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AN ALLE FANS UND FREUNDE IN DER DDR Wie mich Farin Urlaub und Bela B durch mein Leben begleiten
ОглавлениеAnfang des Jahres gab es einen Moment, in dem ich mich Bela B, dem Schlagzeuger der Band Die Ärzte, sehr nah fühlte. Er saß in der Talkshow von Markus Lanz und erzählte von den zwei Wochen, in denen er in West-Berlin eine Ausbildung zum Polizisten begonnen hatte. Lanz fragte ihn, ob er auch mal im Einsatz war, eine merkwürdige Frage, denn in den ersten zwei Wochen einer Ausbildung ist man ja normalerweise noch nicht einsatzbereit. Bela B antwortete jedoch überraschenderweise: »Ja.«
»Da hab ich Herrn Kohl beschützt, war gar nicht so einfach«, fuhr er mit einem ironischen Lächeln fort. »Helmut Kohl war in West-Berlin, und die erste Reihe am Zaun war mit Polizeischülern besetzt. Wir waren Jubeltouristen. In Zivil natürlich.« Lanz sah ihn ungläubig an.
Ach, Bela, dachte ich, denn diesem Moment war mir der Mann sehr nah, es gab eine Gemeinsamkeit, von der ich erst jetzt erfuhr. Denn wenn man so will, war auch ich schon mal im Einsatz. Und zwar am 7. Oktober 1989, als Michail Gorbatschow zum 40. Geburtstag der DDR Berlin besuchte. Auch wir waren Jubeltouristen. Wir wurden in Berlin-Karlshorst eingesetzt. Es gab vorgeschriebene Bereiche entlang der Protokollstrecke, in denen wir uns aufstellen mussten, um den Staatsgästen zuzuwinken. Als dann irgendwann die schweren schwarzen Limousinen vorbeifuhren, riefen die Leute: »Gorbi! Gorbi! Gorbi!«, auf den ja damals viele ihre Hoffnungen gelegt hatten. Die Gesichter auf den Rücksitzen waren allerdings nur schemenhaft zu erkennen. Ich bilde mir ein, Gorbatschow hinter einer der verdunkelten Scheiben gesehen zu haben, aber es hätte auch jemand anders sein können.
In der Berliner Zeitung gab es am darauffolgenden Montag einen Artikel, der unseren Auftrag, sagen wir mal, etwas verzerrt darstellte: »Viele Tausend Bürger hatten zur Ankunft ein dichtes Spalier gebildet«, stand da. »Aus ihrer Mitte erschollen Hochrufe auf Erich Honecker und Michael Gorbatschow, ›Druschba – Freundschaft‹ riefen die Frauen, Männer und Jugendlichen, denen sich Erich Honecker und Michael Gorbatschow zuwandten.« Offenbar hatten die Journalisten der Berliner Zeitung einen anderen Nachmittag erlebt als ich oder sie hatten ihn anders empfunden. Aber dieses Gefühl hatte man bei der Berichterstattung der Zeitungen damals ja immer.
Die Gemeinsamkeit mit Bela B war für mich, dass wir in verschiedenen Systemen lebten, aber ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Daran musste ich denken, als ich in der Berliner Zeitung las, welche erstaunliche Auswahl von Künstlern getroffen wurde, die bei der Feier zum 30. Jubiläum des Mauerfalls in der Mercedes-Benz Arena auftreten sollten: Dieter Bohlen, Jürgen Drews und Roberto Blanco. Wer zu jung ist, um das beurteilen zu können, dem kann ich anvertrauen, dass diese Interpreten nicht unbedingt zum Who is who der ostdeutschen Musikszene zählen. Sie gehören genau genommen gar nicht dazu.
Roberto Blanco ist ein überassimilierter Kubaner, der in Bayern lebt und Ehrenmitglied der CSU ist, über Dieter Bohlen möchte ich gar nicht nachdenken und Jürgen Drews, der gebrochenste von ihnen, hat seinen großen Traum, Rockmusik zu machen, für eine Schlagerkarriere aufgegeben. Ich frage mich, was einem die Veranstalter mit dieser Auswahl sagen wollten – vielleicht, dass die deutsche Musikindustrie die Ostkünstler verdaut hatte, bis nichts mehr übrig blieb. Aber vielleicht haben sie die drei Schlager-Pop-Musiker auch ausgewählt, weil sie mit ihrer Musik damals die Sehnsüchte vieler Ostdeutscher nach dem Westen repräsentierten.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten sie Die Ärzte nehmen sollen, die in Interviews zugegeben haben, dass es zu den großen Versäumnissen ihrer Karriere gehört, nie in der DDR gespielt zu haben. Und weil Die Ärzte zu meiner popkulturellen Biografie gehören, die Band ist Teil meiner Geschichte.
Ich habe Die Ärzte 1987 in meinem Kinderzimmer kennengelernt, als mir mein damaliger bester Freund mit leuchtenden Augen das Lied Geschwisterliebe vorsang. Ich sah ihn fassungslos an. Ich dachte, er verarscht mich. Ich meine, ich war zwölf Jahre alt, lebte in Ost-Berlin – im real existierenden Sozialismus – Voraussetzungen, unter denen man einfach nicht glauben konnte, dass es Bands geben sollte, die solche Texte schrieben.
Mein Freund hat mir einige Tage darauf eine Kassette ausgeliehen, auf denen sich die Alben Debil und Die Ärzte befanden, was mich in die wundervolle Lage brachte, meine Eltern und ihre Freunde in den folgenden Monaten mit euphorischen Rezitationen von Liedern wie Claudia hat nen Schäferhund, Schlaflied oder Geschwisterliebe in höchstem Maße zu erschüttern.
Einige werden es ahnen: Seitdem war ich Ärzte-Fan. Und zwar ein so glühender, dass ich die kaum mit Gold aufzuwiegende Kassette meines Freundes vor lauter Begeisterung unbrauchbar machte. Auf dem Album Debil gibt es ein Lied, das Micha heißt. Im Refrain wird der Name fünfmal wiederholt, bevor nach einer kurzen Pause die nächste Strophe beginnt. Diese kurze Pause brachte mich auf eine Idee, in die sich mein offensichtlich schon damals angelegter Narzissmus und Größenwahn mischten, und für die mich mein bester Freund eine Zeit lang hasste. Es war die Idee, am Ende eines jeden Refrains des Songs kurz die Aufnahmetaste zu drücken, um dort mit begeisterter Stimme meinen Nachnamen zu platzieren. Als hätten Die Ärzte das Lied über mich geschrieben. Das klang dann ungefähr so: Farin Urlaub singt »Micha, Micha, Michaaaaaaaaaaaa«, dann war ein lautes Klacken zu hören, ein Rauschen folgte und eine helle, von der Pubertät noch nicht gebrochene, sehr entschlossene Stimme rief: »Naaaaast«.
Mein bester Freund entdeckte meine Entgleisung erst, als er sich die Kassette einige Wochen später wieder einmal anhörte. Er hätte mich fast gelyncht. Es war schließlich sein Original und solche Dinge waren heilig!
In der DDR Ende der 80er-Jahre lief das mit Musik von Bands aus dem »nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet« so: Irgendjemand mit Beziehungen bekam eine Kassette von einem West-Berliner Bekannten überspielt. Diese Kassette überspielte er für einen Freund, der seine Kopie wiederum einem Freund überspielte. Ich kann nicht sagen, an welcher Stelle dieser Kette sich mein Freund befand. Ich weiß nur, dass man nach dem Einlegen erst einmal ein Rauschen hörte. Ein sehr lautes, sattes Rauschen. Dann hörte man irgendwo im Hintergrund Die Ärzte. Er besaß also eine Kopie einer Kopie einer Kopie – ein Eindruck übrigens, den auf mich auch nicht wenige Menschen machen, denen ich so begegne.
Dabei hätte es so einfach sein können, die DDR nahm es mit Musiklizenzen ja nicht so genau. Es gab auf dem DDR-Jugendsender DT64 zum Beispiel eine Sendung, die Duett hieß und in der ganze Platten gespielt wurden. Man kann es sich eigentlich nicht mehr vorstellen, aber der Duett-Moderator wies die Hörer tatsächlich darauf hin, wann genau sie die Record-Taste drücken sollten, um die Platte vollständig aufzunehmen. Das führte dazu, dass ich ein Album der Band Roxette in guter Qualität besitze, nicht weil ich sie gut fand, sondern weil sie gespielt wurde. Die Ärzte spielten sie nie. Auf Westsendern kamen die Songs zwar, aber wir hassten die Moderatoren der West-Berliner Sender, die in die Anfänge und Enden der Lieder hineinsprachen, damit man sie nicht vollständig aufnehmen konnte. Also gehörte das Rauschen weiterhin dazu, wenn ich Alben der Ärzte hörte.
Als zwei Jahre später die Mauer fiel, war endlich auch die Zeit des Rauschens vorbei. Von den 100 D-Mark Begrüßungsgeld, die damals jedem DDR-Bürger geschenkt wurden, kaufte ich mir ausschließlich Ärzte-Platten. Ich besitze sie immer noch. Ich kaufte die Alben Das ist nicht die ganze Wahrheit, Nach uns die Sintflut und Die Ärzte früher. Vor allem das Album Nach uns die Sintflut verschaffte mir das Vergnügen, bei aufgedrehter Lautstärke und weit offenem Fenster das beschauliche Einfamilienhausgebiet am Rande Berlins von den Live-Qualitäten meiner Helden zu überzeugen. Man muss dazu wissen, dass Nach uns die Sintflut ein Live-Album ist, ein Dreifach-Live-Album. Wenn man die Lieder nicht kennt, ähneln sie sich sehr, unsere Nachbarn nahmen sie wahrscheinlich ebenfalls als Rauschen wahr. Als aggressives Rauschen. Die Gegend, in der ich damals lebte, galt als ruhigste der Stadt. Der Wind trägt weit in Mahlsdorf-Süd. Unsere Nachbarn hassten mich. Auch die, die so weit weg wohnten, dass sie eigentlich gar nicht mehr unsere Nachbarn waren. Ich habe nur einmal erlebt, dass der verschlossene introvertierte Nachbar des an unser Grundstück grenzenden Hauses zum Choleriker geworden ist. Es war dieser Nachmittag.
Die Band hatte sich 1989 ja schon aufgelöst, aber in den Danksagungen des Albums Das ist nicht die ganze Wahrheit entdeckte ich einen Satz, der mich berührte: »Grüße an alle Fans und Freunde in der DDR«, stand da. Ich war der Band sehr dankbar für diesen Satz. Sie hatten gewusst, dass es uns gibt, sie hatten uns wahrgenommen.
Drei Jahre nachdem das Land wiedervereinigt war, wiedervereinigten sich auch die Ärzte. Die erste Single hieß Schrei nach Liebe, ein Anti-Nazi-Song, den eigentlich jeder kennt. Ich war der Band sehr dankbar für dieses Lied. Auch weil Die Ärzte, die sich immer als links verstanden haben, wegen ihrer deutschen Texte auch von Nazis gehört worden waren. Damit hatten sie es klar gemacht.
21 Jahre nach der Reunion der Band wurde ich auf einer meiner Lesungen von einer Frau gefragt, mit welchem Prominenten ich gern einen Abend verbringen würde. Bei solchen Fragen fällt mir immer Farin Urlaub ein und trotzdem antwortete ich nach kurzem Zögern: »Mit keinem.«
Als sie mich irritiert ansah, sagte ich, wie ernüchternd es sein kann, seinen Helden zu begegnen. Es birgt nämlich die Gefahr, die Illusionen, die man von ihnen kultiviert hat, zu zerstören.
Vor einigen Jahren besuchte ich mit einem Freund ein Konzert des Farin Urlaub Racing Team in der Parkbühne Wuhlheide in Berlin-Köpenick. Die Bühne gehört zum Gelände des ehemaligen Pionierparks, dessen Hauptgebäude der Pionierpalast »Ernst Thälmann« war, wo ich als Kind oft war, weil ich dort die AG Malen und Zeichnen besuchte. Ich verbinde nicht wenige Erinnerungen mit diesem Ort, genauso wie mit Farin Urlaub.
Weil mein Freund, mit dem ich auf dem Konzert war, die letzten Platten der Ärzte produziert hatte, begleitete ich ihn auf die Aftershowparty, die in einem großen Zelt hinter der Bühne stattfand.
Ich kannte einige Leute, mit denen ich mich unterhielt, aber währenddessen wanderte mein Blick immer mal wieder zu Farin Urlaub. Als sich mein Freund mit ihm unterhielt, hob er seine Hand, ein Zeichen, dass ich dazukommen sollte. Was soll ich sagen – ich bin nicht hingegangen. Die mögliche Gefahr, dass Farin Urlaub in dem Gespräch entzaubert würde und damit auch die Erinnerungen und die Bedeutung, die er für mich über all die Jahre gehabt hatte, getrübt würden, erschien mir in dem Moment dann doch zu groß.
Wenn einen zum Beispiel der Text eines Schriftstellers berührt hat, weil in ihm eigene Gedanken bestätigt oder sogar weiterentwickelt werden oder er einem in bestimmten Bereichen des eigenen Lebens die Kraft gab, die man brauchte, um zu verwirklichen, was einem wichtig war, kann das alles zerstört werden, wenn bei einer Begegnung klar wird, dass der Verfasser des Textes ein ziemlicher Arsch ist.
Ich weiß, bei Kunstwerken geht es nicht um den Künstler, sondern darum, wie sein Werk in das eigene Leben strahlt, aber trotzdem kann die Entzauberung eines Menschen auch sein Werk entzaubern. Wahrscheinlich wäre das bei Farin Urlaub nicht passiert, aber ich wollte es nicht riskieren, ihn als Mensch überschätzt zu haben, weil er meinen Erwartungen nicht entsprach. Die Illusion ist mir lieber als die Wirklichkeit, wenn die Illusion Bedeutung für mein Leben hat.
Bei Farin Urlaub habe ich mich deswegen für die Illusion entschieden.
Von allen Bands, die ich über die Jahre mochte, haben mich Die Ärzte am längsten begleitet. Sie haben eine Sonderstellung, sie sind meine Konstante. Manchmal nehme ich die Alben, die ich damals von meinem Begrüßungsgeld gekauft habe, aus der Kiste, in der ich meine Schätze aufbewahre. Ich betrachte die Cover, meine Finger gleiten behutsam über das Vinyl und alles ist wieder gegenwärtig. Verblasste Erinnerungen und auch dieses besondere, fast vergessene Gefühl, das man hin und wieder vermisst – wie dieses Rauschen aus alten Zeiten.