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Vorwort zur Neuausgabe Erlösung und Utopie. Das libertäre Judentum in Mitteleuropa

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Dieses Buch wurde erstmals 1988 von der Presses Universitaires de France veröffentlicht. Es wurde ins Englische (mit vor kurzem als Taschenbuch erfolgter Neuausgabe des Verlags Verso, London), ins Deutsche, Spanische,

Italienische, Schwedische, Griechische und Portugiesische übersetzt.

Seitdem schrieb ich verschiedene weitere Bücher, in denen ich diese Thematik durchdachte und einige der in diesem Buch erwähnten Autoren durcharbeitete: Walter Benjamin. Avis d’Incendie (PUF, Paris, 2001), Franz Kafka, Rêveur insoumis (Stock, Paris, 2008), Juifs Heterodoxes. Romantisme, Messianisme, Utopie (Ed. De l’Eclat, 2010), La revolution est le frein d’urgence. Essais sur Walter Benjamin (Ed. De l’Eclat, 2019). Diese Arbeiten bilden ein Ganzes, das die Umrisse einer andersdenkenden, romantisch-revolutionären, utopischen, messianischen und libertären jüdischen Kultur zu zeichnen versucht. Eine melancholische Konstellation von Sternen, die einer vom anderen sehr unterschieden sind, aber das kulturelle Firmament des 20. Jahrhunderts erhellen.

Wie man aus dem Vorwort zur ersten Ausgabe ersehen kann, war Erlösung und Utopie ein Werk, in das ich viel von meiner Person einbrachte, obwohl der Text die Form einer akademischen Untersuchung nach allen Regeln dieses Genres aufweist. Ich meine, dass die beiden Dinge nicht widersprüchlich sind; aber nicht alle teilen diese Meinung. Emile Durkheim schrieb, der Soziologe müsse, wenn er eine Forschung beginnt, seine Meinungen und „Vorurteile“ beiseitelassen. Ich tat mehr oder minder das Gegenteil.

Seit damals wurden sehr viele Arbeiten über die verschiedenen in diesem Buch behandelten Denker veröffentlicht, aber es gibt wenige Studien, die diese Autoren als Teile einer in sich geschlossenen Ganzheit zu analysieren und zu vergleichen versuchen. Einer der interessantesten Versuche ist das Buch von Pierre Bouretz, Témoins du futur. Philosophie et messianisme (Gallimard, Paris, 2003), ein aufwendiges Werk (1246 Seiten) auf hohem Niveau, welches das Denken von Hermann Cohen, Franz Rosenzweig, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Martin Buber, Ernst Bloch, Leo Strauss, Hans Jonas und Emmanuel Levinas behandelt. Jedes Kapitel enthält eine ausgezeichnete Analyse des untersuchten Autors, aber das Ganze weist keine größere Kontinuität auf. In einer kurzen Einführung von 13 Seiten versucht Bouretz zu skizzieren, was diesen Gestalten gemeinsam ist, kommt aber dabei nicht sehr weit: Ihre philosophische und politische Heterogenität ist zu groß, um eine wirksame Vision des Ganzen zu erlauben. Sicher, sie waren alle „Zeugen der Zukunft in kargen Zeiten”; sie alle „interessierten sich für Hegel, Nietzsche oder Heidegger, ohne zu Hegelianern, Nietzscheanern oder Heideggerianern zu werden”, aber das genügt nicht, um einen zusammenhängenden kulturellen Raum zu definieren: Was gibt es an Gemeinsamem zwischen den revolutionären Utopien Benjamins oder Blochs und dem konservativen Traditionalismus von Leo Strauss?

Die in Erlösung und Utopie behandelten Denker gehören der Vergangenheit an: Aber das heißt nicht, dass sie nicht noch heute Interesse weckten. Walter Benjamin zum Beispiel, um nur einen von ihnen zu nennen, findet heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, eine weit größere Resonanz als in seiner Zeit, in der er nur einem kleinen Zirkel von Freunden und zufälligen Lesern bekannt war. Die Faszination, die er auf junge Generationen von Intellektuellen, Studierenden oder Militanten in Europa, den Vereinigten Staaten und Lateinamerika ausübt, ist beeindruckend. In Deutschland gibt es eine umfangreiche und qualitativ bedeutende Literatur zu seinem Werk, das Gegenstand von Debatten, Kolloquien und Seminaren gewesen ist, alle Fachgebiete der Universität mobilisiert und ein Publikum von jungen Leuten anzieht, die versuchen, sich seine Ideen anzueignen, um die Realität zu verstehen und zu verändern.

Gibt es denn in der jüdischen Kultur, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelte, vergleichbare Gestalten mit denen der am Ende des 19. Jahrhunderts geborenen Generation? Im Mai 1968, in Frankreich, spielte eine ganze Generation junger jüdischer Studenten beim Aufbruch mit halb aufständischem Charakter in jenem Moment eine zentrale Rolle: unter ihnen ein Anarchist, Daniel Cohn-Bendit, und ein Marxist, Daniel Bensaïd, die die Bewegung des 22. März bilden sollten, welche die erste, den Frühling ankündigende Schwalbe sein wird. Unter den Denkern der vorherigen Generation ist Herbert Marcuse derjenige, der die direkteste Beziehung mit den rebellischen Bewegungen der Jugend in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa einging. Obwohl ein Teil seines Werks als Ausdruck einer romantisch-revolutionären Vision interpretiert werden kann, sind das Judentum im Allgemeinen und der jüdische Messianismus im Besonderen keine konstitutiven Elemente seines Denkens.

Noch heute finden wir viele radikale jüdische Persönlichkeiten, eine grundlegende soziale Veränderung herbeisehnende Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft: Es reicht, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten an Namen wie Noam Chomsky, Bernie Sanders, Noami Klein, Judith Butler zu erinnern. In Frankreich war Stéphane Hessel, der in seiner Jugend Walter Benjamin kennen lernte, Autor einer Broschüre, Indignez-vous! (2010), die in zig Sprachen übersetzt und in Millionen von Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet wurde, und die letztlich in direkter Weise zu der Bewegung der „Empörten” in Spanien, Griechenland, den Vereinigten Staaten usw. beitrug. Aber zwischen diesen Persönlichkeiten – und vielen weiteren, die erwähnt werden könnten – gibt es keine gemeinsame Kultur, die auch nur entfernt der ähnelte, die wir im deutschen Judentum des Beginns des 20. Jahrhunderts zu identifizieren versuchen.

Dasselbe lässt sich von den Bewegungen mit libertärer Inspiration in der gegenwärtigen Welt auch jenseits der jüdischen Gemeinschaften sagen: Erfahrungen wie die der Zapatista in Mexiko oder der revolutionären Kurden in Rojava (im Norden Syriens) sind sehr wichtig und wecken in planetarischem Ausmaß viel Sympathie. Einer der wesentlichsten Ideengeber des Versuchs, eine nichtstaatliche Demokratische Konföderation in Kurdistan ins Leben zu rufen, ist der amerikanische Anarchist Murray Bookchin, Sohn von Emigranten russischer Juden. Sollte Bookchin tatsächlich etwas mit Gustav Landauer und anderen deutschen libertären Juden der Jahre 1905 bis 1945 gemein haben? Ich muss diese Frage offenlassen.

Das alles heißt nicht, dass man in dem weiten intellektuellen, kritischen und subversiven, melancholischen und utopischen Arsenal der jüdischen Kultur von Mitteleuropa des vergangenen Jahrhunderts nicht Ideen, Begriffe und „Wunschlandschaften” (Bloch) finden könnte, die für die heutigen Kämpfe Relevanz haben. Solange es Kämpfe und Anliegen gibt, die auf „eine radikale Idee der Freiheit” ausgerichtet sind – so Walter Benjamin im Blick auf den Surrealismus – wird dieses Erbe nicht vergessen sein.

Michael Löwy

Paris, Oktober 2020

Erlösung und Utopie

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