sich als »russische Staatsbürger jüdischen Glaubens« betrachten.

Um die atheistische und weltliche Orientierung der revolutionären Intelligenz Osteuropas besser zu verstehen, sollte man ebenfalls den im eigentlichen Sinne religiösen Aspekt der Haskala und seine Konsequenzen etwas genauer untersuchen. In Deutschland ist es der Haskala offensichtlich gelungen, die jüdische Religion »aufzuklären«, zu modernisieren, zu rationalisieren und zu »germanisieren«. Die jüdische Reformbewegung, angeführt von dem Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874) und die »historische Schule«, eine etwas gemäßigtere Strömung des Rabbiners Zacharias Frankel (1801–1875), gewannen in den religiösen Institutionen der jüdischen Gemeinden die Oberhand. Sogar die neoorthodoxe Minderheit unter Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) akzeptierte bestimmte Reformen und Wertvorstellungen der deutschen Säkularisierung.

Dies war in Rußland nicht der Fall: mit Ausnahme einer kleinen Schicht der jüdischen Großbourgeoisie hatten die reformierten Synagogen wenig Anhänger. Die Angriffe, die die Gruppe der Maskilim, der Aufgeklärten, gegen die orthodoxen Dogmen führte, hatte keine andere Konsequenz, als die Traditionalisten in ihrer sturen Haltung zu bestärken. »Vor der Haskala … war das rabbinische Judentum weltzugewandter, toleranter, sensibler für soziale Veränderung. Nach der Haskala wurde der rabbinische Judaismus konservativ, unbeweglich und repressiv; der Chassidismus ist ihm auf diesem Weg gefolgt.«32

Die jüdische Religion wurde in Deutschland und bis zu einem gewissen Grad in ganz Mitteleuropa reformiert. Sie erwies sich als geschmeidiger und aufgeschlossener solchen äußeren Einflüssen gegenüber, die vom Neukantianismus (Hermann Cohen) oder von der Neuromantik (Martin Buber) an sie herangetragen wurden. Demgegenüber blieb die Welt der religiösen Traditionen im östlichen Teil Europas weitgehend intakt und verschlossen. In unbeugsamer Strenge wurde jede Bereicherung durch eine andere Kultur zurückgewiesen. Dieser quietistische Messianismus des orthodoxen, rabbinischen oder chassidischen Milieus, der der politischen Sphäre nur Gleichgültigkeit entgegenbrachte, konnte zu einer weltlichen Utopie keinerlei Verbindung aufnehmen und lehnte sie wie einen Fremdkörper ab. Man mußte sich erst von dieser Art von Religion emanzipieren, atheistisch werden und »aufgeklärt«, um sich Zugang zu verschaffen zur »veräußerlichten« Welt revolutionärer Ideen. Demnach ist es nicht erstaunlich, daß sich diese vor allem innerhalb jüdischer Ansiedlungsgebiete entwickelten, die von jeder religiösen Praxis weit entfernt waren wie zum Beispiel Odessa, das die Orthodoxen als wahre Fischerspelunke betrachteten.

Ein anderer Aspekt, der berücksichtigt werden muß, ist die ungeheure Macht und Autorität der orthodoxen Rabbiner und der chassidischen Zaddikim innerhalb der traditionalistischen Gemeinden des Ostens, die in Mitteleuropa nichts Gleichwertiges kennt. Daraus erwächst ein offener Konflikt zwischen der rebellischen Jugend, die dem Bund angehörte, sozialistisch oder anarchistisch war, und dem religiösen Establishment. »Da sie sich bedroht fühlten, reagieren die traditionellen Kreise oft mit offener oder heimtückischer Gewalttätigkeit, versuchen, ihre Sache mit allen Mitteln zu verteidigen, üben moralischen Druck und intellektuellen Terror aus … Vom kulturellen Erbe der religiösen Traditionen ist die Jugend durch und durch geprägt … Aber sie will frei werden von den Gesetzen, will die Fesseln nicht mehr tragen. Sie wirft es gewaltsam ab und setzt diesem Erbe ihre eigene Kultur entgegen. Es ist ihr innerer Feind.«33

In diesem Zusammenhang entwickelt sich bei den progressiven jüdischen Intellektuellen ein heftiger »Antiklerikalismus«, von dem polemische Artikel, autobiographische Werke und Romane unerschöpflich Zeugnis ablegen.

Da er direkt mit einem Traditionalismus konservativster und autoritärster Prägung konfrontiert wird, kann der junge rebellische Jude aus Rußland oder Polen nicht diesen »romantisieren«, wie das in Deutschland oder Österreich möglich wäre. Diese Distanz, die eine im Benjaminschen Sinne auratische Wahrnehmung der Religion begünstigt, ist in Osteuropa nicht vorhanden.

Isaac Deutscher, der in einem Cheder (einer religiösen Schule für Kinder) im polnischen Schtetl Chrzanów erzogen und von seiner Familie zum Rabbiner der chassidischen Sekte des Zaddik von Ger ausersehen worden war, hat in seiner Jugend bereits mit der Religion gebrochen. Er wurde kommunistischer Führer in Polen und später der Biograph Trotzkis. Seine Einstellung zur Religion stellt er derjenigen der deutschen Juden gegenüber: »Wir kannten den Talmud und waren durchtränkt vom Chassidismus. Seine Idealisierungen empfanden wir nurmehr als Sand, der uns in die Augen gestreut worden war. Wir waren in der jüdischen Vergangenheit aufgewachsen. Wir lebten mit dem elften, dem dreizehnten und dem sechzehnten Jahrhundert jüdischer Geschichte Tür an Tür, ja, unter einem Dach. Dem wollten wir entfliehen, um im zwanzigsten Jahrhundert zu leben. Durch die ganze dicke Lack- und Goldschicht von Romantikern wie Martin Buber hindurch sahen und rochen wir den Obskurantismus unserer archaischen Religion und eine Lebensweise, die sich seit dem Mittelalter nicht verändert hatte. Für jemanden wie mich erscheint jedenfalls die modische Sehnsucht der westlichen Juden nach einer Rückkehr ins sechzehnte Jahrhundert, durch die man seine jüdische kulturelle Identität wiederzugewinnen oder neu zu entwickeln hofft, irreal und kafkaesk.«34

Dieses Zitat macht die Motive der osteuropäischen revolutionären Intelligenz deutlich und zeigt, daß sich aus ihrer Mitte niemals eine geistige Strömung hätte entwickeln können, die jener in Mitteleuropa vergleichbar war.

Der einzige jüdische Intellektuelle des Zarenreichs, dem Religion und Spiritualität am Herzen liegen, konvertiert zum orthodoxen Christentum: Nikolai Maximowitsch Minski (N. M. Vilenkin) engagiert sich in der mächtigen Bewegung religiöser und revolutionärer Renaissance, die sich in St. Petersburg um die Jahrhundertwende um D. S. Mereschkowski, Zinaida Gippus, Nikolai Berdjajew und S. N. Bulgakow entwickelt hat. (Die »Konstrukteure Gottes« der bolschewistischen Partei, Bogdanow und Lunatscharski, sind im Zusammenhang mit dieser religiösen Renaissance ebenfalls von Bedeutung.)

Als Mitglied der Religiös-Philosophischen Vereinigung in St. Petersburg und der von Gorki herausgegebenen sozialistischen Revue Nowaja Shisn (Neues Leben) wird Minski stark beeinflußt vom Glaubensverständnis der russisch-orthodoxen Christen und scheint jede Verbindung zum Judentum abgebrochen zu haben.35

Gibt es bei den revolutionären Juden des Ostens keinerlei Ausnahme von der Regel – wie Bernard Lazare in Westeuropa? Wahrscheinlich schon, aber soweit meine Forschungen bisher gediehen sind, habe ich sie noch nicht gefunden …36

1Vgl. Pierre Guillen: L’Allemagne de 1848 à nos jours, Paris 1970, S. 58ff.

2Zum Begriff, seiner soziologischen Bedeutung und seiner verschiedenen Erscheinungsformen verweise ich auf meine Publikationen: Marxisme et Romantisme révolutionnaire. Essais sur Lukács et Rosa Luxemburg, Paris, Ed. du Sycomore, 1979; Pour une sociologie des intellectuels révolutionnaires, Paris, PUF, 1976.

3Vgl. Fritz Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983, S. 12f.

4Vgl. Gershom Scholem: »Zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland 1900–1933«, Judaica IV, Frankfurt am Main 1984, S. 232.

5Vgl. Walther Rathenau: Ein preussischer Europäer. Briefe, (Hg: M. von Eynern), Berlin 1955, S. 146.

6Vgl. Gershom Scholem: »Zur Sozialpsychologie …«, S. 239.

7Vgl. Franz Rosenzweig: Briefe, Berlin 1935, S. 474.

8Vgl. Moritz Goldstein: Deutsch-jüdischer Parnaß, Der Kunstwart (Hg: Ferdinand Avenarius), 25. Jahrgang, 2. Viertel, Erstes Märzheft 1912, Heft 11, S. 286, 291.

9Vgl. Max Weber: Grundriß der Sozialökonomik, III. Abt.: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1947, S. 282.

10Vgl. Hannah Arendt: The Jew as Pariah: Jewish Identity and Politics in the Modern Age, New York 1978, S. 68.

11Vgl. Friedrich Paulsen: Die deutschen Universitäten und das Universitätsstudium, Berlin 1902, S. 149f.

12Vgl. Ismar Elbogen: Die Geschichte der Juden in Deutschland, Berlin 1935, S. 302f.

13Vgl. Ismar Elbogen: op. cit., S. 303 und Erich Rosenthal: Trends of the Jewish Population in Germany (1910–1939), Jewish Social Studies, VI, Juni 1944, S. 257.

14Vgl. das noch unveröffentlichte Manuskript des ungarischen Wissenschaftlers Zador Tordai: Wie kann man in Europa Jude sein? Walter Benjamin, Budapest 1979, S. 35, 48.

15Siehe die Analyse dieses Phänomens in dem vor kurzem veröffentlichten Werk von Frederic Grunfeld über die deutsch-jüdische Kultur: »But parents and grand parents were almost always unfathomable to the German – or Austrian – Jewish intelligentsia: the gulf between father Mahler’s small-town grog shop and his son’s cosmic Resurrection Symphony hardly seemed bridgeable in a single generation … The shoe-factory generation regularly produced and nurtured a brood of scribes, artists, intellectuals. Else Lasker-Schüler was the daughter of an investment banker … Walter Benjamin of an antique dealer … Stefan Zweig of a textile manufacturer, Franz Kafka of a haberdashery wholesaler … Often this pattern involved the sons in a double revolt – against the father’s Jewish-bourgeois values, and against the system of obedience training of German society as a whole.« (Frederic V. Grunfeld: Prophets without Honour. A Background to Freud, Kafka, Einstein and Their World, New York, McGraw-Hill, 1980, S. 19, 28f.)

16Leo Löwenthal: Wir haben nie im Leben diesen Ruhm erwartet. In: Mathias Greffrath (Hg): Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 199.

17Vgl. Karl Mannheim: Das Problem der Generationen, Wissenssoziologie, Neuwied 1964, S. 542.

18Wir verwenden den Neologismus »An-Akkulturation«, um die Umkehrung des Vorgangs der Akkulturation zu bezeichnen, die Rückkehr einer Gruppe oder eines Individuums zu seiner ursprünglichen Kultur.

19Vgl. Martin Buber: Über Jakob Böhme, Wiener Rundschau, Band V, Nr. 12, 1901.

20Vgl. Hans-Helmuth Knütter: Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik (1918–1933), Düsseldorf 1971, S. 37: »… daß ein großer Teil der linken Intellektuellen Juden, fast alle linken Juden Intellektuelle sind.«

21Vgl. Hannah Arendt: The Jew as Pariah, S.144. Zum Gegensatz zwischen »Parvenu« und »Rebell« siehe Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1959, S. 188–200.

22Vgl. Elisabeth Lenk: Indiscretions of the Literary Beast: Pariah Consciousness of Women Writers since Romanticism. New German Critique, Nr. 27, Frühling 1982, S. 106f, 113f.

23Vgl. Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, Stuttgart 1957, S. 254. Das Argument von Michels ist folgendes: »In weiten Kreisen des deutschen Volkes existiert noch Judenhaß und Judenhatz, lebt noch das abstruse Gefühl der Judenverachtung. In der Karriere sah sich bis vor kurzem der Jude benachteiligt, vom Richter- und Offiziersstand, von der Regierungslaufbahn so gut wie ausgeschlossen. Dazu gärt im Judentum überall noch ein eingewurzeltes Gefühl sittlicher Empörung über das seinem Volksstamm zugefügte Unrecht, das sich, bei dem idealistischen Fonds, der diese von Extremen beherrschte Rasse beseelt, leichter als beim Germanentum in die reine Empfindung des Abscheus vor allem Unrecht umsetzt und zur Höhe eines revolutionären Dranges nach großangelegter Weltverbesserung erhebt …«, ebd.

24Vgl. Victor Karady und Istvan Kameny: Les Juifs dans la structure des classes en Hongrie, Actes de la Recherche en Sciences sociales, Nr. 22, Juni 1978, S. 59.

25Vgl. Walter Lacqueur: Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977, S. 99.

26Natürlich findet man (atheistische) jüdische Marxisten in den Rängen der Parti communiste français und eine Generation später auch bei den »linksradikalen« Strömungen der 60er Jahre. Fast immer handelt es sich um Juden aus Ost- oder Mitteleuropa oder um deren Nachkommen.

27Vgl. Léopold H. Haimson: The Russian Marxists and the Origins of Bolschevism, Boston 1955, S. 60.

28Vgl. die Einleitung von Rachel Ertel zu Moïse Kulback: Lundi, Lausanne 1982. Diese Haltung findet sich sehr viel später wieder bei Isaac Bashevis Singer: Satan in Goraj aus dem Jahre 1958. (Reinbek bei Hamburg 1969) Er beschreibt die Schrecken in einem polnischen Schtetl, die eine Folge des fanatischen Deliriums von Schülern des Sabbatai Zwi waren.

29Vgl. Vladimir Medem: The Youth of a Bundist. In: Lucy S. Dawidowicz: The Golden Tradition. Jewish Life and Thought in Eastern Europe, Boston 1967, S. 432.

30Vgl. Ezra Mendelsohn: Worker Opposition in the Russian Jewish Socialist Movement, from the 1890’s to 1903, International Review of History, Band X, Teil 2, 1965, S. 270.

31Vgl. Rachel Ertel: Le Shtetl. La bourgade juive de Pologne, Paris 1982, S. 148, 151.

32Vgl. Lucy S. Dawidowicz: Introduction: The World of Eastern European Jewry, The Golden Tradition, S. 81.

33Vgl. Rachel Ertel: Le Shtetl, S. 292f.

34Vgl. Isaac Deutscher: Der nichtjüdische Jude. In ders.: Die ungelöste Judenfrage, Berlin 1977, S. 24f.

35Vgl. die bemerkenswerte Arbeit von Jutta Scherrer: Die Petersburger Religiös-Philosophischen Vereinigungen, Wiesbaden 1973, S. 44, 272.

36Man könnte Eugen Leviné als Ausnahme betrachten, aber er ist zu sehr von der deutschen Kultur durchdrungen – die elterliche deutsche Erziehung, das Studium in Heidelberg etc. –, als daß er als wirklich repräsentativ für die russische jüdische Intelligenz betrachtet werden könnte.

Erlösung und Utopie

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