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WIR HÄTTEN MEHR MITEINANDER REDEN SOLLEN Über Missverständnisse zwischen Ost und West
ОглавлениеEs gibt Missverständnisse, die Menschen klar machen können, wie wenig sie voneinander wissen. Zumindest könnten sie das, wenn man sie auflösen würde. Wenn das nicht geschieht, können sie sich jahrelang halten. Manchmal halten sie sich ein Leben lang. Das Missverständnis, um das es hier geht, ist im April 30 Jahre alt geworden, ohne aufgelöst worden zu sein – bis jetzt. Wahrscheinlich hätte ich es vergessen, aber als mich eine Freundin zum ersten Mal zu Hause besuchte, zog sie einen großformatigen Band aus meinem Bücherregal und fragte interessiert: »Was ist denn das für ein Buch?«
Es war das Buch, das auch diesem hier seinen Namen gibt: Vom Sinn unseres Lebens. Bevor sie es aufschlagen konnte, stürzte ich zu ihr und riss es ihr schnell aus der Hand. Ich wollte sie auf den Inhalt vorbereiten, der sich mit Sicherheit von ihren Vorstellungen unterschied, und das nicht nur, weil sie in Baden-Württemberg aufgewachsen ist. Während ich ihr ein paar Passagen vorlas, die sie mit ungläubigem Lachen quittierte, fiel mir ein, dass dieses Buch der Grund für ein Missverständnis war, an das ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.
Es gibt ein Foto von mir, das am 16. April 1989 aufgenommen wurde und auf dem ich am Tag meiner Jugendweihe zu sehen bin. Nicht einmal sieben Monate später fiel die Mauer, aber das ahnte ich damals natürlich noch nicht. Ich war einen guten Monat zuvor 14 geworden und genau so sehe ich auf dem Bild auch aus. Ich trage ein schwarzes Cordjackett zu einer weißen Hose, die aus einem Westpaket stammten, das Freunde meiner Eltern aus Mannheim geschickt hatten, dazu einen schmalen Lederschlips meines Bruders. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Krawatte anhatte und ich hatte sie mir in die Hose gesteckt, was man auf dem Foto glücklicherweise nicht sieht, weil ich mit stolzem Lächeln das Buch in die Kamera halte, das meine Freundin fast 30 Jahre darauf aus meinem Bücherregal zog.
Vom Sinn unseres Lebens ist ein Buch, das seit 1983 jeder Schüler der DDR zur Jugendweihe geschenkt bekam. Ein Propagandaband, der uns zu Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft erziehen sollte, aber nicht wirklich ernst zu nehmen war. Auf dem ersten Foto des Buches ist vor dem Hintergrund einer endlosen Plattenbaufassade Erich Honecker zu sehen, der in die lachenden Gesichter von jungen FDJlern blickt. Die befinden sich vor Glück, ihm gegenüberzustehen, offenbar kurz vor einem ernst zu nehmenden Kontrollverlust, obwohl sie der Aura eines blassen alten Mannes ausgesetzt sind, den wir schon mit 14 Jahren eher bemitleideten. Für mehr reichte es nicht. Die Hassobjekte Ende der 80er waren in der DDR eher seine Frau Margot, die Bildungsministerin war, oder Karl-Eduard von Schnitzler, der die verhasste Propagandasendung Der schwarze Kanal moderierte.
Vom Sinn unseres Lebens richtete sich an die Jugend. Doch in dem Buch waren ausschließlich Fotos von jungen Menschen zu sehen, mit denen man nicht wirklich etwas zu tun haben wollte. Uncoole Menschen mit austauschbaren Gesichtern, denen man ansah, dass ihre einzige Chance im Leben eine SED-Funktionärslaufbahn war. Menschen, die in meinem Umfeld nicht vorkamen. Außer mein Staatsbürgerkundelehrer Herr Sigusch, dessen Ausstrahlung einem schon klar machte, dass er keine andere Wahl hatte, als Staatsbürgerkunde zu unterrichten.
Es war ein Buch, in dem es Überschriften gab wie »Der Marxismus-Leninismus – unser Kompass« oder »Du und der Sozialismus«. Oder in dem existenzielle Fragen behandelt wurden wie »Hat das Kollektiv immer recht?«. Das zieht einen sofort rein. Da möchte man natürlich sofort weiterlesen.
Den größten Raum des Inhaltsverzeichnisses nimmt die Überschrift des zweiseitigen Vorwortes ein, weil Erich Honecker Wert darauf legte, dass seine offiziellen Titel immer vollständig ausgeschrieben wurden. »Geleitwort des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik« steht da. In Großbuchstaben. Gott. Unlesbar. Eine Überschrift, die in ihrer Wirkung allerdings die bleiernen 80er-Jahre der DDR sehr treffend zusammenfasst. Sie ist in ihrer Art gewissermaßen die richtige Metapher.
In dem Kapitel mit der verheißungsvollen Überschrift »Ein sinnvolles und erfülltes Leben – was gehört dazu?« war der Fahneneid der Nationalen Volksarmee abgedruckt. Vollständig. Besser kann man das Konzept des Buches wohl nicht zusammenfassen.
Es war alles ein großes Missverständnis. Das Buch war ernst gemeint, aber man konnte es einfach nicht ernst nehmen. Sie hatten alles falsch gemacht.
Es mit stolzem Lächeln in die Kamera zu halten, war natürlich eine ironische Geste. Genauso gut hätte ich auch das Parteiprogramm der SED hinhalten können oder eine Verpflichtungserklärung als informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Daraus entstand ein weiteres großes Missverständnis.
Bei Wikipedia gibt es eine hinreißende Beschreibung, warum Ironie nicht verstanden wird: »Um Ironie erkennen zu können …, müssen verschiedene Teile des Gehirns zusammenarbeiten. Wenn eine Person die soziale Situation nicht versteht (beispielsweise wegen … fehlender Übung oder Intelligenz), kann sie Ironie – und damit auch ironischen Sarkasmus – nicht als solche identifizieren.«
So ging es meiner westdeutschen Verwandtschaft mit diesem Bild. Weil das Foto von einem professionellen Fotografen aufgenommen wurde, war es das verwertbarste Bild des Tages, um es an die Verwandtschaft zu schicken. Meine Eltern ließen viele Abzüge machen und verschickten sie, unter anderem auch nach Westdeutschland. Es stand lange Zeit in Schrankwänden in konservativen Gegenden in Bayern. In sehr konservativen Gegenden in Bayern, die ein Bekannter, der dort aufgewachsen ist, mit den Worten »Man ist braun, aber man redet nicht drüber«, beschrieben hat. Nun stand da in diesen bayrischen Eichenschrankwänden ein junger Mensch, der stolz ein Buch in die Kamera hielt, dessen Inhalt so ziemlich allen Haltungen und Überzeugungen widersprach, die den Besitzern dieser Schrankwände bedeutend erschienen. Und sie hatten keine Ahnung ...
Wie wenig die Westler von den Ostlern wussten, hätte sich sicherlich gut an dem Grad der Missverständnisse über misslungene Ironie messen lassen, die zwischen ihnen entstanden. Die Geschichte als ich mit meinen Eltern Anfang der 90er-Jahre zum ersten Mal meinen Bruder in Freiburg besuchte, der dort inzwischen lebte, ist dafür ein wunderbares Beispiel. Wir machten gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar meines Bruders einen Spaziergang auf dem Schlossberg. Vor unserer Ankunft hatte es einige Tage geregnet, aber nun war einer dieser perfekten Spätsommernachmittage. Von dem Berg hatte man einen wundervollen Blick über die Stadt. Am Rand des Pfades entdeckten wir immer mal wieder Pilze, die meine Eltern bestimmen konnten. Das beeindruckte die Freiburger Freundin meines Bruders sehr.
»Warum kennt ihr euch eigentlich so gut mit Pilzen aus?«, fragte sie, und als sie einen Moment lang nachdachte, war sie auf einmal peinlich berührt, weil sie meinte, eine Taktlosigkeit begangen und ein viel zu sensibles Thema berührt zu haben. Sie befürchtete, dass ihre Frage in eine noch frische offene Wunde zielte. Sie suchte verlegen nach den richtigen Worten und entschloss sich, sie selbst zu beantworten.
»Aber natürlich«, sagte sie sanft. »Ihr musstet euch ja auskennen. Ihr habt da natürlich einen ganz anderen Blick als wir. Bei euch gab’s doch kaum was zu Essen, da war man darauf angewiesen, im Wald Nahrung zu sammeln.«
Ihre Stimme war voller Anteilnahme. Meine Eltern sahen sie entgeistert an. Sie wussten gar nicht, wie sie angemessen auf diese Äußerung reagieren sollten. Dann sagte meine Mutter allerdings etwas Überraschendes.
»Stimmt«, erwiderte sie mit einem traurigen Lächeln. »Darum kennen wir uns auch mit Beeren so gut aus. Es war die einzige Chance, um überhaupt überleben zu können.«
»Ja«, stimmte mein Bruder mit belegter Stimme zu. »Wir wären sonst verhungert. Damals …«
Sie haben die Situation etwas später aufgelöst – natürlich – und es war der Freiburger Freundin noch unangenehmer als zuvor – natürlich.
Allerdings hat mich die Ironie ihrer Antwort geprägt. Zum ersten Mal fiel mir das auf, als ich sieben Jahre darauf nach Köln zog, um dort in einer Werbeagentur zu arbeiten. In Köln hörte ich zum ersten Mal den Begriff »Zone« für die DDR, ein Begriff, der mich damals ziemlich erschütterte. Die Wende war mittlerweile zehn Jahre her, aber von den 150 Mitarbeitern gab es nur einen, der aus Ostdeutschland kam. Mich. Ich war gewissermaßen der Quotenossi. Der Exot. Ich kenne nicht wenige Ostdeutsche, denen es damals peinlich war, als Ostdeutsche erkannt zu werden. Es waren Ostler, die für einen Westler gehalten werden wollten. In Köln griff bei mir allerdings ein umgekehrter Mechanismus. Erst die Umstände in dieser Stadt haben mich zu einem sehr selbstbewussten Ost-Berliner gemacht.
Mir hört man ja an, dass ich aus Berlin komme und ich wurde oft auf meinen Dialekt angesprochen.
»Kommst du aus Berlin?«, fragten sie.
»Nein«, erwiderte ich selbstbewusst. »Aus Ost-Berlin.«
Ich bin in einem geburtenstarken Jahrgang geboren, in dem das Land mit Michaels geradezu überschwemmt wurde. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Eltern ihre Söhne aus demselben Grund Michael genannt haben, wie meine Eltern es taten. Der Name wurde von einem Song inspiriert. Im Jahr vor meiner Geburt hatte Nina Hagen einen Hit mit Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael. Meine Mutter hat mir erzählt, dass der Text des Liedes etwas vollkommen Neues war. »So etwas gab es vorher nicht«, sagte sie und erklärte, dass in dem Text auf intelligente Art Missstände der Mangelwirtschaft angesprochen wurden. Es war ein Lied, in dem sich viele wiederfanden.
So gesehen wurde ich nach einen popkulturellem Phänomen benannt, aber als einige meiner Kölner Kollegen erfuhren, dass ungewöhnlich viele Michaels zu meinem Berliner Freundeskreis gehörten, erzählte ich nicht die Wahrheit, sondern entschied mich für Ironie. Ich erzählte, dass zu DDR-Zeiten pro Jahr drei Mädchen- und drei Jungennamen gewissermaßen gesetzlich festgelegt wurden. Anders durfte man die Kinder, die in dem entsprechenden Jahr geboren wurden, nicht nennen. Darum gäbe es in unserem Jahrgang so viele Michaels. Das wurde geglaubt, ein Umstand, der mich selbst überraschte. Und der mir auch zeigte, wie viel es noch zu besprechen gab.
14 Jahre später habe ich in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg aus einem meiner Bücher gelesen. Auch wenn das Hotelzimmer, in dem ich untergebracht war, sehr sauber war, wirkte es irgendwie staubig und altbacken mit seinen schweren Möbeln im Eiche-Rustikal-Stil. In Deutschland gilt ja offenbar die Regel: Je mehr Möbel in einem Raum stehen, desto gemütlicher ist er. So auch hier. Im hinteren Teil des Zimmers stand ein runder Tisch, mit einem geklöppelten Deckchen. In der Mitte des Tisches befand sich ein Aschenbecher, auf dem ein gefaltetes Kärtchen mit dem Hinweis »Bitte rauchen Sie hier nicht« stand. Es war grotesk. Ein mit schweren Eiche-Rustikal-Möbeln vollgestelltes Nichtraucherzimmer, mit einem Aschenbecher samt Hinweisschild, nicht zu rauchen. Ich blickte zu den Gardinen, hinter denen sich eine Landschaft ausbreitete, die normalerweise Heimatfilm-Assoziationen auslöst, aber ich kam mir wie die Nebenfigur in einem David-Lynch-Film vor. So gesehen befand ich mich praktisch in einem Heimatfilm für Leute, die keine Heimat hatten. Obwohl es natürlich Unsinn war, einen Zusammenhang herzustellen, ahnte ich dunkel, wie der Abend verlaufen würde. Was soll ich sagen, es war eine Ahnung, die sich bestätigen sollte.
Ich muss dazu sagen, dass das Publikum nicht ganz meiner Zielgruppe entsprach. Der jüngste Mensch im Raum war ich. Ich las eine Stunde. Das Schweigen meiner Zuhörer war irgendwann so unerträglich, dass es praktisch eine physische Präsenz bekam. Man konnte es beinahe berühren. Mit anderen Worten: Ich war nicht unbedingt ihr Genre. Es gab keine Reaktionen, die Dinge, die mich in meinen Texten beschäftigten, betrafen hier niemanden.
Während ich gegen die bedrückende Stille anlas, überlegte ich, ob es in meinem Hotelzimmer eine Minibar gab. Ich hoffte nicht. Wenn ich von dem dumpfen Druck auf meinem Magen ausging, würde ich, wenn sich die Rezeptionistin am nächsten Morgen danach erkundigen würde, ob ich etwas aus der Minibar genommen hätte, wahrscheinlich mit belegter Stimme erwidern: »Ja, alles.«
Doch dann fiel mir etwas ein. Ich griff nach dem letzten Strohhalm und las einen Text, in dem sich unter anderem einige Anekdoten aus meiner Kindheit in Ost-Berlin befanden. Als ich aufsah, hatten sich die Gesichter verändert, in ihnen leuchtete zum ersten Mal aufrichtiges Interesse. Sie wollten mehr. Ich spürte es. Also legte ich die Texte zur Seite, ließ sie Fragen stellen und begann, zu erzählen. Die Fragerunde dauerte zwei Stunden. Es war die längste Fragerunde meiner Schriftsteller-Karriere. Das Interesse war da, aber ich konnte kaum glauben, wie wenig sie vom Osten wussten.
Schon zehn Jahre nach der Wende hätte ich gedacht, dass das alles weitere zehn Jahre später kein Thema mehr sein würde. Aber als die Wiedervereinigung 2018 genauso lange her war, wie die Mauer gestanden hatte, und die Pegida durch Dresden zog, erschien die ostdeutsche Seele immer noch als ein großes Geheimnis, das jetzt zu einem dunklen Geheimnis geworden war.
Wenn ich in letzter Zeit Freunde oder Bekannte traf, die im Westen aufgewachsen sind, und von den Inhalten aus diesem Buch hier erzählte, das ich gerade schrieb, stellten wir häufig überrascht fest, dass wir uns nie darüber ausgetauscht hatten. Es gab also einiges nachzuholen.
Mein Freund Christoph, der in den 80er-Jahren in Bayern aufgewachsen ist, erzählte mir gleich, dass in den Geschichtsbüchern die DDR kaum erwähnt wurde. »Für uns war das besetztes Gebiet, ein Teil der Sowjetunion sozusagen«, sagte er. »Ich hab damals wirklich gedacht, in der DDR wird nur russisch gesprochen.«
Mein Freund Jan, der 1989 acht Jahre alt war und in West-Berlin unmittelbar an der Grenze wohnte, erzählte mir: »Ich kannte als Kind natürlich die Zusammenhänge nicht, aber von unserer Schule konnten wir diese martialischen Grenzanlagen sehen und da hab ich mich als Kind tatsächlich gefragt, was für Menschen im Osten leben, dass man so einen Aufwand betreibt, um uns vor ihnen zu beschützen.«
Beide Geschichten werden von einem Erlebnis aus meiner Schulzeit untermauert. Als die Mauer fiel, ging alles sehr schnell. Ein Staat ging unter und weil mit ihm auch seine Weltsicht unterging, wurden zugleich viele unserer damaligen Schulbücher unbrauchbar, die sich mit Geschichte oder dem Weltgeschehen beschäftigten. Sie passten nicht mehr in die Zeit. Ich war damals in der 9. Klasse, erlebte also praktisch als Betatester mit, wie das Schulsystem neu geordnet wurde. Neue Schulbücher waren noch nicht geschrieben. Also schickten uns Schulen aus den alten Bundesländern ihre Bücher. Es war eine schöne Geste der Solidarität. Einige dieser Bücher waren nützlich, andere nicht so. Einmal erhielt unserer Schule zum Beispiel kistenweise Geschichtsbücher aus Bayern. Als die Bücher verteilt wurden, griffen wir gierig nach ihnen. Sie waren schließlich aus dem Westen. Während ich jedoch in meinem Exemplar zu blättern begann, überkam mich ein unangenehmes Gefühl, das sich immer drückender in mir ausbreitete. Ich las die Teile, die die DDR betrafen, ich las von Bolschewisten und roter Gefahr. Die Texte klangen, als hätte Franz Josef Strauß die Endfreigabe gemacht, nachdem er alles noch mal auf CSU-Linie redigiert hatte. Nach und nach verstand ich den Grund für mein unangenehmes Gefühl: Sie schrieben über mich. Ich war der Feind, der dort beschrieben wurde. Das Buch war ein Produkt des Kalten Krieges, genauso wie die Geschichtsbücher, mit denen wir bisher gelernt hatten. Es passte ebenso wenig in die Zeit. Jede zweite Zeile war gewissermaßen vom Kalten Krieg durchtränkt. Damit war das Buch bereits selbst zu einem historischen Objekt geworden – obwohl die Mauer erst vor einigen Monaten gefallen war. Unsere Lehrer sammelten die bayrischen Lehrbücher mit einer gewissen Verlegenheit wieder ein. Wir haben sie nie benutzt, wir haben sie nicht einmal wiedergesehen.
Ich muss gestehen, dass ich oft mit der arroganten Haltung durchs Leben ging, dass die Ostdeutschen die interessanteren Deutschen seien, weil wir einfach die interessanteren Geschichten zu erzählen hätten. Dass der letzte deutsche Film, der einen Oscar gewonnen hat Das Leben der Anderen war, bestätigte mir, dass auch Hollywood diese Auffassung teilt. Aber in den Gesprächen, die sich aufgrund dieses Buches hier mit meinen Freunden aus dem Westen ergaben, entdeckte ich die weißen Flecken auf meiner eigenen Karte. Sie erzählten mir Dinge, von denen ich gar nichts wusste und die neu und interessant für mich waren. Es waren Gespräche, aus denen wir mit dem Gefühl gingen, uns besser kennengelernt zu haben, auf einer anderen Ebene sozusagen. Wir verabschiedeten uns mit einem festen, herzlichen Händedruck. Vielleicht war er so herzlich und fest, weil wir begriffen, wie wenig wir bisher voneinander gewusst hatten. Und dass wir gerade den Anfang gemacht hatten, das zu ändern.
Um die vielen Missverständnisse zwischen Ost und West aufzulösen, hätte man mehr miteinander reden müssen. Um einander besser zu verstehen und unser Bild voneinander nicht mit Vorurteilen zu zementieren. Das haben wir in den vergangenen 30 Jahren verpasst. Es gibt Redebedarf, mehr denn je – und nicht im negativen Sinn. Die Umstände der heutigen Zeit sind ein guter Anlass, um miteinander zu reden, um einander kennenzulernen. Und zwar wirklich kennenzulernen. Das ist für alle Beteiligten ein Gewinn.