Читать книгу Das Haus Lazarus - Michael Marrak - Страница 10

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EINE MORITAT AUS WOLKEN UND DUNKELHEIT

Ein Schattenmärchen 2

And the sky is filled with light.

Can you see it?

All the black is really white.

If you believe it.

NINE INCH NAILS, In This Twilight

Seid gegrüßt, Kinder. Habt ihr mich vermisst?

Keine Angst, ich bin es wirklich. Suchen euch denn so viele rastlose Geister heim, dass ihr an mir zweifeln müsst? Bringt mir ein Stück reines Eisen, und ich zeige euch, dass ich aus Fleisch und Blut bin.

Seht ihr? Kein Rauch, keine Flammen.

Ja, ich habe mich verändert, aber im Innern bin ich noch immer der, den ihr kennt. Bitte vertraut meiner Stimme, selbst wenn sie nicht mehr so klingt wie früher. Verzeiht, dass ich euch mein Gesicht nicht zeigen kann. Die Dunkelheit hat es verschluckt.

Bitte kommt näher, schart euch um mich, aber bleibt unter den Felsdecken, damit die Jäger der Dämmerung euch nicht sehen. Haltet euch vom Licht fern, das aus den Wolken fällt. Es sind keine Zeppeline oder gar Engel, denen es entspringt. Bei eurem Seelenheil, tretet niemals ins Licht! Versprecht mir, euch nie blenden zu lassen und dem verführerischen Strahlen nicht anheimzufallen. Es mag ein grausames Los sein, in eine der zahllosen Klüfte und Spalten zu stürzen und von den Toten gefressen zu werden. Viel schrecklicher ist es jedoch, den Boden unter den Füßen zu verlieren und hinauf in die Wolken gerissen zu werden – denn dort oben erwarten euch einzig und allein sie und ihre Klauen, um mit euch zu tun, was immer sie wollen. Sie sind den Regenten keine Rechenschaft schuldig.

Habt ihr die Häscher je mit eigenen Augen gesehen? Seid ihr den schwebenden Schatten schon einmal begegnet? Selten tauchen sie aus den Wolken herab, doch wenn sie sich unter uns mischen, kehren sie nie in ihre Gefilde zurück, ohne einen der euren aus eurer Mitte gerissen zu haben. Ihr Duft ist so betörend, ihre Zungen säuseln so lieblich und umgarnen eure Sinne, doch hütet euch vor ihren Fängen! Wehe denen unter euch, die schwach sind und ihren Verlockungen erliegen. Die Haut werden sie euch vom Leib ziehen und ihre Flügel damit bespannen und euer Gesicht auf ihr eigenes setzen. Sie empfinden nichts für die Lebenden, denn sie haben nie gelebt und wissen nicht um die Bedeutung des Lebens. Euer Leid berührt sie nicht, denn sie haben keine Seele. Eure Schmerzensschreie dringen an kein Ohr, denn das Hören ist ihnen fremd. Für die Häscher der Schatten seid ihr, was die Fische der Seen und Meere einst für uns waren: kalt und stumm, gefangen in den Elementen.

Bitte hört auf zu weinen, Kinder. Euer Wehklagen lockt sie aus den Wolken herab wie Feuerschein, der den Nebel glühen lässt. In keinem Versteck über dem Dach der Totenwelt seid ihr vor ihnen sicher. Und ihr wisst genau, wie schwer es ist, die Tarnung der Schatten zu durchschauen, nachdem einer der ihren sich unter euch geschlichen hat.

Kennt ihr die Geschichte des Kalifen Harun Al-Raschid? Er mischte sich Abend für Abend als Kaufmann verkleidet unter sein Volk und lauschte unerkannt den Geschichten, die in den Tavernen und auf den Nachtbasaren über ihn erzählt wurden. So erfuhr er mehr über ihre Gewohnheiten, Kabalen und Nöte, als seine Berater im Palast ihm verraten wollten.

Gleich ihm könnte einer der Schatten unter euch weilen und eure Arglosigkeit ausnutzen – so er denn nicht früher oder später seinem Unwesen Tribut zollen und euch gegenüber offenbaren müsste, wes Geistes Kind er ist. Wenn seine Hülle platzt und sein wahres Ich herauswächst, ist es jedoch meist schon zu spät.

Lernen durch Zuhören, das ist es, was in Zeiten der Finsternis noch einen Wert hat. Aus diesem Grund bin ich heute bei euch.

Lasst mich von der Stadt erzählen, in der ich lebe. Es geht das Gerücht, die Regenten hätten sie aus unsereiner Knochen erbaut. Ein anderes sagt, sie hätten Menschen lebendig eingemauert, um deren Seelen zu versklaven und als Schutzgeister an ihre Häuser zu binden. Wie gern würde ich behaupten, all das sei nur Propaganda, doch die Gerüchte sind wahr – und die Wirklichkeit, das dürft ihr mir glauben, ist noch weitaus schlimmer.

Wisst ihr noch, was ich einst über den Buhlturm und seinen toten Herrn erzählt hatte? O ja, ihr erinnert euch, ich sehe es am Funkeln in euren Augen. Vier dieser Türme erheben sich in der Stadt, die schon lange keinen Namen mehr trägt, wie so viele andere, die die Regenten auf den Trümmern und der Asche unserer eigenen Metropolen errichtet haben. Tausende von Türmen überragen die Ruinen der Welt, deren ferne Gestade kaum noch jemand kennt. Zu viele Erinnerungen haben die Schatten uns bereits gestohlen. Was die meisten von uns heute von der Welt zu kennen glauben, ist nur noch ein Zerrbild der Vergangenheit.

Natürlich hatten die Regenten damals nach dem ihren gesucht, doch vergebens. Sie werden ihn nie finden, denn ich habe ihn gefressen. Eines hatte ich bei meiner damaligen Freveltat jedoch nicht bedacht: ihre Lex Heredis, das Gesetz des Erbes. Es gebietet, dass das Eigen jenes Schattens, den ich verschlinge, zu meinem Eigen wird.

So besitze ich nun ein Refugium mitten unter ihnen. Meinen eigenen Turm, stellt euch das nur vor! Ich bin ein Stachel im Fleisch der Stadt, ein Dorn im Dünkel der Regenten, ein Geschwür in ihrem Schattenreich. Und ich genieße es, auf sie herabzublicken. Oft sitze ich auf dem Turmdach, lasse den Blick über die Ruinen und schuttgefüllten Straßenschluchten schweifen und warte auf das Läuten der Herrscherglocke.

Ach, könntet ihr die Stadt doch nur einmal von dort oben sehen. Sie bedeckt das Land von Horizont zu Horizont wie eine Weltenbrand-Flechte aus Häusergerippen. Von dort oben wirken die umherirrenden Bewohner bedeutungslos winzig. Verzerrten Karikaturen menschlichen Lebens gleich, verstecken sie sich im Dunkel der Mauern, sobald die Glocke ertönt.

Oft trägt der Wind des Nachts den Gesang der Überlebenden an meine Ohren, ein tausendstimmiges Lied in einer fast vergessenen Sprache:

Hosanna, es lebe der Fürst des Ostens

Der auf den Schultern des Steinriesen reitet

Und die niederen Schatten verhöhnt

Hoch lebe der Fürst des Ostens!

Doch nicht nur die Menschen sehen zu mir empor. Auch die Regenten lassen ihre Blicke auf mir ruhen, wohl wissend, dass ich als Turmherr unantastbar bin. Hunderte glühender Augen starren mich allabendlich an und lassen mich nichts sehnlicher wünschen, als ein riesiges Bein heben zu können, um das ameisengroße Schattengesindel unter meiner Fußsohle zu zermalmen.

Und wenn ich den Widerhall der Lieder leid bin, breite ich meine Schwingen aus und stürze auf sie herab. Dann schmecke ich das Aroma der Tiefe, den Gestank aus siedendem Schweiß und verbrannter Haut. Dicht über ihren Köpfen schieße ich durch die Häuserschluchten, dem Feuerschein der Autodafés entgegen …

Ich höre eure Gedanken, Kinder. Ich sehe in eure furchtsam staunenden Augen, die fragen: Wie kommt es, dass er fliegen kann? Er? Ist er womöglich selbst einer von ihnen? Ein verkleideter Schatten, gekommen, um die Schwachen zu verführen – oder gar zu fressen wie einst den Herrn des Buhlturms?

Was mich dereinst zurück zum Turm gelockt hatte, ist mit Worten schwer zu beschreiben. Zuerst hatte ich geglaubt, es wäre das verwaiste Gemäuer selbst, das mich zu sich rufen würde, um mich für meinen Frevel an seinem einstigen Herrn zur Rechenschaft zu ziehen.

Ich meine, wer von uns hat je zuvor den Kadaver eines Regenten verzehrt?

Doch in Wirklichkeit war es etwas anderes gewesen. Eine Entität tief unter dem Fundament, von deren Existenz niemand etwas gewusst hatte. Sie ist das wahrhaft finstere Geheimnis der Schatten.

Ich hatte ihren Ruf schon gehört, als ich euch damals von meinem Fund und meiner Tat erzählt hatte. Und er war mit jeder Nacht lauter und drängender geworden. Gleichwohl waren noch Wochen steter Unrast vergangen, bis ich tatsächlich den Mut gefunden hatte, einen Fuß in das finstere Refugium zu setzen.

Es ist beileibe nicht einfach, denn die Regenten verlassen ihre Türme nicht, wie wir es tun. Sie erheben sich von den Dächern und den höchsten Balkonen in die Lüfte, aus jenen Gefilden, die sie selbst am liebsten bewohnen. Die tieferen Regionen überlassen sie ihren Kreaturen und der Dämmerung. Aber es ist nicht der Boden, vor dem ihnen graut, oder gar die in den Ruinen dahinvegetierenden Überlebenden. Es ist die manifestierte Dunkelheit, der Seelenfresser in der Tiefe.

Wusstet ihr, dass die Buhltürme einst von Menschen errichtet worden waren? Damals hatten sie einen anderen Zweck erfüllt. Tausende hatten sie bevölkert, tagein, tagaus, und man musste sich in ihrem Schatten nicht fürchten. Heute ist davon nichts mehr übrig. In den Häusern ihrer Stadt gibt es keine Fenster, durch die sie blicken können, und in den Türmen keine Tore mehr, die nach draußen führen. Alle Zugänge sind verschlossen, die alten Pforten verbarrikadiert.

Als ich an jenem Schicksalsabend vor dem alten Eingangsportal kauerte, lauschte ich lange auf ein verdächtiges Geräusch aus dem Gemäuer. Erst als die Nacht angebrochen war, hebelte ich einen der schweren Balken aus der Barriere. Dann entzündete ich meine Öllampe und spähte durch die entstandene Öffnung. Der Raum dahinter wirkte verlassen. Also vergrößerte ich das Loch und kroch durch die Bresche ins Innere, wo ich furchtvoll verharrte. Schließlich wäre es möglich gewesen, dass inzwischen ein anderer hoher Regent den Turm in Besitz genommen hatte. Die Schatten sind in dieser Beziehung nicht zimperlich, das könnt ihr mir glauben. Doch durch die Flure heulte an diesem Abend nur der Wind.

Jener Korridor, in dem ich kniete, führte in einer weiten Biegung ins Zentrum des Bauwerks. Argwöhnisch erhob ich mich und folgte ihm, die Eisenstange in meiner Rechten, die Lampe in der zitternden Linken. Der dicke Schimmelteppich, auf dem ich lief, schluckte das Geräusch meiner Schritte.

Bizarre Insekten bevölkerten den Boden und die Wände, an der Decke hingen dicht an dicht ihre Puppen und Kokons. Manche von ihnen waren so groß wie ein menschlicher Unterarm und zitterten und wanden sich, sobald sie die Vibrationen meiner Schritte spürten oder meinen Atem rochen.

Ja, Kinder, die Regenten haben auch ihr Ungeziefer mit in unsere Welt gebracht. Aber ihm behagt offenbar unsere Atmosphäre nicht, denn ich habe nie eine dieser Kreaturen im Freien gesehen. Sie erblicken in den Türmen die Dunkelheit der Welt und gehen in ihnen zugrunde.

Je tiefer ich vordrang, desto intensiver wurde ihr Gewimmel. In regelmäßigen Abständen klafften Türöffnungen in den Korridorwänden. An jeder hielt ich inne, um einen Blick hindurchzuwerfen, in der Erwartung, Fürchterliches zu erblicken. Doch die dahinter liegenden Räume waren leer. Und falls doch etwas Seltsames in ihnen lag oder vom Boden aufragte, war es so von Schimmelpilzen und Schwämmen überwuchert, dass ich nicht erkennen konnte, was sich darunter verbarg. Lediglich die Insekten krochen, glitten, hüpften oder flogen davon, sobald ich in die Eingänge trat. Unablässig waren sie damit beschäftigt, sich zu reproduzieren und gegenseitig zu fressen, nur um ihrerseits von den allgegenwärtigen Mollusken gefressen zu werden, hüfthohen, amorphen Klumpen, die wie riesige Makrophagen durch die Flure krochen und alles absorbierten, was unter ihre Leiber geriet. Das Ungeziefer vermehrte sich jedoch ebenso schnell, wie es dezimiert wurde. Alles war erfüllt vom Knistern, Knattern und Brummen seiner Beine und Flügel.

Die Buhltürme sind nicht gänzlich von Mauern durchspannt oder gar massiv. Ihr Kern ist hohl und bildet einen breiten Schacht, der vom Dach bis tief hinab ins Fundament führt. Den Raum, in dem früher das Tilgerpendel schwang, haben nun die Insekten für sich eingenommen. Garstige Biester aller Couleur, die im Verborgenen lauern oder bei der Jagd tollkühn auf und ab schießen. Nachtschwarze Kreaturen, die ihre Beute mit dornbesetzten Klauen im Flug ergreifen, um sie auszusaugen, bei lebendigem Leib aufzufressen oder ihre Eier in sie zu pumpen, sie in Kokons einzuspinnen oder einfach nur in Fetzen zu reißen.

Der Korridor, über den ich also dereinst schlich, mündete auf die unterste Galerie des zentralen Treppenhauses, wo schwere Bronzelüster wie erstarrte Klauen von der Decke hingen und kostbare Gemälde und Gobelins an den Wänden verrotteten. Auf dem Boden verstreut lagen die Überreste menschlicher Gebeine: Hände, Wirbelsäulen, Thoraxe, Schädel – doch kein einziger Knochen eines Regenten.

Ob es sterbliche Überreste aus Zeiten der Revolution waren oder in den Treppenschacht geworfene Orgienabfälle, konnte ich nicht sagen. Für Kriegsopfer wirkten sie zu frisch. Aber vielleicht hatten das herrschende Dämmerlicht und die Flamme meiner Öllampe mir auch einen Streich gespielt.

O ja, die Regenten tun es, und das nicht selten mit Genuss. Auch dieses Gerücht ist wahr. Habt ihr schon mal vom Bankett der neun Pforten gehört? Kennt ihr die Entweihung Abbadons oder das Fest Benebelial? Wie unsereins früher einen Hammel oder einen Hasen geschlachtet hat, so schlachten die Schatten heute uns.

Nein, Kinder, lauft nicht weg! Bleibt unter den Ruinendächern! Zeigt den Häschern in den Wolken keine Blöße. Ich vermag euch nicht alle zu schützen. Bitte kommt zurück. Alles ist gut, glaubt mir. Die Türme sind fern.

Kommt näher. Näher!

So ist es gut …

Verzeiht, ich wollte euch nicht ängstigen. Aber ich habe vor dem Lumenschrein geschworen, die Wahrheit zu sagen, so bitter und grausam sie auch sein mag.

Ich habe es geschworen!

Ja, ihr versteht es. Tröstet jene unter euch, die es noch nicht vermögen. Nehmt sie in eure Mitte. Steht einander bei und lauscht um euer Überleben willen meinen Worten – denn die Hoheit der Schatten beruht nicht auf Hexerei. Lasst mich erzählen, wie ich zu meinen Flügeln kam, denn meine Zeit ist knapp bemessen.

Von Schauder geschüttelt ob des Gewimmels und des Anblicks, der sich mir dereinst auf der untersten Galerie bot, beeilte ich mich, das Parterre des Buhlturms unter mir zu lassen. Je höher ich stieg, desto weniger Unrat und Verfall umgab mich. Stockwerk für Stockwerk ging die Veränderung vonstatten. Selbst mit dem Ungeziefer aus der Schattenwelt vollzog sich ein Wandel. Hatte es sich in der Tiefe noch gänzlich schwarz oder fahl gezeigt, mischten sich auf Leibern und Flügeln nun Farben und Muster hinzu. In den obersten Etagen fand ich mich schließlich in einem derart harmonischen Beieinander fremdartiger Geschöpfe wieder, dass es mir schwerfiel zu glauben, jene Welt, aus der die Regenten in die unsere eingefallen waren, könne keine andere sein als die Hölle.

Weit mehr als die scheinbar aus einem Paradiesgarten entfleuchten Insekten erregte die Galerie selbst meine Aufmerksamkeit, denn einer der acht sternförmig in die Außenbereiche des Turms führenden Korridore war vollständig verrammelt.

Wenige Schritte vor der Barriere ließ mich ein leises Geräusch innehalten, das sich vom Huschen, Schwirren und Trippeln um mich herum abhob. Als ich nach längerer Stille bereits glaubte, mich getäuscht zu haben, vernahm ich es erneut; ein gleichförmiges Scharren, bald begleitet von einem Hecheln und Gurren. Das Metall der Stange in meiner Faust fühlte sich heiß an, als ich mich vorsichtig der Barrikade näherte. Allerdings achtete ich dabei nicht auf den Boden und das handgroße Insekt, das dort kauerte. Knirschend zerplatzte sein Leib unter meiner Schuhsohle.

Augenblicklich herrschte Stille. Dann hörte ich hinter der Barriere ein Zischen, gefolgt von einem Geräusch wie von Krallen, die über das Holz kratzten.

Ich wusste nicht, was sich auf der anderen Seite an der Barrikade zu schaffen machte, aber es war zweifellos kein Regent oder Häscher, der da rumorte. Dicht über dem Boden vernahm ich nun wieder leises Scharren, fast so, als wollte mein mysteriöses Gegenüber sich durchs Gestein graben. Unvermittelt erzitterte die Barrikade unter einem kräftigen Hieb, dann hörte ich sich rasch entfernende Schritte, die klangen, als würden zwei oder drei Kreaturen gleichzeitig die Flucht ergreifen.

Ich wartete, bis ich sicher war, dass das Wesen nicht zurückkehren würde, dann brach ich eine Bresche in das Hindernis und schlüpfte durch die Öffnung.

O ja, Kinder, ich bin der Kreatur gefolgt. Ihr fragt euch, welcher Teufel mich geritten haben mag, so unverfroren in das Refugium eines Regenten vorzudringen.

Ich weiß es nicht.

Vielleicht war meine Waghalsigkeit der Gewissheit geschuldet gewesen, dass nach all den Jahren des Gedankenspendens für die Schatten sowieso nicht mehr viel von mir übrig war und ich daher kaum noch etwas zu verlieren gehabt hatte.

Die Eisenstange schlagbereit erhoben, schritt ich über den Korridor, in der Erwartung, aus einem der angrenzenden Räume angefallen zu werden. Doch nichts dergleichen geschah. Was auch immer die Barrikade errichtet und bewacht hatte, schien sich in Luft aufgelöst zu haben.

Bereits von Weitem konnte ich erkennen, dass der Flur zu einem Hochbalkon führte. Und dort, am Ende des Korridors, fand ich die Schwingen! Wie eine wertvolle Trophäe aus dem Krieg der Schatten gegen das Licht prangten sie an der Wand; kupferrot, glänzend, formvollendet.

Seht nur her, wie wunderschön sie sind!

Nun rennt doch nicht gleich wieder davon, Kinder. Es ist nur eine Maschine mit Riemen und metallenen Schalen. Habt ihr denn jegliches Vertrauen verloren? Die Schwingen sind meine Diener, nicht ich der ihre. Kommt her, berührt sie, fühlt ihre Wärme. Das Metall wächst mir nicht aus dem Leib. Ich mag ja vieles sein, aber bestimmt kein Wolkenscherge oder gar Regent.

Während ich im Buhlturm einst ebenso staunend wie ihr vor ihnen stand und mit der freien Hand über das Metall strich, nahm ich aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahr. Doch ich reagierte zu langsam, um es genau erkennen zu können. Ich sah nur etwas Massiges, Dunkles, das sich durch die von mir geschaffene Bresche in der Barrikade hinaus auf die Galerie zwängte.

Nachdem ich ihm rasch zurück ins Treppenhaus gefolgt war, erschaute ich im Halbdunkel ein unförmiges schwarzes Etwas, das auf einer Vielzahl von Armen und Beinen die Stufen hinabrannte. Auf Höhe der vierten Galerieebene sah es von der gegenüberliegenden Seite des Treppenschachts zu mir empor und schenkte mir einen unergründlichen Blick, dann hetzte es weiter abwärts.

Und dann, als das Stakkato seiner Schritte sich in der Tiefe verloren hatte, traf mich eine Windböe …

Während ich mich verwundert nach der Ursache umsah, wurde der Wind jäh zum Sturm, und der Sturm zum Orkan. Ich beugte mich über die Balustrade und blickte in den weit unter die Grundfeste des Turmes reichenden Abgrund. Etwas Gigantisches quoll aus der Tiefe empor wie aufsteigendes Magma in einem Vulkanschlot, eine kosmische, alles verschlingende Schwärze ohne Konturen. Entsetzt wirbelte ich herum, kroch durch den Durchschlupf zurück in den Korridor – und rannte!

Ehe ich das Ende des Flurs erreicht hatte, sprengte der Sturm hinter mir die Barriere und wirbelte Balken und Bretter wie Geschosse umher. Atemlos am Ende des Korridors angelangt, riss ich die Regentenflügel von der Wand und legte sie an. Statt mich jedoch mit ihnen vom wenige Schritte entfernten Balkon zu stürzen, vollbrachte ich es nur noch, mich dem Sturm zuzuwenden – und stand ihr zum ersten Mal gegenüber. Der Dunkelheit. Dem Uterus der Schatten. Einer Finsternis, in der nie ein Stern geleuchtet hatte oder jemals auch nur das kleinste Licht aufgeflackert, der leiseste Hoffnungsschimmer aufgekeimt waren. Ich blickte in die Abwesenheit allen Seins, das wir lieben und an das wir glauben – in eine Tiefe, erfüllt von allem, was wir fürchten und verabscheuen.

Ich wusste nicht, was sie zögern ließ. Vielleicht waren es die Flügel auf meinem Rücken, vielleicht aber auch die Verwunderung darüber, sie im Domizil ihres einstigen Protegés von einem Menschen getragen zu sehen. Und zu erkennen, dass ihr Ruf nicht einen der anderen Schatten herbeigelockt hatte, sondern – mich!

Einen Überlebenden.

Ich erinnere mich an eine mächtige Stimme in meinem Kopf und nie gehörte Worte wie Donnergrollen. Dann kam etwas aus der Schwärze herausgeschossen, traf mich im Gesicht, riss es mir von den Knochen und ersetzte es durch einen Teil ihrer selbst. Die Schwärze füllte die schreckliche Wunde aus, der Schmerz der Entstellung währte nur kurz. Kaum hatte die Dunkelheit ihren Tribut eingefordert, entschwand sie auch schon wieder durch den Korridor wie abziehender Dunst und sank zurück in den bodenlosen Abgrund, aus dem sie gekommen war.

Oh, ich kann hinter den Schrecken in euren Augen blicken … Trotz eurer Furcht wollt ihr wissen, was es mit der Kreatur auf sich hatte, die von mir verjagt wurde, habe ich recht?

Nun, ich habe sie wiedergesehen. Sie war noch vor Sonnenuntergang zurückgekehrt, hatte ein wärmendes Gespinst um mich gewoben, derweil ich – gelähmt vom Kuss der Dunkelheit – auf dem Korridor lag, und mir Essen gebracht, nachdem ich mich wieder zu regen vermochte.

Ja, da staunt ihr, nicht wahr?

Trotz seines abstoßenden Äußeren hat mich das Verhalten dieses Unwesens nicht wirklich überrascht. Im Gegenteil, es war mit ein Grund dafür gewesen, weshalb ich es letztlich gewagt hatte, den Turm zu betreten. Denn seit Ende der Revolution wird auf den Straßen gemunkelt, jeder Turmregent habe einen treu ergebenen Adjutanten, der die Schwingen seines Schattens pflegt und zur Stelle ist, wann immer er gerufen wird.

So nenne ich heute also nicht allein einen Turm mein Eigen, sondern auch eine Dienerin.

Ich weiß nicht, ob sie mich versteht, wenn ich zu ihr spreche, und wie es um ihre Loyalität tatsächlich bestellt ist. Vielleicht handelt sie einfach nur intuitiv oder liest meine Gedanken, derweil sie Pläne für mein Ableben schmiedet. Schon ein flüchtiger Giftbiss würde mich zweifellos töten. Ein einziger ihrer Fäden kann mir zum Verhängnis werden. Ein leiser Ruf von ihr könnte womöglich alles Ungeziefer des Turms auf mich hetzen.

Ob sie tatsächlich die Adjutantin des toten Regenten war und nun die meine ist, oder bisweilen nur das mächtigste und intelligenteste Ungeziefer im Turm, weiß ich nicht. Und ihr könnt mir glauben, Kinder, diese Ungewissheit macht mir Angst und raubt mir den Schlaf.

Doch seht, ich lebe noch, und meine Flügel sind geölt und glänzen. So vermag ich heute Abend unter euch zu weilen, um euch in die Geheimnisse der Schatten einzuweihen – und morgen dank der Schwingen auf meinem Rücken schon in einer weiteren Kolonie vor den Ruinen einer anderen fernen Stadt.

Vielleicht waren der Tod des Regenten und meine damalige Freveltat an ihm eine willkürliche Verkettung besonderer Umstände gewesen. Vielleicht hatte aber auch eine weitaus höhere Macht die Geschicke gelenkt. Womöglich ist mein Los ein Zeichen an die Welt, die Hoffnung nicht aufzugeben. Solange einer der Herrscher unsere Luft atmet, werde ich sonach weiterhin Abend für Abend auf der Spitze meines Turmes sitzen und auf sie niederblicken.

So hört, ihr Kreaturen, die ihr euch im Angesicht der Sonne hinter dem Klang eurer Glocken versteckt: Ich bin dem Ruf der Dunkelheit gefolgt, obwohl mir davor gegraut hatte, in Blut, Kot und Erbrochenem zu erwachen und im Sumpf der Entsetzlichkeiten unterzugehen. Sie hat mich gelehrt, dass das bitter gewordene Wasser dieser Welt sich nur mit den Schatten eurer Seelen wieder in süßen Wein verwandeln lässt. So predige ich zwischen den Wolken und den Leichentüchern, die einst um die Leiber der geschändeten Kirchen gehüllt waren, über euch Söhne ohne heiliges Land.

Viele von euch suchen mich. Durch die Straßen irrt ihr, wartet im Dunkel auf mich und hofft auf ein Flüstern, das die Stadt erbeben lässt. So viel Zeit verschwendet ihr, und doch geht die Sonne immer wieder für euch unter. Dabei bin ich meist nur einen Atemzug weit von euch entfernt. Ihr sprecht mich an, tagein, tagaus, bittet mich hier um ein wenig Tabak, dort um einen Obolus, und jene von euch, die sich in unseren Ruinen verirrt haben, fragen mich nach dem rechten Weg. Ihr Kreaturen fragt mich nach dem Weg und wisst nicht, mit wem ihr redet!

Also weise ich euch die Richtung – und sie führt euch nirgendwohin. Dort trefft ihr mich wieder, mit einer neuen Bitte, einer neuen Frage. Vielleicht erkundigt ihr euch nach der Zeit. Für mich existiert sie nicht mehr, und dennoch habe ich sie im Überfluss. Ich verschenke sie; an jene von euch, die es eilig haben, ein paar Sekunden weniger, den anderen ein paar Sekunden mehr. Dafür schenkt ihr mir ein paar Atemzüge eures Lebens. Ist das nicht gerecht? Meine Zeit wird euch nie genug sein. Der Rauch wird euch nicht befriedigen, die Münzen werden nicht reichen. Erst wenn ihr euch abwendet, sehe ich euch an. Ob ihr mich liebt oder hasst, spielt keine Rolle. Vermengt einen Löffel Honig mit Salz und kostet davon, dann werdet ihr verstehen.

Und lasst euch gesagt sein: Ich werde der letzte Stern sein, den ihr seht – denn keine Finsternis währt ewig!

Das Haus Lazarus

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