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KAPITEL 1 Zum Begriff der Wahlverwandtschaft
ОглавлениеHundert Jahre nach Auguste Comte verwendet die Soziologie immer noch die Terminologie der Physik und der Biologie. Wäre es nicht endlich an der Zeit, mit dieser positivistischen Tradition zu brechen und ein spirituelles und kulturelles Kapital in Anspruch zu nehmen, das reicher ist, sinnvoller, lebensnäher? Was spricht dagegen, das Fachvokabular der Sozialwissenschaften um die unerschöpfliche Ausdruckskraft des religiösen, mythologischen und literarischen Sprechens zu erweitern, nicht zu vergessen die Esoterik? Hat Max Weber den Begriff des Charisma nicht von der christlichen Theologie übernommen, hat Karl Mannheim seine »Konstellation« nicht der Astrologie entlehnt?
Die Arbeit ist eine Studie über die Wahlverwandtschaft. Der Ausdruck hat eine eigenartige Geschichte: Von der Alchimie geht er über zur Soziologie, wobei er bei der romantischen Literatur Zwischenstation macht. Seine Fürsprecher sind Albertus Magnus (13. Jahrhundert), Johann Wolfgang von Goethe und Max Weber … Wir wollen versuchen, sämtliche Bedeutungsschichten zu integrieren, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, und bezeichnen als »Wahlverwandtschaft« eine ganz besondere Art dialektischer Beziehung, die sich zwischen zwei sozialen oder kulturellen Konfigurationen ansiedelt und die auf eine direkte kausale Determinierung oder auf »Einfluß« im traditionellen Sinne des Wortes nicht zurückzuführen ist. Zugrunde liegt eine bestimmte strukturelle Analogie, von der eine Bewegung des Konvergierens, der gegenseitigen Anziehung und des aktiven Zusammenfließens ausgeht und die eine Vereinigung bewirkt, die zur Verschmelzung führen kann. Unserer Meinung nach dürfte es interessant sein, den Begriff zur Methode zu erheben, zu einem Instrument interdisziplinärer Forschung, das uns erlaubt, Verhältnisse zwischen ökonomischen, politischen, religiösen und kulturellen Phänomenen intensiver wahrzunehmen und zu beschreiben.
Um die unterschiedlichen Bedeutungsschichten des Begriffs zu erschließen, beginnen wir mit einem kurzen Abriß seiner Geschichte.
In der griechischen Antike taucht der Gedanke auf, die Bereitschaft der Körper, sich zu vereinigen, resultiere aus einer sichtbaren oder verborgenen Ähnlichkeit. Wir finden ihn vor allem in der Formulierung des Hippokrates: omoion erchetai pros to omoion (simile venit ad simile). Aber die Bezeichnung Affinität als Metapher der Alchimie findet sich erst im Mittelalter; die erste Quelle ist wahrscheinlich Albertus Magnus, nach dem sich der Schwefel mit den Metallen verbindet, weil er mit ihnen verwandt ist: Propter affinitatem naturae metalla adurit. In Deutschland greift den Gedanken Johannes Conradus Barchusen, ein berühmter Alchimist des 17. Jahrhunderts, auf, er spricht von reciprocam affinitatem1, desgleichen Boerhaave, ein Niederländer des 18. Jahrhunderts. In seinem Buch Elementa Chemiae (1724) erklärt er: Particulae solventes et solutae se affinitate suae naturae colligunt in corpora homogenea. Die Beobachtung des Verhaltens von Gold und Königswasser in einem Gefäß läßt ihn feststellen: »Warum sinkt das Gold, das achtzehnmal schwerer wiegt als Königswasser, nicht auf den Grund des Gefäßes? Seht ihr nicht deutlich, daß jedem Teilchen Gold und jedem Teilchen Königswasser eine Kraft innewohnt, die bewirkt, daß sie sich suchen, vereinigen und finden?« Diese Kraft ist die Affinität. Sie bewirkt die Verbindung der beiden heterogenen Körper in einer Vereinigung, die einer Ehe vergleichbar ist, einer noce chimique – alchimistische Hochzeit –, eher aus der Liebe geboren denn aus Haß: magis ex amore quam ex odio.2
Der Begriff attractiones electivae erscheint zum ersten Mal bei dem schwedischen Chemiker Torbern Olof Bergman. Seine Schrift De attractionibus electivis (Uppsala 1775) wird auf Französisch unter dem Titel Traité des affinités chimiques ou attractions électives (1788) veröffentlicht. Zur Terminologie erklärt Bergman: »Einige verwenden den Begriff Affinität für das, was wir Attraktion genannt haben. Ich werde im folgenden beide Begriffe gebrauchen, obwohl der erste, bildhaftere, für eine physikalische Untersuchung weniger geeignet erscheint.«
De Morveau, ein französischer Chemiker und Zeitgenosse Bergmans, betont in der Auseinandersetzung mit diesem, bei der Affinität handle es sich um einen besonderen Fall von Attraktion, bei der die Anziehungskraft besonders groß sei. Dank ihrer bildeten zwei oder mehrere Körper »ein Wesen mit neuen Eigenschaften, die ganz verschieden sind von denen, die diese Körper vor ihrer Verbindung besaßen«3.
In der deutschen Übersetzung des Buches von Bergman (Frankfurt am Main, Tabor Verlag, 1782–1790) wird attraction élective mit Wahlverwandtschaft wiedergegeben, was dem Französischen affinité élective entspricht.
Von dieser deutschen Version hat Goethe den Titel seines Romans Die Wahlverwandtschaften (1809) wahrscheinlich übernommen. Dort ist die Rede von einer wissenschaftlichen Untersuchung über chemische Vorgänge, die eine der handelnden Personen »etwa vor zehn Jahren« studiert hat. Mehrere Passagen widmen sich der Beschreibung des chemischen Vorgangs und wirken wie unmittelbare Auszüge aus dem Werk des schwedischen Gelehrten – vor allem die Untersuchung der Reaktion zwischen AB und CD, die sich neu verbinden zu AD und CB. Goethes Übertragung des chemischen Begriffs in den gesellschaftlichen Bereich der Spiritualität und der Gefühle war um so gewagter, als der Ausdruck seitens mehrerer Alchimisten (wie Boerhaave) mit sozialen und erotischen Vorstellungen bereits befrachtet war. Für Goethe liegt dann Wahlverwandtschaft vor, wenn zwei Wesen oder Elemente »einander suchen, sich anziehen, ergreifen … und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten.«4
Die Ähnlichkeit mit der Formulierung von Boerhaave (zwei Elemente die »sich suchen, vereinigen und finden«) ist verblüffend und wir können nicht ausschließen, daß Goethe auch das Werk des niederländischen Alchimisten kannte und daraus Anregungen bezog.
Seit Goethes Roman hat der Begriff sich im deutschen Sprachraum eingebürgert, er bezeichnet einen besonderen Typ von Seelenverwandtschaft. In Deutschland wird er auch seine dritte Metamorphose erfahren: Max Weber, dieser große Alchimist der Sozialwissenschaften, formt ihn um zu einem Konzept der Soziologie. Vom überlieferten Bedeutungszusammenhang übernimmt er bestimmte Konnotationen wie die der gegenseitigen Wahl, Anziehung und Verbindung, aber die Dimension des Neuen scheint zu verschwinden. Das Konzept der Wahlverwandtschaft – desgleichen das bedeutungsähnliche der Sinn-Affinitäten – taucht in Webers Schriften in drei präzisen Zusammenhängen auf.
Zuerst soll eine bestimmte Beziehung zwischen verschiedenen Erscheinungsformen der Religion charakterisiert werden. Zum Beispiel zwischen der Sendungs-Prophetie, bei welcher die Auserwählten sich als Werkzeug Gottes fühlen, und der Konzeption eines persönlichen, überweltlichen, zürnenden und mächtigen Gottes, besteht »eine tiefe Wahlverwandtschaft«.5
Des weiteren wird die Verbindung zwischen Klasseninteressen und verschiedenen Formen von Weltanschauung definiert. Nach Weber sind die Weltanschauungen autonom, aber die Entscheidung eines Individuums für diese oder jene hängt in hohem Maße von der Wahlverwandtschaft ab, die zwischen der Weltanschauung und seinen Klasseninteressen besteht.6
Schließlich wird die Beziehung zwischen religiösen Lehren und verschiedenen Formen der Wirtschaftsethik analysiert. In diesem Zusammenhang erscheint uns der Begriff am bedeutendsten. Als exemplarisch für seine Verwendung sei hier folgende Passage aus Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus angeführt: »Dabei kann nun angesichts des ungeheuren Gewirrs gegenseitiger Beeinflussungen zwischen den materiellen Unterlagen, den sozialen und politischen Organisationsformen und dem geistigen Gehalte der reformatorischen Kulturepochen nur so verfahren werden, daß zunächst untersucht wird, ob und in welchen Punkten bestimmte ›Wahlverwandtschaften‹ zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik erkennbar sind. Damit wird zugleich die Art und allgemeine Richtung, in welcher infolge solcher Wahlverwandtschaften die religiöse Bewegung auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte, nach Möglichkeit verdeutlicht.«7
Wir stellen fest, daß der Begriff das erste Mal in Anführungszeichen erscheint, als ob Weber sich entschuldigen wollte für die Verwendung einer romantischen und literarischen Metapher im Rahmen einer wissenschaftlichen Analyse. Aber im folgenden fallen die Anführungsstriche weg: das Wort ist zum Konzept geworden …
Es ist nicht verwunderlich, daß der Ausdruck im Zusammenhang der angelsächsischen positivistischen Rezeption Max Webers unverstanden blieb. Ein Beispiel, das ans Karikaturistische grenzt, liefert uns die englische Übersetzung der Protestantischen Ethik von Talcott Parsons, die um 1930 entstanden ist: In der oben zitierten Textpassage übersetzt er Wahlverwandtschaft einmal mit certain correlations, dann mit those relationships.8
Während Webers Begriff auf eine innere Beziehung zwischen den beiden Figuren verweist, die reich ist an Sinngehalt und Bedeutungen, verrät sie Parsons mit seiner Übersetzung, macht sie zu einer banalen Beziehung oder Wechselbeziehung, die äußerlich bleibt und sinnentleert. Man könnte nicht besser illustrieren, daß dieses Konzept unauflöslich verbunden ist mit einem ganz bestimmten kulturellen Hintergrund, einer Tradition, die ihm seine expressive und analytische Kraft verleiht.
In diesen drei von Weber verwendeten Definitionen besteht Wahlverwandtschaft zwischen soziokulturellen Strukturen (wirtschaftlicher oder religiöser Natur), ohne daß es zur Bildung einer neuen Substanz oder einer wesentlichen Veränderung der ursprünglichen Komponenten käme – selbst dann nicht, wenn ihre Interaktion wirksame Konsequenzen hat, indem sie zum Beispiel die innere Logik jeder Figur verstärkt.
Max Weber hat nie versucht, diesen Begriff genauer zu untersuchen, die Konsequenzen zu diskutieren, die er als Methode mit sich bringt, oder das Gebiet festzulegen, in dessen Grenzen er angewendet werden kann. Hier und da begegnet er uns in deutschsprachigen Untersuchungen der Soziologie, jedoch immer ohne die geringste Reflexion, was er als Konzept bedeutet. Zum Beispiel schreibt Karl Mannheim in seiner bemerkenswerten Studie über das konservative Denken: »Bei dem Zusammenfließen zweier Denkrichtungen besteht die wissenssoziologische Aufgabe darin, jene Momente in den beiden Strömungen aufzusuchen, welche bereits vor der Synthese eine innere Verwandtschaft aufwiesen und dadurch die Vereinigung erst ermöglichten.«9
Im Verlauf unserer Arbeit über die Verbindungen zwischen jüdischem Messianismus und gesellschaftlicher Utopie erschien uns das Konzept der Wahlverwandtschaft als geeignetes und erfolgversprechendes Handwerkszeug, um diese Verbindung genauer zu analysieren. Natürlich haben wir den Eindruck, daß es darüber hinaus beim Studium vieler anderer Aspekte der sozialen Realität dienlich sein könnte. Es hilft uns beim Verständnis, beim Verstehen im wörtlichen Sinne, wenn es um eine ganz bestimmte Art von Verbundenheit zwischen Phänomenen geht, die auf den ersten Blick disparat erscheinen mögen, aber innerhalb der kulturellen Sphäre angesiedelt sind. Wir denken an Verbindungen zwischen Religion, Philosophie und Literatur, aber auch an die Beziehungen zwischen Phänomenen unterschiedlicher sozialer Bereiche: zwischen Religion und Ökonomie, Mystik und Politik usw. Es könnte z. B. recht erhellend sein, auf das Konzept der Wahlverwandtschaft zurückzugreifen, wenn die Beziehung studiert werden soll, die sich im Mittelalter zwischen ritterlicher Ethik und Kirchenlehre10 herausgebildet hat, oder seit dem 16. Jahrhundert zwischen Kabbala und Alchimie. (Zu letzterem Thema existiert übrigens eine lesenswerte Arbeit von Gershom Scholem, »Alchimie und Kabbala«, veröffentlicht 1977 im Eranos Jahrbuch Nr. 45). Im 19. Jahrhundert lassen sich Beziehungen zwischen traditionalistisch konservativem Denken und romantischer Ästhetik beobachten (siehe dazu den oben erwähnten Artikel von Mannheim), zwischen deutschem Idealismus und Judentum (vgl. die Studie von Habermas), zwischen Darwinismus und der Lehre von Malthus.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden wir die kantische Moral in Verbindung mit der positivistischen Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften; und im 20. Jahrhundert nimmt die Psychoanalyse Beziehungen zum Marxismus auf, der Surrealismus zum Anarchismus usw.
Allerdings erfordert ein systematischer Gebrauch unseres Begriffs eine bestimmte Anzahl von Definitionen, ohne die er als Konzept nicht wirksam wäre. Zu Beginn müssen wir bedenken, daß es mehrere Ebenen oder Stufen von Wahlverwandtschaft gibt:
1. Die erste ist einfach Verwandtschaft, geistige Nähe, strukturelle Homologie (ein Begriff, der in der Literatursoziologie von Lucien Goldmann Verwendung findet), Korrespondenz im Sinne von Baudelaire.
Die Theorie der Korrespondenzen ist in systematischer Form das erste Mal in der mystischen Lehre Swedenborgs formuliert worden, er vertrat die Theorie einer Korrespondenz im wörtlichen Sinne des Himmels mit der Erde und der spirituellen Dinge mit den natürlichen. Baudelaire bezieht sich auf Swedenborg, der ihn unterrichtet hat, »daß alles, Form, Bewegung, Zahl, Farbe, Duft im Geistigen wie im Natürlichen bedeutungsvoll ist, wechselseitig, konvergent, korrespondierend«. Aber der Begriff verliert bei ihm die ursprüngliche mystische Konnotation und bezeichnet ein System wechselseitiger Analogien, die im Universum schweben, »die intimen und geheimen Beziehungen zwischen den Dingen«.11
Es erscheint uns wichtig, darauf hinzuweisen, daß es sich bei der Korrespondenz (oder Verwandtschaft) um eine Analogie handelt, die im Statischen verbleibt. Sie ruft die Möglichkeit, nicht die Notwendigkeit einer aktiven Konvergenz hervor, einer attractio electiva. (Wir berücksichtigen hier die Kritik von Danièle Hervieu-Léger am ungenauen Gebrauch des Begriffs in unserem 1981 entstandenen Artikel über Messianismus und Utopie.12) Die Umwandlung dieser Kraft in einen Akt, die Dynamisierung der Analogie, seine Entwicklung zur aktiven Interaktion ist abhängig von konkreten historischen Bedingungen: wirtschaftlichen Veränderungen, Reaktionen sozialer Klassen und Kategorien, kulturellen Bewegungen, politischen Ereignissen usw.
2. Die Wahl, gegenseitige Anziehung, aktive Entscheidung von zwei sozio-kulturellen Konfigurationen füreinander. Sie führt zu bestimmten Formen der Interaktion, der gegenseitigen Stimulierung und der Konvergenz. An diesem Punkt beginnen die Analogien und Konvergenzen dynamisch zu werden, aber die beiden Strukturen bleiben getrennt.
Auf dieser Ebene oder am Übergang zur folgenden ist die Wahlverwandtschaft zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus angesiedelt, von der Max Weber spricht.
3. Die Paarung, Verbindung oder »Mischung« zweier Partner. Sie kann entstehen aus unterschiedlichen Formen der Gemeinschaft:
a)Sie könnte als »kulturelle Symbiose« bezeichnet werden. Beide Figuren bleiben unterscheidbar, sind aber organisch miteinander verbunden.
b)Eine Verschmelzung findet nur teilweise statt.
c)Die völlige Verschmelzung (die chemische Hochzeit von Boerhaave).
4. Die Bildung einer neuen Figur. Sie entsteht aus der Verschmelzung wesentlicher Elemente. In diesem Sinne verwendet Goethe den Begriff, doch in den Untersuchungen Max Webers fehlt diese Dimension. Sicher ist es schwierig, zwischen der dritten und der vierten Stufe zu unterscheiden: ist beispielsweise die Psychoanalyse marxistischer Prägung nur eine Verbindung von zwei unterschiedlichen Denkrichtungen, oder haben wir es hier mit einer ganz neuen Form des Denkens zu tun, ebenso verschieden von der Psychoanalyse wie vom historischen Materialismus?
Es könnte nützlich sein, unser Konzept mit anderen Begriffen oder Kategorien zu vergleichen, derer man sich gewöhnlich bedient, um Beziehungen zwischen sinnträchtigen Strukturen zu analysieren. Nur auf diese Weise können wir uns Klarheit verschaffen über seine besonderen Eigenschaften, auch über die Möglichkeiten, die es uns bietet. Wahlverwandtschaft, so wie wir sie hier verstehen, ist nicht gleichzusetzen mit ideologischer Affinität zwischen verschiedenen Varianten derselben sozialen und kulturellen Strömung, z. B. zwischen ökonomischem und politischem Liberalismus, zwischen Sozialismus und Egalitarismus usw. Die Wahl, Entscheidung füreinander setzt Distanz voraus, einen geistigen Abstand, der überwunden werden muß, eine Art von ideologischer Heterogenität. Andererseits ist Wahlverwandtschaft keinesfalls identisch mit »Korrelation«; ein vager Begriff, der lediglich besagt, daß es zwischen zwei verschiedenen Phänomenen eine Beziehung gibt. Wahlverwandtschaft bezeichnet ein ganz bestimmtes sinnvolles Verhältnis, es hat nichts zu tun mit einer statischen Korrelation, wie beispielsweise der zwischen Wirtschaftswachstum und Abnahme der Geburtenziffern. Wahlverwandtschaft ist auch kein Synonym für »Einfluß«. Sie beinhaltet ein Verhältnis, das viel aktiver ist und von beiden Seiten getragen wird, das zur Verschmelzung führen kann. Es ist ein Begriff, der uns erlaubt, Interaktionsprozesse zwischen Elementen darzustellen, deren Verhältnis weder unmittelbar kausal noch »expressiv« wie das zwischen Form und Inhalt ist. (Zum Beispiel ließe sich die Form der Religionsausübung als Ausdruck eines politischen oder sozialen Inhalts deuten).
Unser Begriff kann andere Paradigmen nicht ersetzen, soweit sie der Analyse, der Erklärung und dem Verständnis dienlich sind. Aber er öffnet uns eine neue, bisher kaum bekannte Sicht auf Fragestellungen der Kultursoziologie.
Übrigens ist es erstaunlich, daß seit Max Weber so wenig unternommen wurde, ihn zu überprüfen und im Rahmen konkreter Forschungsaufgaben anzuwenden.
Selbstverständlich findet Wahlverwandtschaft nicht im leeren Raum oder im azurblauen Himmel der reinen Geistigkeit statt: Sie wird begünstigt oder behindert von geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingtheiten. Mögen Analogie und Verwandtschaft als solche auch nur vom geistigen Gehalt der signifikanten Strukturen abhängig sein, von denen hier die Rede ist, ihr Zueinander-in-Beziehung-treten und ihre aktive Interaktion finden unter konkreten gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen und kulturellen Umständen statt. In diesem Sinne ist eine Untersuchung, die vom Begriff der Wahlverwandtschaft ausgeht, völlig zu vereinbaren mit dem Bewußtsein, daß ökonomische und soziale Bedingungen determinierend wirken. Dies gilt auch – im Gegensatz zu dem, was im allgemeinen darüber verbreitet wird – für Webers klassische Analyse der Beziehung zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Mit Ausnahme einiger polemischer »Ausrutscher« zielt seine Beweisführung weniger darauf ab, eine kausale Beziehung zwischen zwei Geisteshaltungen aufzuzeigen, als vielmehr Rechenschaft abzulegen von der Wahlverwandtschaft zwischen einer religiösen Lehre und einem ökonomischen Ethos. Und noch ein Hinweis am Rande: Marx selbst hat in einem Abschnitt der Grundrisse, einer Arbeit, die Weber nicht gekannt haben kann, denn sie wurde erst 1939 veröffentlicht, auf den Zusammenhang zwischen englischem oder holländischem Protestantismus und der Akkumulation von Geldkapital verwiesen.13
1Vgl. Joannis Conradi Barchusen: Pyrosophia, Lugduni Batavorum (Leiden), Impensis Cornelii Bautestein, 1698, Buch I, Kap. 3.
2Herman Boerhaave: Elementa chemiae, Lugduni Batavorum (Leiden), Apud Isaacum Severinum, 1732, Part II: »De Menstruis«. Siehe außerdem La Grande Encyclopédie, Art. »Affinité, I. Chimie«, und De Morveau: (Art.) La Chymie, Encyclopédie méthodique, Band 1, Paris 1786, S. 535.
3De Morveau: La Chymie, S. 570, und Torbern Olof Bergman: Traité des affinités chimiques ou attractions électives, Paris 1788, S. 5.
4Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften, DTV Gesamtausgabe Band 19, München 1963, S. 29, 34.
5Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Einleitung, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1922, S. 257.
6Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 153.
7Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 1920, S. 83.
8Max Weber: The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, London 1957, S. 91–92.
9Karl Mannheim: Das konservative Denken (1927), Wissenssoziologie, Berlin 1964, S. 458. Der Begriff wird auch von Troeltsch verwendet: Vgl. Jean Séguy, Christianisme et Société. Introduction à la sociologie de Ernst Troeltsch, Paris 1980, S. 247–251. Werner Stark, ein Soziologe aus dem Umfeld der Schule von Weber, hat den Begriff untersucht, aber nur hinsichtlich des zweiten Typus der Wahlverwandtschaft, von dem Max Weber sprach (nämlich dem zwischen Weltanschauungen und sozialen Klassen). Vgl. Werner Stark: Die Wissenssoziologie, Stuttgart 1960, S. 215–248.
10Siehe hierzu die Untersuchung von Alfred von Martin: Kultursoziologie des Mittelalters. In: Handwörterbuch der Soziologie (Hg: Alfred Vierkandt), Stuttgart 1959, S. 370–390.
11Vgl. Charles Baudelaire: Oeuvres complètes, Paris, Seuil, 1968, S. 471, 350.
12Siehe Danièle Hervieu Léger: Apocalyptique écologique et »retour« de la religion, Archives de Sciences Sociales des Religions, Nr. 53/1, Januar–März 1982, S. 66.
13Siehe hierzu unsere Untersuchung Marx et Weber: notes sur un dialogue implicite, Dialectique et révolution. Essais de sociologie et d’histoire du marxisme, Paris 1973.