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TABULA MEDIA: ALEGOYA

Vier Tage benötigte ich für die Übersetzung der zwölf Briefe. Es gelang mir mithilfe alter, meist in kaum lesbarer Frakturschrift gesetzter Almanache und Wörterbücher, wobei mich intensive Onlinerecherchen unterstützten.

Bereits nach wenigen übersetzten Zeilen hatte ich erkannt, wessen goldenes Namenskryptogramm in die Buchfrontseite geprägt und wer die Verfasserin der Briefe war: Hieronymus Boschs Frau, die betagte Patriziertochter Aleyd Goyaert van de Mervenne – ALEGOYA.

Der Maler selbst hatte als Angehöriger einer religiösen Bruderschaft namens Unserer Lieben Frau den frommen Menschen gelebt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass seine aus vornehmem Hause stammende Gemahlin der Kirche und dem Glauben ebenfalls Respekt zollte – bis hinein in intimste Zeugnisse. So hatte sie jedem Datum ein Anno Domini Nostri Iesu Christi angefügt, das ich in meiner übersetzten Abschrift der Briefe jedoch nicht berücksichtigt habe.

Da ich kein Muttersprachler bin, werden sich zwangsläufig Übersetzungsfehler eingeschlichen haben, die das eine oder andere Wort eleusinischer wirken lassen und manch einem Satz mehr obskure Bedeutung verleihen als dem Original. Doch selbst wenn man den Wahrheitsgehalt der Briefe unter diesen Gesichtspunkten relativiert, ist das, was übrig bleibt, mehr als befremdlich und verwirrend.

Dies ist Aleyd van de Mervennes Vermächtnis.

*****

26. Oktober 1503

Ach Elya, begann der erste der zwölf erhaltenen Briefe. Könnte ich doch nur in den Kopf des Mannes blicken, auf den ich mich einst des Herzens und der Vernunft wegen eingelassen habe. Die im Laufe der vergangenen Wochen geschehene Veränderung von Jeromes Wesen macht mich sorgen, dass seine Arbeit ihm am Verstande zehrt.

»Ally«, sprach er gestern, als er bis spät in die Nacht an einer Bildtafel für den Grafen von Nassau gearbeitet hatte und sich erschöpft neben mich legte. »Hättest du gedacht, dass die verschlagene Schlange gar nicht die erste Sündenkreatur in Eden gewesen war, sondern der dreiköpfige Sargalámpech?«

Ich spürte seine warme, geschwollene Männlichkeit zwischen meine Schenkel gleiten, während er dies sagte. Sein bald schon wonnevoll erregter Atem roch nach Oleum, fast so, als hätte er über all die Stunden im Atelier immer wieder gedankenverloren am farbgesättigten Haar seiner Pinsel gesogen.

28. Oktober 1503

Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es begonnen hatte, als dieser entengesichtige Stadtverwalter des Grafen von Nassau vor einem Monat erstmals bei uns vorstellig geworden war. Ohne einen Fuß ins Haus zu setzen, hatte er Jerome von einem seiner Bediensteten eine Einladung in den Nachtigallspalast überreichen lassen, wo er ihn mit einer fürstlich entlohnten Arbeit für seinen Herrn vertraut zu machen gedachte.

Die erste Veränderung in Jeromes Gemüt war mir aufgefallen, nachdem er von seinem Besuch im Palais zurückgekehrt war und sich nicht wie gewohnt an den Kamin gesetzt hatte, um den Tag in Ruhe ausklingen zu lassen. Stattdessen hatte er sich sofort in sein Atelier zurückgezogen, getrieben von Schaffensdrang, als wollte er alles auf Pergament und Eichenholz festhalten, bevor seine Erinnerung an das Erschaute oder Ersonnene verblasste.

Ich weiß nicht, was er im Hause des Stadtverwalters gesehen oder gehört hatte, aber ich kann nicht behaupten, dass ich glücklich darüber bin, was es seither aus Jerome gemacht hat. Es ängstigt mich, zu wissen, dass er zwar unten bei seinen Tafeln und Farben ist, aber seine Gedanken so weit von mir entfernt sind, wie es nur die Phantasie eines von imaginären Engeln und Dämonen Getriebenen vollbringen kann.

Ich scheue gedeihlich dem Fremden, das meine Haut streichelt, mein Fleisch liebkost und sich feurig erregt in mich ergießt, sobald es irgendwann im Morgengrauen aus seinem Garten zurückkehrt und mich nimmt …

4. November 1503

Heute hatten wir hohen Besuch im Haus: Seine Erlaucht Graf Heinrich III. von Nassau und seine Verlobte, die Herzogin von Savoyen, gaben sich mit ihrem Kleingefolge die Ehre und ließen sich bewirten. Die halbe Speisekammer und ein viertel Fass Wein haben sie sich in die Bäuche geschlagen, als gäbe es kein Morgen mehr, und das mit einer Selbstverständlichkeit, die mich vor Ingrimm zittern ließ. Ich mag ihn nicht wirklich gut leiden, diesen feistfrömmelnden Magnificus und Herrn von Breda. Dennoch war er der Einzige, der sich für Speise und Trank bedankte.

Der Grund für den Besuch des Grafen war jedoch keinesfalls, sich von uns verköstigen zu lassen, sondern die Fortschritte des in Auftrag gegebenen Altarbildes zu begutachten. Sein Loben und Staunen ob der daraufhin von Jerome erstmals enthüllten Paradiestafel erwärmte mein Herz mit Stolz und Genugtuung. Einzig das finstere Loch im Edengarten hatte den Herrn von Breda irritiert.

Nichtsdestotrotz waren er und die Herzogin voll des Lobes ob der visionären Fülle und Detailverliebtheit. So kam es, dass der Graf Jeromes bisher geleistete Arbeit mit zwanzig Gulden vergütete. Diese Großzügigkeit ließ erahnen, dass er durchaus eine Vorstellung seines Genies und seiner Akkuratesse hatte.

9. November 1503

Meine liebe Elya, was soll ich nur tun? Auf dem Markt erzählte mir eine der Bäckersfrauen heute Morgen, der Nachwächter der Südstadt habe Jerome zu vorgerückter Stunde in einem unbeleuchteten Kahn die Diezegracht hinabstaken sehen – in Richtung des Dirnenviertels. Und den Blicken der Leute nach zu urteilen hatte dieses Klatschweib es zuvor wahrscheinlich schon jedem erzählt, der willens gewesen war, ihr zuzuhören, und offen für jedwede Art von eklatschwangerem Ondit. Ich vermochte zu lauschen, wie sie hinter meinem Rücken tuschelten und sich ihre Tratschmäuler zerrissen.

10. November 1503

Ich konnt’ mich Jerome gegenüber noch nicht dazu durchringen, die Behauptung des Nachtwächters zur Sprache zu bringen. Vielleicht ist’s die Angst vor dem Schmerz, die mich zögern lässt. Angst vor den Worten, die finsterste Befürchtungen offenbaren könnten. Vor der Erkenntnis, eine innere Bande langsam zerreißen zu wissen und meinen Mann langsam an ein urbanes Schreckgespenst aus Manie, Phantasmagorien, Lust und Irrwandelei zu verlieren.

Ehe ich nicht aus Jeromes eigenem Mund gehört habe, dass alles nur dummes Gerede und Waschweibergemunkel ist, weigere ich mich zu glauben, dass er die Eingebung für seine Visionen in den Freudenhäusern findet und nicht beim Studium der in Stein gehauenen Figuren auf Sankt Jan und der Lektüre von Tier-Enzyklopädien und Herbarien in der Bibliothek des Stadtverwalters.

11. November 1503

Sag mir, Elya, war’s Torheit oder göttliche Eingebung, die meine Schritte gelenkt hatten? In einem vermeintlich einsamen Moment, in dem ich Jerome oben in der Dachkammer wähnte, hatte ich mich ins Atelier geschlichen, um mir die seltsamen Figuren in seinem Paradiesgarten anzusehen – und hatte gerätselt, welche der beiden dreiköpfigen Kreaturen jenen Sargalámpech darstellen sollte, von dem er so geheimnisvoll gesprochen hatte; die eine ein schwarzer Salamander, die andere ein großer brauner Vogel. Dabei wollte ich gerne glauben, ihrer beider Abnormität sei Jeromes Unschlüssigkeit geschuldet, wohin mit dem Hals.

Nach wie vor grüble ich über die Bedeutung des wie ein Schandfleck wirkenden finsteren Pfuhls, an dessen Ufer der dreiköpfige Vogel sitzt. Als der Graf zu Besuch war, hatte das Wasser bereits düster geglänzt, doch nun war es voll schwarzer Unwesen und Nachtschatten, die sich darin tummelten oder ihm auf dem Bauch robbend entstiegen.

Dass Jerome hinter mir lautlos das Atelier betreten hatte, wurde mir erst gewahr, als ich seine Stimme vernahm, die fragte: »Gefällt es dir, meine Teuerste?«

Ich fühlte mich innerlich zu Stein erstarren. Glaube mir, liebste Elya, es war ein Moment, in dem ich mich so weit wegwünschte, wie meine Vorstellungskraft es nur zuließ.

Schuldbewusst wandte ich mich um, wollte etwas Scharfsinniges erwidern, das meine Neugier Jerome gegenüber rechtfertigen mochte. Mich an eine Eingebung klammernd, übte ich leise Kritik an dem, was ich sah. Auf meine Bemerkung, das schillernde Haar der Eva sei dünn wie der Flaum einer Goldmotte, reagierte Jerome fast schon mit Schrecken. Minutenlang betrachtete er sein Werk, dann ergriff er wie in Trance einen Quastenpinsel und tunkte ihn in rote Farbe. Anstatt sich damit jedoch dem Haar der Eva zuzuwenden, zog er mit der freien Hand das Oberteil meines Nachtkleides herab und drückte ihn zwischen meine entblößten Brüste. So verharrte er eine Weile, fast, als wollte er sich von der Sinnhaftigkeit seines Tuns überzeugen. Schließlich wies er mich an, den Pinsel zu halten, ohne ihn von meinem Fleisch abzusetzen. Während ich tat, wie mir geheißen, ergriff er ein Leinwandmesser und schnitt mir das Nachtkleid, wie ich es am Leibe trug, von oben nach unten entzwei.

Entgeistert, ja geradezu bestürzt gab ich mich seiner Anwandlung hin, ohne mich zu regen.

»Eine Seele, die zwischen Licht und Dunkelheit gefangen ist, teilt alle göttlichen Sinnesfreuden, ohne sich an ihnen ergötzen zu können«, sprach Jerome. Daraufhin ließ er den Pinsel kreisen und begann meine Brüste zu bemalen. »Die ersten Schatten traten nicht aus der Dunkelheit hervor ins Licht, und sie ließen sich auch nicht aus der Nacht herabsinken.« Ich fühlte die Pinselspitze an mir herabgleiten und erbebte, als ich die kalte Farbe zwischen meinen Schenkeln spürte. »Sie tauchen aus der Tiefe empor, und der Bylar wacht in ihrer Mitte.« Der Pinsel wanderte in einer Wellenlinie wieder hinauf bis zu meinem Hals. »Er gibt ihnen die Form, nennt ihnen ihre Namen und zählt ihre Zahl.«

Auf meine mit zitternder Stimme geflüsterte Frage, was denn ein Bylar sei, lächelte er und sagte: »Der Quellherr der Sünde und dunklen Verlockung …«

16. November 1503

Käm’ ich doch nur dahinter, was Jeromes ruhelose Seele in den finsteren Stunden umtreibt und ihn dort draußen auf der Dieze suchen lässt. Inzwischen bin ich so weit gegangen, dem Nachtwächter einen Goldgulden zuzustecken, mit der Bitte, ihm heimlich entlang der Kanäle nachzustellen, um herauszufinden, wohin seine Bootsfahrten ihn führen. Und bitte, bitte, bitte, meine liebe Elya, lass es nicht die Hurennester im Fischerviertel sein. Ich würde diese Schmach nicht verkraften.

19. November 1503

Ich bin inzwischen wirklich in größter Sorge. Heute Morgen fand ich Jerome in voller Montur auf dem Kanapee im Gesellschaftsraum liegend. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine feuchtklamme, nach Brackwasser stinkende Kleidung zu wechseln. Dabei muss er bereits Stunden zuvor zurückgekehrt sein und im Atelier gearbeitet haben, denn rings um den Schemel war der Boden noch feucht vom herabgetropften Wasser, und im Tümpel auf der Tafel fand sich eine neue Figur. Zuerst hatte ich sie gar nicht wahrgenommen. Erst als ich die Fenster öffnete, um den Abwassergestank auszutreiben, war sie mir aufgefallen. Verwundert war ich daraufhin stehen geblieben und hatte sie mir angeschaut.

Sie wirkt auf den Betrachter, als hätte Jerome den ursprünglichen an dieser Stelle befindlichen Kopf eines mannsgroßen schwarzen Fisches mit dem Oberkörper einer mönchartigen, in die Lektüre eines Buches vertieften Gestalt übermalt. Dabei beschreibt ihr Körper unterhalb der Wasseroberfläche einen unnatürlichen Knick, der das eine nicht zum anderen passen lassen will. Aber was mag es sein, das da aus ihrer Kapuze ragt? Ein Schnabel? Eine Pestmaske?

21. November 1503

Jerome ist seit zwei Tagen krank. Eine schlimme Erkältung hat ihn befallen, zweifelsohne die Folge seiner Eselei, des Nachts mit bis auf die Haut durchnässter Kleidung stundenlang in der Stadt umherzuirren, statt heimzukehren und mich ihm ein warmes Bad bereiten zu lassen. Nun quälen ihn Fieber, Schüttelfrost und ein heftiger Husten, der sich heiser aus seinen Lungen Bahn bricht und ihn weder Schlaf noch Erholung finden lässt.

Trotz der Sorge um sein Wohlbefinden bin ich erleichtert über seine Bettlägerigkeit, denn so kann ich ihn zu Hause und nicht rastlos in der Stadt umherwandeln wissen.

»Du kannst den Bylar nicht sehen, Ally, aber er sieht dich«, murmelte er in einem dunklen Moment aus Fieberdelir und der Wirkung der Arznei, die der Medicus ihm verordnet hat. »Versprich mir, dass er deinen Namen niemals in sein Buch schreibt und dir einen Pfuhlgeist schickt.«

23. November 1503

Der Nachtwächter, der mir von Jeromes Eskapaden berichtet hatte, ist für einen halben Gulden bereit, mich den Kanal im Fischerviertel hinaufzufahren. Ganz wohl ist mir nicht dabei, jenseits des Jorishofs einige der Atrien und Grachtenhöfe zu erkunden, deren Wasser nach Einbruch der Dunkelheit selbst vom Gesindel gemieden wird.

Ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, Jeromes Zustand auszunutzen, und daher die Haushälterin gebeten, sich um ihn zu kümmern, aber ihn auf keinen Fall im Atelier arbeiten oder gar das Haus verlassen zu lassen.

24. November 1503

Liebe Elya, ich bin wohlbehalten aus dem Fischerviertel zurück, obgleich meine Sinne unter den dort herrschenden Verhältnissen reichlich gelitten hatten. Wo der Nachtwächter seinen Worten zufolge Jerome des Nachts aus den Augen verloren hatte, liegt verborgen hinter einem Abschnitt der Stadtmauer ein heruntergekommener, von Ruinen umgebener Grachthof, in dessen Nähe mir schauderte. Mit dem Kanal verbunden ist das gut zwanzig Meter im Karree messende Areal durch einen unter der Mauer und den angrenzenden Häusern verlaufenden Tunnel, gerade einmal breit genug, um ihn mit einem Kahn zu durchfahren. Im Brackwasser dahinter treiben Tierkadaver, deren Gestank einem den Atem verschlägt.

Während ich mich angewidert in dem Geviert umsah, kam es mir vor, als hätten Fäulnis und Verwesung sogar das Fundament der Häuser befallen, um sich an den Fassaden emporzufressen. Vom Wasser führen schmale, geländerlose Stiegen hinauf zu Türen, die seit Jahrzehnten nicht mehr geöffnet worden sein dürften. Die Läden aller Fenster von den Hochparterres bis hinauf unter die Dächer sind geschlossen, leere Fensterhöhlen mit Brettern und Latten vernagelt.

Nach meinem Besuch dieser Kloake bin ich sicher, dort die gleiche Fäulnis gerochen zu haben, wie sie jüngst Jeromes Kleidung angehaftet hatte. Was um alles in der Welt hatte er zu vorgerückter Stunde dort verloren gehabt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas mit der Bruderschaft zu tun hat. Der Orden würde sich nie und nimmer dazu herablassen, sich an diesem unwürdigen Ort zu treffen. Was also geschieht dort nach Einbruch der Dunkelheit, das Jerome verleitete, immer wieder diesen schauderhaften Pfuhl aufzusuchen? Wonach sucht er – oder was hat er gefunden, das ihn Nacht für Nacht zu sich lockt?

27. November 1503

Ich habe mich entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, solange Jerome noch das Bett hüten muss – und ich werde es allein tun. Heute Nacht. Schelte mich eine Närrin, Elya, doch sorge dich nicht. Ich weiß auf mich aufzupassen.

28. November 1503

Liebe Elya, ich bin wie durch ein Wunder wohlauf, aber mein Glaube und mein Weltbild sind in ihren Grundfesten erschüttert. Ich kann die Feder nicht halten, ohne dass meine Finger zittern. Vielleicht hätte ich nach dem Vorfall in der Passage umkehren sollen. Dann würde ich jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, im Innern sicherlich nicht noch immer vor Grausen beben.

Die nächtliche Fahrt auf dem Kanal war ruhig und ohne Aufsehen verlaufen, bis ich den Eingang des Tunnels passiert hatte. Da ich im Inneren darauf achtete, mit dem Stakholz nicht an die Decke zu stoßen, war mein Blick nach hinten gerichtet, bis aus Richtung des Grachthofes unvermittelt ein Rauschen erklang. Mit Schrecken erkannte ich ein dunkles Etwas, das unter Wasser auf mich zuschoss und dabei eine Stoßwelle vor sich hertrieb. Ich vermochte es gerade noch, mich mit einer freien Hand an die Bootswand zu klammern, ehe es unter dem Kahn hindurchglitt. Mit Wucht hob es ihn an, sodass ich gezwungen war, mich zu ducken, um nicht mit dem Kopf gegen die Decke des Tunnels zu stoßen. Ich vernahm unter dem Rumpf ein kurzes, lautes Schaben, dann war dieses Ding unter dem Kahn hindurchgetaucht. Dabei zog es eine Spur aus Blasen hinter sich her, welche die ohnehin übel riechende Luft im Tunnel nach dem Platzen mit einem abscheulichen Gestank schwängerten.

Als mein Schreck sich so weit gelegt hatte, dass ich das Stakholz wieder mit fester Hand zu führen vermochte, drang ich nach kurzem Zögern weiter bis in den Grachthof vor. Heute weiß ich, dass ich hätte kehrtmachen sollen, statt verbissen an meinem Vorhaben festzuhalten. Aber mein verhängnisvollster Fehler in dieser Nacht war nicht der Eigensinnigkeit oder gar der Dummheit geschuldet, sondern der Unwissenheit. So erreichte ich zwar wohlbehalten jene nahe der Tunnelmündung gelegene, in einer kleinen Nische des Hofs versteckte Treppe, die ich mir für mein Vorhaben ausgesucht hatte. Doch wurde mir eine Begebenheit zum Verhängnis, die mir bei meinem ersten Besuch nicht aufgefallen war: Das Wasser des Grachthofs befand sich in unmerklichem, aber beständigem Fluss, fast so, als würde es aus der Tiefe von einer Quelle gespeist. Sie war zu schwach, um die Oberfläche in Wallung zu versetzen, aber ausreichend, um für eine sanft zirkulierende Strömung zu sorgen. Ein Born, bei dem es sich angesichts des herrschenden Gestanks jedoch nie und nimmer um einen natürlichen Zustrom handeln konnte.

So ließ ich den Kahn, nachdem ich ausgestiegen war, für einen Moment ungesichert am Treppenfuß treiben. Meine Aufmerksamkeit galt ganz den Stufen, um im Dunkel nicht auszugleiten und mir die Knochen zu brechen. Dabei sah ich nicht, dass das Boot samt Stakholz schon lautlos abtrieb. Als ich mein Missgeschick bemerkte und nach dem Kahn greifen wollte, war er bereits außer Reichweite. Dabei hätte ich auf dem schmierigen Treppenabsatz sogar fast noch den Halt verloren. Hilflos musste ich mit ansehen, wie mein Kahn auf das Mundloch des Tunnels zutrieb, an der Mauerkante von der Strömung gedreht wurde und letztlich im Dunkel verschwand.

War Jerome vergangene Woche womöglich just dieses Malheur ebenfalls passiert? Ein missglückter Versuch, das seinige Boot am Abtreiben zu hindern, wobei er ausgerutscht und in diese Kloake gefallen war? Oder hatte er sich aus freien Stücken ins Brackwasser begeben, um ihm hinterherzuschwimmen?

Letzteres würde meine einzige Möglichkeit sein, diesem Ort zu entfliehen, falls die kommenden Geschehnisse mich dazu nötigen sollten. Doch ängstigte mich dabei der Gedanke an das unbekannte, aber zweifellos lebendige Ding, das den Kahn im Tunnel emporgehoben hatte. Wer konnte garantieren, dass ein zweites davon mir nicht sofort folgen würde? Es hätte mich in der engen Passage im Nu eingeholt …

Verdrossen kauerte ich mich auf halber Höhe der Treppe zusammen, versuchte so wenig helle Haut wie möglich unter meiner Kleidung hervorschauen zu lassen und harrte der Dinge, die da wohl oder übel kamen. Erst jetzt fiel mir auf, dass einige der Fensterläden nun geöffnet waren. Obwohl das Mondlicht den Hof erhellte, war jedoch nicht zu erkennen, ob sich im dahinter liegenden Dunkel der Räume jemand verborgen hielt und Zeuge meiner vermeintlich heimlichen Ankunft gewesen war.

Ich hatte noch keine zehn Minuten in meinem Versteck verbracht, da ließ mich ein leises Sprudeln aufhorchen. Vor der Zwillingstreppe an der Stirnseite des Hofes begann das Wasser zu kochen und ließ hellen Blasenschaum aufsteigen. Zumindest so lange, bis ein zäher, schwarzer, morastiger Brei emporzuquellen begann, dessen Pestilenz mich bald würgen ließ. Den Stoff meines Kleides vor Mund und Nase gepresst, verfolgte ich gebannt das Geschehen. Aus dem brodelnden Modder tauchte etwas Schauerliches auf, von dem ich zuerst glaubte, es wäre ein uralter, von sechs dicken Ästen umgebener Baumstumpf – bis das finstere Ding in der Mitte unerwartet eine Regung zeigte und sich aus seiner Kauerstellung erhob!

Meine liebe Elya, ich wünschte aus tiefster Seele, alles, was sich vor meinen Augen abspielte, wäre nur ein Produkt der Faulgase, die meinen Verstand vernebelten – aber dem war nicht so. Was ich im Mondlicht für totes, schlicktriefendes Holz gehalten hatte, war eine mönchsartig verhüllte Gestalt – und das Gebilde, auf dem sie kauerte, beileibe kein abgestorbener Baum, sondern der Handteller einer riesigen sechsfingrigen schwarzen Klaue, die den Vermummten auf den zentralen Treppenabsatz emporhob. Während sich zwischen den mächtigen Fingern Ströme der schwarzen Brühe zurück ins Wasser ergossen, wirkte das Ding, das sich in ihrer Mitte tragen ließ, in keiner Weise davon benetzt. In seinen Armen barg es einen Gegenstand, der aus der Ferne wie eine Steintafel oder eine mächtige Fibel aussah.

Nahezu gänzlich von einem Umhang verhüllt, trat die Gestalt auf den obersten Treppenabsatz, wo sie wie in tiefer Andacht verharrte. Unter der bis tief in die Stirn gezogenen Kapuze vermochte ich kaum ein Gesicht zu erkennen, nur ein seltsames längliches Gebilde, das wie ein Schnabel daraus hervorragte.

Ich weiß nicht, was mich letztlich in meinem Versteck verraten hatte. Vielleicht hatte ich unbewusst einen Laut des Entsetzens von mir gegeben, oder es war in der Kälte der Nacht mein Atem gewesen, der als Wolke im Mondlicht zu sehen gewesen war. Denn während ich die unheimliche Gestalt auf der Treppe anstarrte, wandte diese sich fast schon feierlich zu mir um, und ich vernahm eine Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dabei war sie nur ein sanftes Raunen, so leise, als wollte ihr Träger mich nicht unnötig ängstigen. Doch es war nicht ihr Klang, der mich erschaudern ließ, sondern die wenigen Worte, die sie sprach: »Es kommt der Tag, da wird ein jeder auf Erden ein Zeuge werden, Aleyd. Aber die Erleuchtete hat keinen Anfang in der Zeit. Sie war, ist und wird immer sein.«

Kaum war die Stimme verklungen, da bemerkte ich mehrere Spuren aus aufsteigenden Luftblasen, die sich mir aus der Mitte des Grachthofes langsam näherten. Die monströse schwarze Hand indes begann sich aufzurichten, bis ihre vier mittleren Finger steil in den Nachthimmel wiesen, während die beiden äußeren wie riesige stumpfe Hörner abstanden. Im Zwielicht sah ich drei, bald schon vier Paare großer, fahlgelber Augen, die sich nahe dem tiefsten Treppenabsatz dicht unter der Wasseroberfläche versammelt hatten und zu mir heraufblickten; glänzende Schimmer ohne Gesichter und ohne Körper. Und während ich schreckensstarr vor Angst ihre Blicke erwiderte, öffnete sich im Zentrum des riesigen schwarzen Handtellers ein mächtiges, orangefarben glühendes Auge und starrte mich an.

Gott, Elya, der Anblick dieses entsetzlichen schwarzen Zyklopendinges, das da nun lautlos durch das Wasser auf mich zuglitt, schnürte mir die Kehle zu. Dabei wuchs es höher und höher empor, bis es die ——

*****

Hier endete der erhaltene Teil des Epistolariums – und ließ mich fassungslos und innerlich aufgewühlt, ja fast schon wütend ob der Ungewissheit um das Schicksal der Verfasserin zurück. Es war, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gerannt, von der ich von Anfang an gewusst hatte, dass sie existierte. Eine Wand, die zwar nicht den Blick auf das Dahinter verwehrte, aber dennoch das jähe und absolute Ende markierte.

Aleyd hatte das albtraumhafte Ereignis überlebt, so viel war sicher, denn wie hätte sie sonst diesen letzten Brief an jenen geheimnisvollen Empfänger niederschreiben können? Doch die Umstände, unter denen sie dazu in der Lage gewesen sein konnte angesichts der unverhohlenen Bedrohung, der sie ausgeliefert gewesen war, blieben im Ungewissen.

Ich strich mit den Fingerkuppen über die Reste der herausgerissenen Seiten. Nur der heftige, seit Stunden andauernde Regen hielt mich an diesem Abend davon ab, mich im historischen Fischerviertel auf die Suche nach jenem Ort zu begeben, den Aleyd – sofern alles der Wahrheit entsprach – in einer für eine Frau ihrer Zeit und ihres Standes so drastischen Weise beschrieben hatte.

Gegen Vormittag des fünften Tages vermeldeten die Nachrichten, dass der angesehene Brabanter Maler und Bildhauer Isaak Melech in den Morgenstunden des gestrigen Tages tot in seinem Hotelzimmer im belgischen Genk aufgefunden worden war. Obwohl mein Informant mir nie seinen Namen genannt und sich bei unserem einzigen kurzen Treffen in Aachen hinter dickem Schal und dunkler Brille versteckt gehalten hatte, wusste ich sofort, dass er es war, dessen Dahinscheiden durch die Medien geisterte.

Das Haus Lazarus

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