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DIE PARABEL VOM ZWIELICHT

Stets wandeln wir am Abgrund dicht,

wo Tief und Dunkel schrecken,

aus dem ein Tod und letzt’ Gericht

die Drachenhälse recken!

Carl Spitzweg

Tabula sinistra: Nathan

»Ich kenne diesen Blick.« Van de Dageraads Pupillen huschten hin und her, während er mir abwechselnd ins linke und ins rechte Auge starrte. »Er ist mir vertraut, denn ich habe ihn bereits Tausende Male gesehen.« Er schob die geöffnete Holzschatulle mit beiden Händen ein paar Zentimeter näher zu mir heran. »Dieses sehnliche Verlangen, exklusive Wahrheit zu erfahren«, sagte er dabei. »Die einmalige Chance, auf die Schultern eines Riesen klettern zu dürfen, um weiter zu blicken als alle anderen … Ja, ich kenne den Ausdruck in Ihren Augen!«

»Hoffen Sie etwa, ich wäre dem nicht gewachsen?«, fragte ich.

»Nun, van Aken hat für die Wahrheit einen nicht gerade geringen Preis gezahlt. Denken Sie nicht, der Ihre sei annehmlicher, nur weil unsere Welt ein wenig moderner und aufgeklärter geworden ist. Viele Geheimnisse verleiben sich ihre Erschauer früher oder später ein …«

Ich musterte mein Gegenüber, uneins darüber, ob er das Gesagte ernst meinte oder nur flunkerte, um den Profit zu erhöhen.

Es war eine Odyssee gewesen, das in den Altstadtgassen von Herzogenbusch versteckte Antiquariat zu finden. Mein Informant hatte mir zwar seinen Namen verraten, aber weder eine Hausnummer noch die Straße, in der ich es finden würde. Es gab keine Schaufenster mit plakativen Exponaten, welche die Aufmerksamkeit geneigter Besucher erregten. Über dem Eingang wies lediglich eine kleine, im Jugendstil gehaltene Bronzetafel auf das im Haus verborgene Geschäft hin, kaum größer als das Hinweisschild einer Arztpraxis:

D A G E R A A D

Antiquariat & Kunsthandel

Inhaber: Nathan van de Dageraad

Hinter der Eingangstür führte eine abgetretene Holztreppe in die im ersten Stockwerk gelegenen Räumlichkeiten. Kaum hatte ich sie betreten, war es, als wäre ich in ein Taschenuniversum eingedrungen. Es roch nach Firnis, Terpentin, Druckerschwärze und etwas Undefinierbarem, das ich nur im Vorübergehen wahrnahm. Für ein, zwei Schritte drang es mir unangenehm in die Nase, dann erreichte ich den bühnenartig erhöhten hinteren Ladenbereich, wo die Luft erfüllt war von einem Odeur aus altem Harz, Leim, Wachs, Pfeifentabak und modriger Vanille. Was mich umgab, waren keine Plagiate, billig reproduzierter Tand oder dekorativer Nippes, sondern jahrhundertealte Originale. Beeindruckt schritt ich entlang üppig gefüllter Sammelfächer mit Zeichnungen, Kupferstichen und Radierungen historischer Ortsansichten, Landkarten und Stadtpläne, über denen die schönsten in antike Rahmen gefasst Kante an Kante an den Wänden hingen.

»Cornelis Pronk«, erklang aus dem Hintergrund eine männliche, leicht nasale Stimme, kaum dass ich vor der Zeichnung eines historischen Stadtkerns stehen geblieben war. »Signiert 1734. Ein Original. Sind Sie interessiert?«

Ich wandte mich um. Am Ende einer Schlucht aus Glasvitrinen und Holzgestellen, die mit allen erdenklichen Arten grafischer und plastischer Miniaturen gefüllt waren, stand ein Verkaufstresen. Dahinter hockte fast unsichtbar eine greise, in einen abgetragenen Hausmantel gekleidete Gestalt, die einer Grotesque noir entsprungen zu sein schien. Das verbliebene schlohweiße Haar streng nach hinten gekämmt, ragte ihr die Nase aus dem Gesicht wie ein Burgerker. Als wäre die anatomische Kapriole nicht bereits Strafe genug, wurde sie von einer fliehenden Stirn und einem fliehenden Kinn zusätzlich auf denkbar undankbare Weise betont. Mein Gegenüber wirkte auf mich wie eine Mischung aus Cyrano de Bergerac und einem ergrauten Schopfpinguin.

»Herr van de Dageraad?«, fragte ich.

In die Züge des Händlers schlich sich ein leiser Anflug von Interesse. »Seit Anbeginn der Zeit«, bestätigte er. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Kein Bild«, antwortete ich und trat näher. »Eine Schrift.«

»Darüber bin ich nicht im Geringsten enttäuscht – obschon ich die Malerei für die aussagekräftigere Inkarnation des Göttlichen halte. Bitte!« Der Antiquar wies auf einen der beiden Chippendale-Stühle, die vor seinem Tresen standen.

Nachdem ich mich gesetzt hatte, wirkte der Kunsthändler noch immer fast einen halben Kopf kleiner als ich – oder sein Stuhl war einfach nur lächerlich niedrig.

Ich zog einen zusammengefalteten Notizzettel aus meiner Manteltasche und schob ihn über den Tisch. »Ein Freund von Ihnen meinte, Sie könnten mir dazu etwas zeigen …«

Van de Dageraad sog seine runzlige Unterlippe in den Mund und betrachtete den Zettel, als hätte ich ihm eine geröstete Tarantel auf den Tresen gelegt. Dann ergriff er das Papier mit spitzen Fingern, faltete es auseinander und las, was darauf geschrieben stand. Seine Unterlippe tauchte wieder aus seinem Mund auf, der nun gespitzt war, als wollte er den Zettel küssen. Er roch am Papier, wedelte damit an seinem rechten Ohr und stieß schließlich ein tiefes Seufzen aus.

»Melchior«, brummte er. »Der alte Salbader. Ich sollte ihm die Zunge kürzen …«

»Bitte?«

»War nicht ernst gemeint.« Van de Dageraad roch erneut an dem Zettel wie an einem Parfüm-Duftstreifen. »Malt der grämelnde Kauz noch?«

»Das weiß ich nicht.«

»Jammerschade.« Mein Gegenüber wies in eine entfernte Ecke des Geschäfts, in der kaum Bilder an der Wand hingen. »Ich vermisse seine Visionen …«

Für eine geraume Weile saß er selbstversunken auf seinem Stuhl, dann steckte er den Zettel wie selbstverständlich in eine Tasche seines Rocks. Mich argwöhnisch im Auge behaltend, zückte er einen Schlüsselbund und öffnete damit eine Seitenschublade seines Schreibtisches. Sekundenlang betrachtete er den Inhalt, griff schließlich hinein und hob einen vom Zahn der Zeit in Mitleidenschaft gezogenen Folianten aus dem Fach, den er vor mir auf den Tresen legte. Als er den Buchdeckel aufschlug, wurde ersichtlich, dass es sich nur um eine Attrappe handelte, in der er eine flache Holzschatulle mit eingefasstem Glasdeckel aufbewahrte. In ihr lag ein dünner Foliant, gut eine halbe Elle hoch und eine viertel Elle breit.

Van de Dageraad reichte mir ein in Plastikfolie verpacktes Paar Einweg-Stoffhandschuhe. Dann zog er sich seine eigenen über, öffnete die Schatulle und entnahm ihr das Buch. Es hatte einen dunkelbraunen Ledereinband, auf den ein etwa handtellergroßer Ring aus goldenen Lettern geprägt war. Der Umfang seiner Seiten war überschaubar und schien aus einer ehemals losen Sammlung einzelner Dokumente und Schriftstücke zu bestehen. Ich schätzte ihre Anzahl auf kaum mehr als dreißig Blätter.

»Dieses Epistolarium wurde Anfang des 17. Jahrhunderts gebunden«, erklärte er. »Aber sein bescheidener Innenteil besteht aus handgeschriebenen Originalseiten, datiert auf das Jahr 1503.«

»AYGLAOE …« Ich strich mit den Fingerspitzen über die Goldprägung, wobei ich den vermeintlichen Titel ein paarmal leise wiederholte. »Was bedeutet das?«

»Es ist eine typografische Spielerei jener Person, die die Schriftstücke als Büchlein binden ließ. Man muss es lesen wie einen Siebenstern.« Der Antiquar tippte in einem bestimmten Muster auf die einzelnen Buchstaben. »A-L-E-G-O-Y-A.«

Ich verzog ratlos die Mundwinkel. »Ein altes Lehnwort für Allegorie?«

»Wohl eher ein enigmatischer Hinweis des Buchbinders auf den Verfasser.«

Ich beugte mich ein Stück näher. »Es heißt, Bosch habe keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen«, sagte ich.

»Keine Sorge, Herr Simmonis. Ich bin überzeugt, dabei bleibt es auch.«

Mein Blick traf den meines Gegenübers. »Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen meinen Namen genannt zu haben.«

»In meinem Gewerbe ist es von Vorteil, über seine spezielle Kundschaft informiert zu sein.« Van de Dageraad lächelte.

»Woher?«

»Berufsgeheimnis.« Der Antiquar wippte vielsagend mit den Augenbrauen. »Ach kommen Sie, es ist doch nur ein Name«, sagte er, als mein Blick fordernd blieb. »Der meine prangt seit Jahrhunderten für jeden lesbar über dem Geschäftsportal.« Bevor ich zu einem Protest ansetzen konnte, lenkte er meine Aufmerksamkeit geschickt zurück auf den Tresen, indem er das Buch in der Mitte aufschlug.

Ich betrachtete die filigrane, altertümlich geschwungene und in meinen Augen sehr weibliche Handschrift. Mühsam entzifferte ich einzelne Wörter, ohne ihren Sinn und ihre Bedeutung zu verstehen. Minutenlang saß ich über das Buch gebeugt da, sah schließlich auf und fragte mein geduldig wartendes Gegenüber: »Briefe?«

»Wie ich bereits sagte: Es handelt sich um ein Epistolarium. Ursprünglich muss es mindestens dreizehn Briefe beinhaltet haben. Leider wurden die letzten Seiten herausgerissen.«

»Absichtlich?«

Van de Dageraad hob die Schultern. »Eine chemische Untersuchung der Risskanten hat ergeben, dass dies bereits vor mehr als zweihundert Jahren geschehen sein muss. Über das Motiv lässt sich insofern allenfalls spekulieren.«

»Was ist das für eine Sprache?«

»Sehr altes Niederländisch«, erklärte der Antiquar. »Sogenanntes duutsc. Genauer gesagt handelt es sich um eine der zahlreichen Varietäten des Mittelniederländischen, oost-braobans oder Ost-Brabantisch genannt.«

»Und Sie können das lesen?«

»Selbstverständlich. Jeder aus unserer Zunft pflegt seine Talente.«

»Wie viel verlangen Sie für eine Übersetzung?«

Mein Gegenüber spitzte die Lippen. »Dieses Epistolarium ist Privateigentum, Herr Simmonis. Sie können keine Übersetzung anfertigen lassen, solange es Ihnen nicht gehört.«

»Und ich werde kein historisches Dokument kaufen, dessen Inhalt und Bedeutung ich nicht kenne«, bot ich ihm Paroli. »Sie könnten auch nur versuchen, mir bäuerliche Kochrezepte unterzujubeln.«

Der Händler neigte abwägend den Kopf hin und her. »Kommen Sie heute Abend wieder«, sagte er schließlich. »Dann habe ich einen des Alters angemessenen und des Inhalts würdigen Preis für Sie.«

Während er sprach, wurde ich erneut von einem übel riechenden Lufthauch abgelenkt. Angewidert sah ich mich nach dessen Quelle um. Es stank nicht nach faulendem Essen oder verwesenden Nagern, sondern nach Teer, ungeklärten Fäkalien und Kanalisation.

»Suchen Sie vielleicht noch ein grafisches Komplement?«, missdeutete van de Dageraad meine Reaktion.

»Nein, es …« Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Es riecht gerade nur ein wenig streng«, bemühte ich mich um den richtigen Ton.

Der Antiquar verzog leidig die Mundwinkel. »Ach, das kommt von unten …«, winkte er ab. »Irgendwo unter dem Parkett oder den Dielen muss sich ein Riss oder ein alter Abfluss im Boden geöffnet haben, durch den der Geruch in den Laden steigt. Ich beknie die Hausverwaltung bereits seit Wochen, sich des Malheurs anzunehmen, aber bisher erhalte ich nur Vertröstungen. Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit.« Er stand auf und schwankte davon, um ein Fenster zu öffnen. »Laufen Sie mir nicht weg!«, mahnte er halb im Scherz, als er nach vollbrachter Tat den Raum durchquerte und ein weiteres, vom anhaftenden Staub nahezu blindes Buntglasfenster auf der gegenüberliegenden Ladenseite ankippte. Verkehrslärm drang von draußen herein.

»Ich mache Ihnen ein Angebot«, sagte er, nachdem er seinen Platz hinter dem Tresen wieder eingenommen und das Epistolarium eine Weile betrachtet hatte. »Wissen Sie, was ein Sachar Neshamat ist?«

»Bedaure.«

»Gut, lassen Sie es mich so erklären: Ich bin geneigt, Ihnen diese kleine Lektüre für die Zeit, die eine Übersetzung Ihrerseits beansprucht, zu überlassen – in Form einer Leihgabe.«

»Bitte?«

»Als … nun, nennen wir es Quidproquo erhalte ich von Ihnen die Adresse der Unterkunft meines alten Freundes Melchior – und den Namen, unter dem er dort weilt. Was halten Sie davon?«

Ich ging auf Distanz zu meinem Gegenüber, soweit es die Rückenlehne des Sessels zuließ. »Sie spielen doch nicht etwa mit dem Gedanken einer Vendetta, nur weil er mir diesen Tipp gegeben hat?«

»Nichts läge mir ferner«, beteuerte van de Dageraad. »Als Schöngeist wüsste ich nur zu gerne, ob er noch seiner Berufung folgt oder sich von seiner Gabe freigesagt hat. Seinerzeit, müssen Sie wissen, war er ein Genie. Und wie ich schon sagte: Ich vermisse seine begnadeten Visionen. Sollte es sich ergeben, dass ich durch unser kleines Joint Agreement an das eine oder andere Neu-Exponat gelange, wäre ich gewillt, diesen Umstand großzügig in unsere Preisverhandlung mit einfließen zu lassen.« Er legte eine rhetorische Pause ein, ehe er hinzufügte: »Unter der Voraussetzung, dass Sie das Buch wohlbehalten zurückbringen.«

»Wieso, glauben Sie, sollte ich das tun?«

»Diese Frage werden Sie sich in den kommenden Tagen mitunter selbst beantworten – sofern Sie Ihre Arbeit adäquat verrichten und den Sinn der Worte nicht entstellen. Im Moment ist alles, was hierin geschrieben steht, für Sie noch ohne Bedeutung. Eine unerzählte Geschichte. Schall und Rauch. Doch wenn Sie Ihre Arbeit akkurat und mit dem erforderlichen Gespür vollenden, zwischen den Zeilen zu lesen, werden Sie zweifellos Fragen haben. Fragen und möglicherweise auch Wünsche.«

»Was sollte mich daran hindern, damit das Land zu verlassen?«

»Das Versprechen, dass ich Sie finden und mein Eigentum zurückfordern werde. Anderenfalls mache ich Sie zu einem Zeugen – und zeige Ihnen, wie es endet.« Van de Dageraad taxierte mich. »Ich kenne diesen Blick«, sagte er und schob die Schatulle ein Stück näher zu mir heran. »Ich habe ihn bereits Tausende Male gesehen …«

Das Haus Lazarus

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