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TABULA DEXTRA: MALEBOLGE

Ich ging den Weg, den Aleyd vor 500 Jahren genommen haben musste, vom historischen Markt aus durch die westliche Altstadt bis zum ehemaligen Jansportal, wo sie wahrscheinlich ins Boot gestiegen war. Von dort aus marschierte ich entlang des Kanals, bis dieser unweit des ehemaligen Klosters Marienburg einen Bogen von fast neunzig Grad beschrieb und unter den Reihen der ehemaligen Bordelle verschwand. Die meisten Diezegrachten waren im Laufe der Zeit aus dem Stadtbild verschwunden. Manche der noch erhaltenen schmalen Gewässer, die seinerzeit als Abwasser- und Frachtkanäle gedient hatten, wirkten, als hätte vor Jahrhunderten eine schlammig-braune Flut die Stadt heimgesucht und wäre nie wieder aus den tiefen Gassen gewichen.

Wo einst jedoch der im Süden gelegene Hauptkanal entlang der alten Stadtmauer geführt hatte, verlief heute eine rege befahrene, mit Platanen gesäumte Straße. Ich folgte ihr etwa dreihundert Meter weit in östliche Richtung, ohne auf einen offenen Überrest des Gewässers oder einen Zugang zu stoßen. Sofern im Untergrund noch Abschnitte des alten Kanals existierten, war der Grachthof, in dem sich Aleyds Schicksal erfüllt hatte, allenfalls durch die Kanalisation oder die im Untergrund fließende Altdieze erreichbar.

Als ich mich in jener Gegend wähnte, in der sich vor Jahrhunderten das in den Briefen beschriebene Areal befunden haben musste, und meinen Blick über die schmutzig grauen Häuserfassaden wandern ließ, fiel mir an einem der Gebäude ein gekipptes, vom anhaftenden Staub fast blindes Buntglasfenster auf. Es war wie die benachbarten Fenster auf die gleiche Art und Weise gefertigt wie jenes, das van de Dageraad bei meinem Besuch geöffnet hatte, um den Gestank aus seinen Räumlichkeiten zu vertreiben.

Elektrisiert suchte ich eine Passage, die in die Fußgängerzone jenseits der ehemaligen Stadtmauer führte – und stand bald darauf tatsächlich vor jenem Portal, hinter dem die geschwungene Holztreppe zu den Räumlichkeiten des Antiquariats führte.

»Herr Simmonis«, erklang van de Dageraads verzerrte Stimme und ließ mich zusammenzucken. »Es ist zwar Sonntag, aber bitte, kommen Sie doch herauf!«

Ich starrte auf den Lautsprecher der Gegensprechanlage, dann hob ich den Blick und fand in einer Ecke über der Tür eine kleine unscheinbare Videokamera. Beim Summen des Türöffners rammte ich die Pforte mit der Schulter auf und stapfte die Treppe empor.

»Es war wohl Intuition, heute zu arbeiten«, hörte ich den Antiquar aus seinem Allerheiligsten rufen, kaum dass ich die obere Ladentür geöffnet und die Räumlichkeiten betreten hatte. »Sonst hätte ich Sie glatt verpasst.«

Van de Dageraad hockte hinter seinem Arbeitstisch, als hätte er sich fünf Tage lang nicht von der Stelle bewegt.

»Intuition?«, fragte ich, als unsere Blicke sich trafen. »Tatsächlich?«

»Jeder Fluss, so steht es geschrieben, mündet in seine Quelle.« Mein Gegenüber behielt sein Lächeln bei. »Wie verlief Ihre Arbeit? Sind Sie zufrieden?«

»Das bin ich keinesfalls.« Ich trat vor ihn hin und nahm unaufgefordert Platz. »Und Sie wissen genau, warum.«

»Sagen wir, ich habe eine leise Ahnung …«

Ich schloss die Augen und atmete tief durch, dann zog ich die Schatulle mit dem Epistolarium aus meiner Tasche und legte sie vor ihm auf den Tisch, wobei ich meine Hände jedoch auf dem Deckel ruhen ließ.

»Warum?«

Van de Dageraad zog die Augenbrauen zusammen, was ihn in Kombination mit seiner Bergerac-Nase einem griesgrämigen Geier ähneln ließ. »Geht es vielleicht etwas genauer?«

»Ihr ›alter Freund‹ Melchior«, half ich ihm auf die Sprünge. »Er ist tot.«

»Oh schat«, entfuhr es dem Antiquar. »Das ist wahrlich bedauerlich. Wissen Sie vielleicht, was sich zugetragen hat?«

»Sagen Sie es mir!«

Van de Dageraad zog das Kinn an die Brust. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich hätte etwas mit seinem Ableben zu tun?«, gab er sich entrüstet.

»Es ist doch ein seltsamer Zufall: Vier Tage nachdem ich Ihnen den Namen des Hotels verraten habe, segnet er just dort in seinem Zimmer das Zeitliche.«

Der Antiquar lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete seine Hände vor seiner Brust und sah mich lange und forschend an. »Herr Simmonis«, sagte er schließlich leise und ohne jedweden Grimm in der Stimme. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie alt Melchior war?« Als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Der Architekt Willem Molenbroek hatte sich nach der Einweihung seines berühmten Weißen Hauses in Rotterdam eines seiner Gemälde in sein Büro hängen lassen. Das war im September 1898.«

Ich verdrehte die Augen. Van de Dageraads Blick hingegen fand wieder die Buchschatulle. »Ich bin überrascht, dass Sie es bei sich haben«, gestand er. »Sie hatten doch bestimmt nicht vor, mich ausgerechnet heute mit Ihrem Besuch zu erfreuen.«

»Hotelzimmer sind ja offenbar nicht mehr sicher …«

Der Antiquar schürzte die Lippen, verbiss sich aber eine Bemerkung. Stattdessen fragte er: »Dürfte ich mich davon überzeugen, dass das Exponat in Ihren Händen nicht gelitten hat?«

Ich seufzte, dann schob ich die Schatulle zu ihm hin. »Wer war Elya?«, fragte ich, nachdem er sich seine Handschuhe übergestreift und ihr das Buch entnommen hatte.

»Die Schwester.« Van de Dageraad blätterte das Epistolarium vorsichtig durch und überprüfte den Zustand jeder einzelnen Seite. »Aleyds im Jugendalter dem Typhus anheimgefallene Zwillingsschwester.«

»Und wie endete die Geschichte?«

Mein Gegenüber hob den Blick. »Nun, ein Ende ist gewissermaßen immer auch ein Anfang«, erklärte er. »Das Ende dieses Briefes jedenfalls war ein Zeugnis, in dem streng gehütete Namen fielen und lästerliche Wahrheiten ausgesprochen wurden. Zu vieles von beidem, um ehrlich zu sein.«

»Dann hat also nie ein dreizehnter Brief existiert?«

»Nur das Ende jenes Berichts, dessen Sie so befremdenden Großteil Sie gelesen haben«, bestätigte van de Dageraad.

Wir taxierten uns wie rivalisierende Giftschlangen. »Sie waren es!«, dämmerte es mir. »Sie selbst haben die fehlenden Seiten herausgerissen!«

Der Antiquar schnitt eine Grimasse. »Herausreißen ist ein sehr unschönes Wort, Herr Simmonis«, erklärte er mit leicht tadelndem Unterton. »Sagen wir, ich habe sie der Geschichte entnommen. Aber …« Er klappte das Buch zu und musterte mich. »… ich habe Ihnen gleichermaßen versprochen, besagtes Ende zu erfahren, sofern Sie mir mein Eigentum wohlbehalten zurückbringen. Und das haben Sie, was ich Ihnen hoch anrechne.« Er verstaute das Epistolarium dort, wo er es fünf Tage zuvor entnommen hatte, dann erhob er sich mit einem leisen Seufzen. »Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen.«

»Folgen?«, echote ich. »Wieso lesen Sie mir die restlichen Seiten nicht einfach vor?«

»Weil ich sie damals verbrannt habe.« Van de Dageraad trat hinter seinem Refugium hervor und schlurfte zu einem Wandregal.

Ich sah ihm ungläubig nach. »Was heißt damals?«

»Anno 1813. Kommen Sie nun oder nicht?«

»Wohin?«

»Wie ich bereits sagte: Ich halte das, was sich dem Verstand unvermittelt erschließt, für die reinste Inkarnation des Göttlichen. Und was das Auge sieht, glaubt bekanntlich das Herz.«

Als van de Dageraad den vor dem Regal liegenden Läufer mit dem Fuß beiseiteschob, verrieten die Schleifspuren auf dem Holzboden, dass das Möbelstück etwas Besonderes vor den Augen der Laufkundschaft schützen musste. Ich erwartete ein Schmuckseparee oder einen Wandtresor zu erblicken und war enttäuscht, als sich dahinter keine massive Stahltür verbarg, sondern eine sehr alte, ungewöhnlich schmale Holzpforte. Der mit vier rostigen Riegeln gesicherte Zugang sah aus, als läge dahinter ein uralter Abort oder allenfalls eine Besenkammer. Durch seine Ritzen strömte just jener ekelerregend-penetrante Gestank, den ich bei meinem ersten Besuch wahrgenommen hatte.

»Was bedeutet Sachar Neshamar?«, fragte ich, als der Antiquar zuerst den dritten der vier Schließriegel öffnete.

Van de Dageraad hielt für einen Moment in der Bewegung inne. »Das fragen Sie jetzt?« Er schob kopfschüttelnd den obersten Riegel auf, dann den zweiten und schließlich den untersten. »Es ist das hebräische Wort für einen Pakt«, erklärte er. »Frei übersetzt bedeutet es ›Seelenhandel‹. Ein solcher wie der unsere wird für gewöhnlich mit Blut besiegelt.«

»Ich habe nichts dergleichen besiegelt«, stellte ich klar. »Schon gar nicht mit Blut.«

»Nun, zumindest nicht mit dem Ihren …«

Ehe ich fähig war, darauf zu reagieren, zog er die Tür mit einem Ruck auf. Der Gestank, der mir entgegenschlug, raubte mir schier den Atem – und jeden Gedanken an das zuvor Gehörte und Gesagte. Hinter der Tür führte eine gemauerte Wendeltreppe in die Tiefe, die der Händler sich ohne zu zögern anschickte hinabzusteigen.

»Kommen Sie«, klang seine Stimme dumpf herauf, als das Dunkel ihn verschluckt hatte.

Meine Befürchtung, dass der Weg in einer historischen Klärgrube endete, ließ mich zögern. Schließlich zog ich mein Smartphone aus der Manteltasche und folgte dem Antiquar im Licht des Displays, wobei ich darauf achtete, den feucht glänzenden Wänden nicht zu nahe zu kommen.

Die Treppe musste sich im Verborgenen durch das Parterre des Hauses bis ins Untergeschoss winden, wo sie in einem kurzen gemauerten Korridor endete. Eine rustikale Flügeltür versperrte nach wenigen Metern den Weg. Der herrschende Gestank ließ mich befürchten, dass ein einziger Funke zu einer Explosion führen könnte, die den gesamten Häuserblock in Schutt und Asche legte.

»Die menschliche Geburt ist ein Prozess aus Blut, Schleim, Schmerz und dem Odeur eures tiefsten fleischlichen Innern«, sagte van de Dageraad, dem der Gestank offensichtlich nicht im Geringsten auf die Sinne schlug. »Jedem Fötus haftet der Duft des Schoßes an, aus dem er geboren wird – und jeder zutiefst verwerflichen Ausgeburt menschlicher Phantasie der Geruch von Sünde, Laster und Niederträchtigkeit in ihrer reinsten, archaischsten Form.«

Dann stemmte er sich gegen die Türflügel und drückte sie auf. Die warme Dunstwolke, die in den Korridor quoll, war apokalyptisch. Hinter dem Portal herrschte jedoch keinesfalls Finsternis, und auch meine Befürchtung, eine offene Flamme könnte jederzeit ein Gemisch aus Methan und Faulgasen entzünden, erwies sich als unbegründet.

Jenseits der Pforte öffnete sich ein gut vier Stockwerke hoher, fast kreisrunder Felsenkessel, der aussah wie das Innere einer Festungsrotunde. Er maß etwa zwanzig Meter im Durchmesser und reichte unterhalb der balkonartigen Konstruktion, auf der wir standen, weitere zehn bis zwölf Meter in die Tiefe bis zu einem schlammigen Tümpel, der zweifellos die Quelle des abscheulichen Gestanks war. Überwältigt vom Fäulnisgeruch und dem Anblick des Beckens wähnte ich mich in einer altertümlichen Gerberei, deren Betreiber nach Verwesung stinkende Tierhäute noch in einer Lohbrühe aus altem Urin, Kot und Alaun bleichten. Entlang der Kesselwand führte ein aus Planken, Bohlen und Stützpfeilern gefertigtes Gerüst in einer weiten Spirale hinab zu einem den Pfuhl umschließenden Rundsteg. Er war so schwarz, als hätte ein Feuer das Holz verkohlt. Vom Ufer aus ragten vier weitere Stege in die Mitte des Tümpels, wo ein zäher, dampfender Sud aus der Tiefe emporquoll.

An der gegenüberliegenden Seite der Halle war ein großes, geschlossenes Metalltor in die Wand eingelassen. Es glich einem Schleusenportal und schien mit einem Mechanismus aus Handwinden und massiven Zahnrädern auf und ab bewegt werden zu können. Obwohl ich es zum ersten Mal sah, war es mehr als nur eine Vermutung, dass es jene tunnelartige Passage verschloss, welche den Grachthof mit dem einst hinter der Stadtmauer gelegenen Diezekanal verband.

Fraglos blickte ich auf jenen Ort hinab, an dem sich Aleyd van de Mervennes Schicksal erfüllt hatte. Aber nichts war mehr so, wie es in ihren Briefen geschrieben stand. Das Zentrum des einstigen Grachthofs war im Laufe der Jahrhunderte in Form eines primitiven Kolosseums ummauert und von den benachbarten Gebäuden getrennt worden. Obwohl ich nur schätzen konnte, wie tief die Wendeltreppe in das Fundament des Hauses hinabgeführt hatte, musste der dampfende Pfuhl am Grund der Rotunde weit unterhalb des heutigen Wasserspiegels liegen. Dort herrschte im Schein zahlloser Pechfackeln ein seltsames Treiben, das sich am treffendsten mit ›phlegmatischer Betriebsamkeit‹ beschreiben ließ. Auf den Stegen verteilt standen mehr als ein Dutzend vermummter, gedrungener Gestalten, die ihre Gesichter mit Lumpen, Tüchern und altertümlichen Fliegerbrillen vor den Ausdünstungen zu schützen versuchten. Ohne van de Dageraad oder mich eines Blickes zu würdigen, rührten und stocherten sie mit langen Stangen in der sämigen Brühe. Andere waren unentwegt damit beschäftigt, die erstarrte schwarze Kruste vom Holz der Stege zu kratzen und in den Tümpel zurückzuwerfen. Ab und an glaubte ich für einen Augenblick Dinge aus der wallenden Masse ragen zu sehen, die aussahen wie Brust- oder Rückenflossen, warzenbedeckte Buckel oder gar schwarze, rudimentäre Hände mit drei oder vier plumpen, stummelartigen Fingern.

»Was um Gottes willen ist das?«, stieß ich angewidert hervor, als ich die Sprache wiedergefunden hatte.

Van de Dageraad schnaubte abfällig durch die Nase. »Ginge es nach Gott, würde dieser Ort gar nicht mehr existieren …« Er trat ans Geländer und breitete die Arme aus. »Das, Herr Simmonis, ist alles, was von der Pracht Edens übrig geblieben ist.«

»Eden?«, wiederholte ich mit schwerer Zunge. Die Dämpfe, die den riesigen Kessel schwängerten, wirkten auf fast schon widerwärtige Art berauschend und begannen meinen Verstand zu vernebeln.

»Nicht gerade eine Augenweide, ich weiß.« Die Mundwinkel des Antiquars verzogen sich zu einem gehässig-spöttischen Lächeln. »Jeder Paradiesgarten mag durch göttliche Hand erblühen und vergehen. Was ihr Idyll letztlich überdauert, sind ihre Malebolgen, die Sündenpfuhle menschlichen Sinnens und Strebens.«

»Wollen Sie mir weismachen, hier habe der Garten Eden gelegen?« Ich bemühte mich gar nicht erst, meiner Stimme einen Ausdruck zu verleihen, als würde ich van de Dageraad ernst nehmen. »In Brabant?«

»Nicht der Garten, Herr Simmonis. Ein Garten. Es existierte nicht nur ein einziges Paradies. Und keinesfalls auch nur zu einer einzigen Zeit. Das hier ist nicht die erste Menschheit. Und es wird beileibe nicht die letzte bleiben. In den Hunderten von Millionen Jahren, in denen Leben auf diesem Planeten existiert, gab es viele Edengärten. Jeder von ihnen hatte seinen lauteren Lebensquell, seinen leuchtenden Baum der Erkenntnis, einen Hain schamloser Lebensfreude, den Nimbus der Harmonie allen Seins – und seinen Uterus der Sünde, an dessen Ufern stets Zwielicht herrscht. Die Malebolgen mögen vielleicht nicht der Anfang des göttlichen Plans gewesen sein, aber sie sind stets das Ende.«

»Und welche Rolle spielen Sie in diesem sogenannten ›Plan‹?«

»Ich führe Buch über jede Ausgeburt, die dem Zwielicht entsteigt.« Van de Dageraad wandte sich zu mir um. »Ich gebe ihr den Namen und die Form und weise ihr den Weg zu dem menschlichen Ungeist, der sie ersonnen hat.« Er deutete in die Tiefe. »Sehen Sie!«

Ich blickte hinab auf den Schlammtümpel. Von den Stangen der Vermummten ans Ufer dirigiert, begann ein amorphes Ding aus dem Wasser zu kriechen, das aussah wie eine riesige, mit rudimentären Gliedmaßen ausgestattete Molluske. Und es war beileibe nicht das erste seiner Art. Unter dem Dunstschleier kaum von den rundgeschliffenen, pechbedeckten Uferfelsen zu unterscheiden, entdeckte ich vier oder fünf weitere dieser Kreaturen, welche wie Föten zusammengerollt reglos am Ufer lagen.

Entgeistert musterte ich den Antiquar. »Sie sind der Bylar aus Aleyds Briefen …«

Mein Gegenüber deutete eine Verbeugung an. »Bel Arion, um korrekt zu sein.«

»Aber – das war vor fünfhundert Jahren!«

»Fünfhundertfünfzehn.« Van de Dageraad hob lauernd seinen Pinguinkopf. »Ich erlaube Ihnen dieses eine Mal, meinen Namen laut auszusprechen, Herr Simmonis. An diesem unheiligen Ort und zu dieser unheiligen Stunde. Tun Sie es ein zweites Mal, egal wie, wo, wem gegenüber oder wann, werde ich Ihre Zunge kürzen. Tun Sie es ein weiteres Mal, werde ich dafür sorgen, dass Ihnen wie dem bedauernswerten Melchior die Augen in den Höhlen verfaulen oder jede noch so köstliche Speise, die Sie zu sich nehmen, nach warmem menschlichem Kot und jeder Trank nach Urin schmecken wird.«

Er erwiderte meinen Blick, wobei er zu ergründen schien, ob ich ihn beim Wort nahm oder alles für einen schlechten Scherz hielt. »Nichts für ungut«, fügte er schließlich hinzu. »Morgen schon werden Sie kaum noch einen Gedanken daran verschwenden. Kommen Sie, ich möchte Sie einer alten Freundin vorstellen.« Van de Dageraad ging an mir vorbei und betrat den abwärtsführenden Steg. »Können Sie zufällig mit Pinsel und Farbe oder mit spitzer Feder umgehen?«, fragte er und sah über seine Schulter. Ich trottete ihm nach, wobei ich den Kopf schüttelte, um den verdammten Nebel aus meinem Verstand zu kriegen. »Keine Sorge, Sie werden es lernen«, fügte der Antiquar hinzu, als ich nicht antwortete. »Nun, da Sie ein Zeuge sind …«

Ich fühlte, wie die stinkenden Schwaden zusehends meine Sinne betäubten. »Ein Zeuge?«, wiederholte ich mit schwerer Zunge. »Wovon?«

»Der Dämmerung, Herr Simmonis. Des Zwielichts. Der Schattenwelt.« Er blieb stehen und wandte sich um. »Und natürlich ein Zeuge meiner Existenz.«

Ich kann nicht genau beschreiben, was er im nächsten Moment tat, als er wie in festlicher Euphorie die Arme hob. Es sah aus, als würde er mit beiden Händen über sich greifen, um die vermeintliche Wirklichkeit zu packen und sie wie eine dünne Stoffkulisse vor sich niederzureißen. Was im nächsten Augenblick vor mir stand, hatte mit einem Menschen kaum noch etwas gemein. Und doch glaubte ich ein Abbild dieser in einen Kapuzenumhang gekleideten Kreatur schon einmal gesehen zu haben: auf der Paradiestafel des Lustgarten-Altargemäldes, das Bosch für den Grafen von Nassau angefertigt hatte. Aber die seinem Kopf entwachsende Anomalie war keinesfalls eine Pestmaske oder gar ein langer Schnabel, wie Aleyd dereinst beim Betrachten des halb fertigen Bildes gemutmaßt hatte. Und auch ihr Unvermögen, des Nachts im Grachthof das Gesicht des Fremden zu erkennen, hatte nicht an der Dunkelheit gelegen – es gab schlichtweg keines. Aus der amorphen Schwärze unter der Kapuze ragte ein Paar armlanger, dornenbewehrter Fangzangen, die aussahen, als könnten sie einem Menschen mühelos den Kopf abtrennen.

»Was sind Sie?«, presste ich entsetzt hervor.

»Der Herr der dunklen Musen«, antwortete die Kreatur, wobei die monströsen Mandibeln sich im Rhythmus der Worte öffneten und schlossen. »Betrachten Sie meinen weltlichen Namen als Allegorie meines wahren Ichs – sofern Sie ihn zu deuten wissen.«

Ich wollte herumwirbeln, um diesem Albtraum zu entfliehen, aber meine Beine gehorchten mir nicht. Was auch immer dampfend aus der Tiefe des Pfuhls emporquoll, betäubte meinen Verstand. Der graue Dunst, den ich einatmete, lähmte meinen Geist, erstickte jeglichen Widerstand und machte mich auf erschütternde Weise gefügig. Es fiel mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn mich verständlich zu artikulieren.

»Was wollen Sie von mir?«, brachte ich Wort für Wort mühsam über die Lippen.

»Nicht mehr als auch Gott von Ihnen verlangen würde: Hingabe. Ergebenheit. Selbstaufopferung, so heißt es, ist das Wunder, dem alle anderen Wunder entspringen. Also werden Sie ab heute tun, was seit dem Vergehen des letzten Edengartens ein jeder treue Zeuge bis heute tut: die Menschen daran erinnern, wie gut sie es einst hatten – und vom ewigen und unabwendbaren Scheitern jedes irdischen Paradieses auf Erden zeugen.« Er ergriff meine Arme, hob sie an und presste sie gegeneinander. »Nun lassen Sie mich Ihre Hände segnen …« Dann schnappten seine Fangzangen zu und trieben ihre Dornen tief in mein Fleisch.

Obwohl der Schmerz überwältigend war, drang nicht der leiseste Wehlaut aus meiner Kehle. Ich fühlte, wie etwas Heißes in meine Adern strömte und sich in meinem Körper auszubreiten begann.

»Du wirst Melchiors Platz einnehmen, Jakob«, drang van de Dageraads Stimme wie aus weiter Ferne zu mir durch. »Es ist eine Tugend, seinem Leben neuen Sinn zu verleihen, um einem höheren, wahrhaftigeren Ziel zu dienen. Heute bist du noch voll der Furcht und Schmerzen, doch schon morgen wird deine Angst der Erleuchtung und einem nie gekannten Schaffensdrang gewichen sein.« Er wandte sich um und setzte seinen Weg fort. »Mit der Morgenröte, Jakob«, hörte ich ihn sagen. »Mit der Morgenröte …«

Während ich der bizarren Kreatur willenlos hinterhertrottete, trafen wir auf nackte, pechverschmierte Gestalten, die apathisch auf dem Steg kauerten und an Zahl zunahmen, je tiefer wir hinabgelangten. Als sie uns kommen sahen, begannen sie sich zu regen. Manch ein Gebaren wirkte auf mich, als würden sie sich stumm bedanken, während andere aussahen, als flehten sie gestenreich um Gnade oder Erlösung. Einige versuchten gar zu sprechen, doch statt verständlicher Worte strömte aus ihren Mündern nur ein Schwall aus stinkendem schwarzem Schlamm.

Van de Dageraad ließ sich zu keiner Reaktion herab, sondern schritt an ihnen vorbei oder über sie hinweg, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Am unteren Ende des Gerüstes angelangt gebot er mir stehen zu bleiben und blickte über seinen Sündenpfuhl.

»Aleyd!«, rief er, woraufhin eine der vermummten Gestalten auf den Stegen sich langsam umwandte und zu uns herüberblickte. »Sieh, du hast einen neuen Schüler!«

Das Haus Lazarus

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