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»HAB ICK DRUFF« Vom Zwang, unser Leben dokumentieren zu wollen

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Ich genieße es sehr, hin und wieder in meine Vergangenheit einzutauchen. Ich besitze einen Karton, in dem ich die Fotos aufbewahre, die sich über die Jahre meines Lebens angesammelt haben. Die Bilder sind nicht geordnet oder sortiert, die Zeiten meines Lebens liegen ungeordnet und vermischen sich. Darum ist das Betrachten der Bilder immer von Zufällen bestimmt. Manchmal fällt mir ein Bild in die Hand, das eine schon lange verblasste Erinnerung heraufholt. Ich betrachte das Bild und frage mich dann, ob ich überhaupt noch einmal daran gedacht hätte, wäre mir nicht genau dieses Foto in die Hände gefallen. Die Fotos sind Verbindungen zu meiner Vergangenheit, ein Auslöser, sich die damaligen Momente noch einmal zu vergegenwärtigen. Sie sind Anhaltspunkte, um meine Erinnerungen zu bewahren.

Aber mit Erinnerungen ist es ja so eine Sache. In dem Film Lost Highway verneint Fred Madison, der von Bill Pullman verkörpert wird, die Frage, ob er eine Videokamera besitzt, mit einem wunderbaren, fast schon poetischen Argument. Er sagt: »Ich erinnere mich an die Dinge lieber auf meine Art.« Das ist ein schöner Satz, der mich auf eine seltsame Weise berührt. Ich glaube, ich verstehe, was er meint. Vor einigen Jahren machte ich den Fehler, mir noch einmal einen Film anzusehen, den ich als Kind sehr mochte. Es handelte sich um Ein Tollpatsch kommt selten allein, in dem Gérard Depardieu und Pierre Richard die Hauptfiguren spielen. Der Film hat mich als Kind begeistert und ich sah ihn mir wohl noch einmal an, um diese kindliche Begeisterung wiederzubeleben, gemischt mit einer angenehm melancholischen Nostalgie. Ich war voller Erwartungen, in meine Vergangenheit einzutauchen. Ich spürte jedoch schon nach 20 Minuten, dass mir inzwischen der Zugang auf mehreren Ebenen komplett fehlte. Es wurde nicht nur kein Gefühl wachgerufen, es war noch schlimmer: Der Zauber, den meine Erinnerung mit dem Film verband, war für immer verschwunden. Seitdem vermeide ich es, Filme anzusehen, die mich in meiner Kindheit berührt hatten.

Ähnlich geht es mir mit der DDR. Der glänzende Zauber der Vergangenheit liegt natürlich auch auf meinen Erinnerungen an das Land, in dem ich aufgewachsen bin. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens, denn ich habe eine glückliche Kindheit dort verbracht. Und gerade daran wird mir klar, wie sehr Erinnerungen an das Alltägliche das Besondere ausmachen, wie sie eine konzentrierte Vergangenheit erschaffen, eine Aneinanderreihung von Erlebnissen, die mir etwas bedeuten. Der Rest findet nicht statt. Ich habe zum Beispiel die Fahnenappelle, zu denen alle Klassen unserer Schule jeden Mittwoch antreten mussten, vollkommen verdrängt. Meine Eltern bewahren einen Brief auf, den ich ihnen als Achtjähriger aus dem Ferienlager geschickt habe, in dem diese Appelle offenbar auch üblich waren. Ein Satz des Briefes lautet: »Der Appell war langweilig und wegen der ständigen Hitze sehr unangenehm.« Ich habe kein Bild zu diesem Satz, als wäre es jemand anderem passiert. Als wären es die Erlebnisse eines Fremden.

Mit der Wende wurden die Erinnerungen dann durch die technischen Möglichkeiten konkreter. Als die Mauer fiel, war eine der ersten Anschaffungen meiner Eltern eine Videokamera. Seit 1990 wurde jedes Weihnachtsfest, jeder Geburtstag, jede Reise aufgenommen. Wenn sich ein Unbeteiligter diese Filme ansehen würde, müsste er wohl annehmen, meine Mutter wäre alleinerziehend gewesen. Mein Vater ist kaum zu sehen, weil er immer hinter der Kamera war.

Ich schaue lieber die Fotos als die Filme an. Ein Foto, dieser Sekundenbruchteil eines Lebens, gibt einem noch Spielraum für die damit verbundenen Erinnerungen, die diesen kurzen Ausschnitt umgeben. Aber ein Film nimmt einem die Erinnerungen ab. Er tötet gewissermaßen die Fantasie.

Inzwischen sind die technischen Möglichkeiten so enorm, dass ich den Eindruck habe, die Dinge hätten sich verselbständigt. Der Zwang vieler, alles zu dokumentieren, was ihnen so passiert, um es dann einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, hat ein irres Ausmaß angenommen. Es ist eine Sucht geworden, verwackelte Bilder von Konzerten, ästhetisch von oben fotografiertes Essen oder Selfies mit den immer gleichen Gesichtsausdrücken zu posten. Als wären immer mehr Menschen danach süchtig, zu zeigen, wie aufregend das eigene Leben ist. Als würden wir uns in einem anhaltenden Wettbewerb der Darstellung unseres Glücks befinden. Man könnte sich jetzt natürlich fragen, warum man ständig anderen und vor allem sich selbst beweisen will, wie gut es einem geht. Wenn man wirklich glücklich ist, muss man es ja eigentlich nicht beweisen.

Ich finde auch, dass es Momente gibt, die lieber in der Unschärfe bleiben sollten, um sich selbst die Chance zu geben, sie zu verklären. Aber die Technik hat offenbar die Kontrolle übernommen. Die Überlegungen der meisten kreisen eher darum, mit welchen technischen Mitteln man den Moment am besten aufnimmt. Sie schieben sich gnadenlos über die Erwägungen, ob er generell für die Nachwelt festgehalten werden sollte.

So ein unreflektierter Dokumentationszwang kann schnell mal in die unfreiwillige Komik von Realsatire abdriften. Meistens fällt mir das natürlich in Situationen auf, die ich mit einem gewissen Abstand betrachten kann, weil sie mich nicht direkt betreffen. Wie zum Beispiel die Unterhaltung, an der ich vor einigen Wochen teilgenommen habe, mit lauter Vätern und einem werdenden Vater. Ich hatte also als kinderloser Single einen Logenplatz mit Blick auf die Befindlichkeiten innerhalb einer Gedankenwelt, die ich so noch nicht kannte.

Hannes war der werdende Vater, der von den anderen beraten wurde. Es ging unter anderem darum, wie man seinen Hund an das Neugeborene gewöhnt, und zwar indem man eine vollgekackte Windel aus dem Krankenhaus mit nach Hause bringt, um das neue Familienmitglied sozusagen schon mal olfaktorisch einzuführen.

»Aber«, rief Jakob plötzlich und warf Hannes einen bedeutungsschwangeren Blick zu, bevor er eindringlich hinzufügte: »Der größte Fehler, den wir gemacht haben, war es, bei der Geburt nicht genug gefilmt zu haben.«

Wie bitte?, dachte ich, zögerte aber, bevor ich lachte, weil alle wissend nickten. Jakob hatte offenbar eine Wahrheit angesprochen, von der nicht wenig abhing.

»Aber dann nur ganz ästhetisch von oben?«, fragte ich.

Meine Freunde sahen mich an, mit Blicken, die mich spüren ließen, dass ich der Außenseiter war, der hier keinesfalls mitreden konnte.

Dann fiel mir ein, dass es ja als erwiesen gilt, dass Männer die Strapazen einer Geburt nicht einmal überleben würden. Es ist gewissermaßen eine Nahtoderfahrung, die da dokumentiert wird. Man will aber doch auch attraktiv aussehen, wenn man gefilmt wird. Ich kenne nicht wenige Frauen, die mir in bedeutungsvollem Ton gesagt haben: »Du hast mich noch nie ungeschminkt gesehen.«

»Man bräuchte jemanden, der das Make-up macht«, sagte ich also mit einem Lächeln, »und es auch überprüft.« Es sollte scherzhaft klingen, aber darüber waren meine Freunde offenbar hinaus.

»Eine Stylistin hatten wir nicht«, sagte Jakob ernst. »Aber zwei Kameraeinstellungen.«

»Verstehe«, sagte ich betroffen.

»Die Wahl der Kameraeinstellungen ist ganz wichtig«, erläuterte er entschieden. »Und noch wichtiger ist: Wie weit will man gehen, wenn es um die Nahaufnahmen geht?«

Ich sah meine Freunde an und musste an ein Zitat denken, dass hier gut passte: »Es ist besser, zu weit zu gehen, als nicht weit genug zu gehen.« Es stammt von Stalin. Vielleicht sollte ich diese Information bei der Gelegenheit mal anbringen. Mit Quellenangabe. Vielleicht würde das meinen Bekannten ja helfen, mal zu merken, welche Grenzen sie bereits überschritten hatten.

Ich meine, es ist natürlich schön, Erinnerungen zu haben. Aber warum um Gottes Willen sollte man Geburten dokumentieren? Und das auch noch in HD.

Mir fällt auch nicht ein, zu welchen Anlässen man sich solche Filme ansehen würde. Beim Kaffee mit Freunden sicherlich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass es appetitmindernd wäre. Das erinnert mich an eine Geschichte, die eine meiner Ex-Freundinnen, die im Ost-Berliner Plattenbaugebiet Hellersdorf aufgewachsen ist, mir einmal von einem Nachmittag erzählt hat, an dem sie mit ihren Eltern bei Nachbarn zum Kaffee eingeladen war. Sie saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich. Es war eine groteske Situation, weil nebenher der Fernseher lief. So ungewöhnlich ist das eigentlich nicht, man kennt das ja von älteren Menschen, wo grundsätzlich der Fernseher läuft, wenn man zu Besuch kommt – meistens ohne Ton. Es gibt auch die Variante, in der der Fernseher ohne Ton eingeschaltet ist, während das Radio läuft. Das habe ich als Sechsjähriger schon nicht verstanden. Ich weiß nicht, ob an dem Nachmittag in Hellersdorf der Ton ein- oder ausgeschaltet war, ich weiß nur, dass es darauf auch nicht mehr ankam, denn der Film, der im Hintergrund zu sehen war, während man sich unterhielt und hin und wieder ein Gebäck aß, war ein Pornofilm.

Gott, dachte ich, als sie mir das erzählte. Wenn ich solche Dinge höre, muss ich mir immer gleich vorstellen, sie wären mir passiert.

Das kann man natürlich nicht wirklich mit den Aufnahmen einer Geburt vergleichen, aber der Effekt, den beide – sagen wir mal – Genres auf meinen Appetit ausüben würden, wäre ähnlich. Wären die Gastgeber nackt, hätte es mich genauso verwirrt.

Ich frage mich auch, ob man das als Kind sehen möchte – seine eigene Geburt – oder ob es einen eher verstört. Meine Geburt wurde nicht gefilmt. Ich weiß nur, dass ich um 21 Uhr geboren wurde und dass alles sehr schnell ging.

»Du bist praktisch rausgeflutscht«, sagte meine Mutter. »Die Schwestern waren ganz überrascht, dass es so schnell vorbei war.«

Als ich ein Kind war, hat mir meine Mutter immer mal wieder scherzhaft erzählt, dass sie damals im Krankenhaus in diesen Raum kam, in dem die Babys lagen. Alle Bettchen waren leer, bis auf das Bett, in dem ich lag.

»Du warst der Letzte im Saal. Dich wollte keiner haben«, sagte sie. »Darum hab ich dich mitgenommen.« Soweit ich mich erinnere, habe ich diese Geschichte immer als Scherz verstanden, aber manchmal stelle ich mir vor, ich hätte das ernst genommen. Ich würde mit der Gewissheit leben, nur aus Mitleid Teil unserer Familie geworden zu sein. Aus den Konflikten unserer Kindheit formt sich schließlich ein Großteil unserer Psyche, mit der wir als Erwachsener leben müssen. Manchmal denke ich, dass vielleicht genau diese Geschichte, auch wenn ich eigentlich wusste, dass sie nur ein Scherz war, ein wesentlicher Antrieb meines Lebens ist. Das Fundament meines Schreibens sozusagen. Vielleicht hat sie mich zu einem Menschen gemacht, der sich und seine Ansichten selbst so wichtig nimmt, dass er es der Welt mitteilen muss. Ich wollte nicht bemitleidet, sondern wahrgenommen werden.

Ich frage mich allerdings auch, was es mit meiner Psyche angerichtet hätte, wenn ich bei jedem Besuch, den wir bekamen, das spektakuläre Video meiner Geburt hätte ertragen müssen. Ich hätte es vermutlich nicht besonders gut verkraftet. Für ein Trauma wäre das ausreichend gewesen, ein Fundament, auf dem die Psyche eines Selbstmörders gut hätte gedeihen können. Oder die eines Serienmörders.

Ich muss gestehen, noch nie in die Lage geraten zu sein, mir die Geburtsvideos meiner Freunde ansehen zu müssen. Sie zeigen mir glücklicherweise eher kurze Filme auf ihren Handys, auf denen ihre Kinder in niedlichen Situationen zu sehen sind. Dieselben Videos werden sie ihren Kindern wahrscheinlich in 15 Jahren zeigen und sagen: »Guck mal, wie süß du mal warst«, um dann wehmütig hinzuzufügen: »Was ist da bloß in den letzten Jahren passiert?«

Vielleicht denke ich ja auch vollkommen anders über all das, wenn es bei mir soweit ist, Vater zu werden. Ich sehe mich schon vor einer kompliziert aussehenden Installation stehen, die ich im Kreißsaal um das Bett aufgebaut habe, in dem die Mutter meines Kindes liegt. Mit hektischem Blick überprüfe ich noch einmal das Licht, die Stylistin, die meine Freundin noch einmal abpudert, damit sie auch Instagram-tauglich aussieht. Mir fällt eine der Schwestern auf, deren Stirn glänzt, ich verwerfe den Gedanken aber, sie ebenfalls abpudern zu lassen, sie ist schließlich nur eine Nebendarstellerin. Dann überprüfe ich noch einmal auf meinem MacBook, ob der Livestream steht. Als ich noch einmal die Fernbedienung teste, mit der ich die vier Kameras steuern kann, regt sich in mir das euphorische Gefühl, alles richtig gemacht zu haben. Mein Video wird das beste sein, keine Einstellung länger als drei Sekunden, man wird das Gefühl haben, einen Actionfilm zu sehen. Keine Längen, keine Langeweile, eine elegante Spannung, die sich immer eindringlicher aufbaut, untermalt mit dezenter Musik. Und dann, als die Schreie meiner Freundin immer lauter werden, denke ich begeistert: Hab ick druff.

Wofür auch immer.

Ich muss zugeben, dass mich das allgegenwärtige Bedürfnis, in meinem Alltag Dinge zu entdecken, die ich dokumentieren könnte, ebenfalls fest im Griff hat.

Als ich an einem Abend Mitte Februar meinen Hauseingang verließ und die Karl-Marx-Allee betrat, blieb ich unwillkürlich stehen, um den Anblick auf mich wirken zu lassen. Durch den Sonnenuntergang waren die Fassaden der Häuser in ein unwirkliches Licht getaucht, es war beinahe, als hätte sich die Wirklichkeit verschoben. Ich wandte mich nach Osten, wo die imposanten Häuserschluchten, die mich immer wieder beeindrucken, vor einem blutroten Himmel auf den Fernsehturm zuliefen. Es sah fantastisch aus. Ich weiß, dass das nicht unbedingt für mich spricht, aber ich verweile oder genieße in solchen Momenten nicht, sondern mein erster Gedanke ist, ein Foto davon zu machen. Als ich mein iPhone aus der Tasche holen wollte, bemerkte ich, dass meine Hand es bereits aus der Tasche gezogen hatte und fest umschloss. Das war beunruhigend. Bevor sich der Gedanke überhaupt formen konnte, hatte irgendetwas in mir bereits intuitiv begriffen, wie verwertbar ein Foto dieses wundervollen Schauspiels auf meinen Social-Media-Kanälen sein würde. Es ist offenbar zu einer meiner Subroutinen geworden, eine Art Pawlowscher Reflex. Weil ich einige Jahre als Art Director gearbeitet habe, weiß ich, wie wichtig die richtige Perspektive für die Wirkung eines Fotos ist. Ich machte minutenlang Bilder, die das Schauspiel leider nicht so einfingen, wie ich es mir wünschte.

Eine halbe Stunde später erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht einer Freundin, die nur aus einer Frage bestand: »Na, wie sind die Selfies geworden?«

Anfangs nahm ich an, sie hätte mir die Nachricht irrtümlich geschickt, aber dann stellte sich heraus, dass ein Freund einer ihrer Freundinnen mich beim Fotografieren beobachtet hatte. Wer auf eine so aufsehenerregende Art Selfies machen würde wie ich, – ich halte das Smartphone entweder sehr tief, oder sehr hoch, ich falle auf die Knie oder stelle mich auf Bänke und vergesse die Passanten um mich herum –, müsste schon ein ernsthaftes Selbstwahrnehmungsproblem haben. Und weil ich glaube, schon als selbstverliebt genug zu gelten, schrieb ich hastig zurück: »Es waren keine Selfies, ich habe andere Dinge fotografiert.« Ich bin mir nicht sicher, ob sie es mir abgenommen hat.

Die Information hatte also bereits mehrere Menschen erreicht, bevor sie bei meiner Freundin ankam. Aber daran lag es nicht, dass sie entstellt worden war. Woran es lag, ist sehr aufschlussreich, es dokumentiert nämlich, wie es um uns steht. Heutzutage geht man offensichtlich erst einmal davon aus, dass sich die Leute selbst fotografieren, wenn sie eine Kamera in der Hand haben. Es folgt dem Prinzip, von sich auf andere zu schließen. Den Dokumentationszwang des Narzissten zu unterstellen, bei dem es ausschließlich darum geht, sich selbst zu dokumentieren, und zwar so attraktiv wie möglich und eben nicht um den Moment.

Bedauerlich wird es allerdings auch, wenn das Dokumentieren die schönen Momente ersetzt. Mein Silvester vor einigen Jahren ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Wenn man auf dem Dach meines Hauses steht, hat man eine großartige Aussicht. Man blickt in die Allee wie in eine Schlucht. In dieser Silvesternacht war auch mein Freund David zu Gast, der hier oben zum ersten Mal mit seiner damaligen Freundin feierte. Als das neue Jahr begann, umarmten sie sich allerdings nicht, wie man das ja eigentlich so macht – weil sie bei einem großen deutschen Nachrichtenmagazin arbeitet. Der Ausblick über das nächtliche Berlin mit dem Feuerwerk, das unter uns stattfand, war so überwältigend, dass sie es für den Instagram-Kanal des Magazins aufzeichnete. Sie verbrachte die ersten Minuten des Jahres praktisch mit ihrem Handy, dem wichtigsten Bestandteil ihres Lebens. Ihr Smartphone beherrscht alles, vielleicht liegt es ja daran, dass sie nicht mehr zusammen sind. Als sie es dann gepostet hatte, war David endlich dran. Er war ein bisschen enttäuscht, weil er sich eigentlich gewünscht hatte, sie um Mitternacht zu umarmen, als Symbol ihrer gerade erblühenden Beziehung sozusagen, und das sagte er ihr auch.

»Du musst aufhören, in Idealzuständen zu denken«, rief sie und umarmte ihn herzlich, bevor sie sich küssten.

Was soll ich sagen, die Aufrufe des Videos waren enorm, Davids Ex-Freundin überprüfte die Zugriffszahlen in Minutenabständen auf ihrem Smartphone, mit einem Blick, der auch erzählte, dass sie alles richtig gemacht hatte. Zumindest hatte sie den Lesern ihres Magazins das Gefühl vermittelt, an einem idealen Moment teilgenommen zu haben.

Vielleicht geht es ja nur noch darum. Inzwischen.

Vom Sinn unseres Lebens

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