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EIN ERZÄHLENSWERTES LEBEN? Von der vermeintlichen Individualität des Konsumenten

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Als Boris Becker in den 80er-Jahren die DDR besuchte, hat er seinen Eindruck vom Leben in diesem Land – wie es bekanntlich so seine Art ist – mit bemerkenswert eindrucksvollen Worten beschrieben. Becker sagte: »Es fällt schon auf, dass alle das gleiche Auto fahren.«

Wie so oft bei Boris Beckers rhetorischer Begabung liegt in seiner Zusammenfassung eine unfreiwillige Komik, über die man lachen möchte, aber gerade frage ich mich, ob sie – wenn man sie als Metapher betrachtet – das Land nicht vielleicht sogar am besten beschreibt.

Beckers Beobachtungen sind schon richtig. Wir fuhren nicht unbedingt alle das gleiche Auto, es gab durchaus verschiedene Marken, aber die Auswahl war tatsächlich nicht so groß. Da kann es leicht zu Missverständnissen kommen. Das erste Auto meines Lebens war der Lada meiner Eltern. Ein russisches Fabrikat. Der Wagen war grün, und da fingen die Missverständnisse schon an. Wenn meine Mutter mit mir die Straße hinunterlief, und ein grüner Lada vorbeifuhr, zeigte ich begeistert darauf und rief gut gelaunt:

»Guck mal, Mama! Noch ein Papas Auto.«

Um Gottes Willen, dachte meine Mutter und zuckte zusammen, bevor sie sich peinlich berührt umsah. Man muss dazu wissen, dass die Marke Lada damals vor allem von einer Berufsgruppe gefahren wurde: der Polizei. Deren Wagen waren im Unterschied zu unserem grün-weiß lackiert. Ein Unterschied, den ich damals nicht wahrnahm.

Immer wenn ich von einem neuen Begeisterungssturm erfasst wurde, weil wieder mal ein Polizeiwagen vorüberfuhr, sah meine Mutter sich panisch um. Den Eindruck entstehen zu lassen, mein Vater wäre Polizist, war generell eher nicht zu empfehlen. Nicht nur weil Polizisten den ungeliebten Staat repräsentierten, sondern auch weil an Polizisten immer Bedarf war. Es war ein Job, den kaum jemand machen wollte. Sie nahmen deswegen jeden, den sie kriegen konnten. Das führte dazu, dass Polizisten im Osten nicht unbedingt als die Intelligentesten galten, um es hier mal vorsichtig auszudrücken. Polizistenwitze waren damals das vielleicht umfangreichste satirische Genre in der DDR.

Das mit den Autos hat Boris Becker also schon richtig erkannt. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir auf, dass er mit diesem Satz außerdem unfreiwillig eine Wahrheit ausgesprochen hat, die als soziologische Metapher ebenfalls auf die DDR zutrifft.

Es war bekanntlich ein Prinzip des Sozialismus, davon auszugehen, der Mensch würde seine Fähigkeiten am besten im Kollektiv entfalten. Der Sinn des Lebens in der DDR war das Aufgehen in der Masse. Der Mensch sollte sich einordnen, Individualismus war im offiziellen Sprachgebrauch negativ belegt. Es ging um Konformität und es gab Methoden, mit denen wir schon früh darauf konditioniert werden sollten. Bereits in der Krippe oder im Kindergarten war zum Beispiel der Tagesablauf darauf ausgerichtet, alles gemeinsam zu machen. Wir aßen zusammen, wir trieben gemeinsam Sport und machten gemeinsam Mittagsschlaf. Nun gut, könnte man jetzt einwenden, dem Alltag eine Struktur zu geben, ist generell kein schlechter Ansatz. Das ist sicherlich richtig, allerdings bezogen unsere gemeinsamen Aktivitäten auch Bereiche ein, die eigentlich zu den privatesten Momenten des Alltags gehören. Wir mussten leider auch zusammen auf die Toilette gehen. Eine Erfahrung, so viel kann ich sagen, die mich nachhaltig geprägt hat.

Als ich drei oder vier Jahre alt war, musste ich wegen einer Operation zwei Wochen im Krankenhaus Köpenick verbringen. Die Kinderstation befand sich in einem Gebäude, das abseits des Krankenhausgeländes lag. Schon der Anblick des Hauses beunruhigte mich. Um mir die Angst zu nehmen, sagten mir meine Eltern, dass es ein Kindergarten sei, den ich aber schon in 14 Tagen wieder verlassen würde. Dann gaben sie mich ab. Oder um es mit meinen damaligen Empfindungen auszudrücken, als ich ihnen traurig nachsah: Dann ließen sie mich zurück.

Ich kann mich nicht mehr an viele Dinge dieser endlosen zwei Wochen erinnern, aber was ich noch weiß, empfinde ich heute wie einen Albtraum, von dem mir jemand anders erzählt hat. Die »Kindergärtnerinnen« waren sehr streng. Es wurde viel geschrien. Die meisten dieser Frauen sind inzwischen bestimmt schon tot. Ich weiß, dass es nicht für mich spricht, aber es ist ein Gedanke, der in mir eine gewisse Befriedigung auslöst.

Ich habe vergessen, wie oft wir am Tag zusammen pinkeln gehen sollten, aber es ist mir leider nicht gelungen, die Umstände zu verdrängen, unter denen wir einmal am Tag kacken gehen mussten. Der Toilettenraum war unisex. Die Toilettenschüsseln waren in einer Reihe an der weiß gefliesten Wand eines großen Raumes angebracht. Zwischen den Toiletten gab es keine Trennwände.

Als ich den einschüchternden Raum betrat, gab es allerdings ein Problem: Ich musste gar nicht. Aber kurz bevor ich es sagen konnte, wurde die »Kindergärtnerin« von einem anderen Jungen angesprochen, der das gleiche Problem hatte. Die Frau sah ihn an, als hätte er gar nichts verstanden. Dann sagte sie: »Macht nüscht. Wenn de nich kannst, machen wa'n Einlauf.«

Einlauf, dachte ich. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete. Dann sah ich es. Wir alle sahen es. Es war ein Exempel, das hier statuiert wurde. Eine Erziehungsmaßnahme, wenn man so wollte. Allein der Anblick reichte für ein Trauma. Ich wusste, dass mir so etwas nicht passieren durfte. Dann ging ich zu einer der Toilettenschüsseln und habe einfach so getan. Ich spülte schnell, bevor sie es kontrollieren konnten.

Ich war 14 Tage dort und verstand zum ersten Mal in meinem Leben, wie lang zwei Wochen sein können. Es gab keine Besuchszeiten. Meine Eltern sahen mich erst wieder, als ich entlassen wurde. Niemand informierte sie darüber, wie es mir dort ging. Sie fuhren manchmal nachts zum Krankenhaus, standen stundenlang vor dem Gebäude und blickten zu den erleuchteten Fenstern, hinter denen sie mich vermuteten.

Als mich meine Mutter abholte, sah ich empört zu ihr hinauf. »Mama«, rief ich entschieden: »In den Kindergarten schickst du mich nie wieder.«

Heute bin ich ein Mensch, der immer eine Tür hinter sich schließen muss, wenn er auf die Toilette geht. Ich bin kein Mensch fürs Pissoir. Ich kann einfach nicht, wenn jemand neben mir steht. Ich empfinde jeden Toilettengang als privatesten Moment. Sie haben ihr Ziel nicht erreicht. Es wurde das Gegenteil von dem erreicht, was eigentlich die Absicht war. Sie haben einen Überindividualisten geformt, zumindest, was meine Toilettengewohnheiten anbelangt.

Bei dem Wort Überindividualist fällt mir auf, dass man Boris Beckers Satz, ein wenig modifiziert, auch auf unsere heutige Gesellschaft anwenden kann und schon haben wir einen Philosophen aus ihm gemacht. Ich weiß, es fällt schwer, aber stellen wir uns einfach mal einen kurzen Moment lang darauf ein, den Philosophen in Boris Becker zu sehen. Wenn man sein Zitat nicht auf Automarken, die in der DDR gefahren wurden, bezieht, sondern auf die Lebensentwürfe, in denen sich die meisten von uns heute bewegen, kann man so etwas sagen wie: »Es fällt schon auf, dass alle das gleiche Leben führen.« Das scheint auf den ersten Blick nicht in die heutige Zeit zu passen, wo Individualität und Originalität doch zur großen Sehnsucht erhoben worden sind. Wir wollen anders sein, uns unterscheiden. Aber der Satz passt besser, als man denkt. Da wird es philosophisch.

Ich mag keine Massenveranstaltungen. Veranstaltungen wie das Kreuzberger Myfest am 1. Mai oder der Karneval der Kulturen ziehen mich nicht an. Die Massen wälzen sich in gemächlichem Schritttempo durch die Straßen. Man hat keinen Handyempfang, die Netze sind überlastet, weil so viele auf engem Raum telefonieren, und wenn ich es nicht mehr aushalte, brauche ich eine halbe Stunde, um überhaupt wieder wegzukommen. Mindestens. Als ich dann doch einmal am 1. Mai in Kreuzberg war, bemerkte ich etwas, was mir wohl nur auffiel, weil so viele Menschen auf engstem Raum waren. Sie ähnelten sich unglaublich. Es gab sieben oder acht verschiedene Typen, die sich ständig wiederholten. Das fiel mir als männlichem Single natürlich vor allem bei den Frauen auf. Mein Konzept einer Traumfrau, diesem einzigartigen Menschen, der zu mir passt, löste sich in dem Moment auf. Mit jeder neuen Frau, die sich in meinen Blick schob, wurde es unwahrscheinlicher. Dann zählte ich die blonden, unrasierten Männer in schwarzen T-Shirts, die mir entgegenkamen, Männer, die so waren wie ich, und das war dann wirklich desillusionierend. Ästhetisch gesehen war ich Teil einer unüberschaubaren, konformen Masse. Wir sahen alle gleich aus.

Wenn ich in einem Flugzeug sitze, das im Landeanflug auf das nächtliche Berlin ist, betrachte ich oft die von unzähligen Lichtpunkten überzogene Stadt und stelle mir vor, dass hinter jedem der erleuchteten Fenster ein Schicksal existiert. So viele Lebenswege, so viele Geschichten. So viel Freude, Trauer und Wut. So viel Angst, Liebe und Einsamkeit. Es überfordert mich immer, mir das vorzustellen, diese Unmengen verschiedener Leben. Aber das muss es wohl gar nicht, denn eigentlich unterscheiden sich diese Leben wohl gar nicht so sehr.

Das Ich ist die große Herausforderung unserer Zeit. Ein Original zu sein und keine Kopie. Der große Trend der letzten Jahre ist der Individualismus. Wir wollen uns von den anderen abgrenzen. Unser Ich soll strahlen. Das erzählen uns die unzähligen Artikel in den Magazinen und auch in der Werbung geht es nur noch um einzigartige Menschen. Das Bedürfnis nach Individualität und Authentizität ist so groß wie nie.

Mein Blick hetzt über meinen Instagram-Stream, der voller Statements ist, voller eindimensionaler Posen, Themen und vermeintlichen Wahrheiten, die genau genommen nur zeigen, wie sehr die Leute einander gleichen. Erich Fromm hat schon in seinem wunderbaren Buch Die Kunst des Liebens festgestellt, dass die meisten Menschen nur in der Illusion leben, ihren eigenen Ideen und Neigungen zu folgen. Sie nähmen an, Individualisten zu sein, und es sei nur ein seltsamer Zufall, dass diese Ideen und Neigungen mit denen der meisten übereinstimmten. »In Wirklichkeit gibt es kaum noch Unterschiede«, schreibt Fromm.

Die meisten Lebenswege sind normiert. Viele, vermutlich sogar die meisten Gedanken, die wir für unserer eigenen halten, sind vorgefertigt. Was wir für Individualität halten, ist nur eine leichte Justierung der Norm. Die Individualität, zu der wir imstande sind, besteht nur aus Nuancen, mit denen wir uns unterscheiden wollen. Wir sind so angepasst an diese Konsumgesellschaft, die alle Aspekte unseres Lebens, auch das Zwischenmenschliche, durchdringt, weil unsere Kultur ein Ich fördert, dass von äußeren Besitztümern abhängt. Wir drücken unser Ich durch Konsum aus. Wir glauben, uns durch die Originalität unseres Konsums selbst zu finden. In den Oberflächen. Genau genommen ist es unser Konsum, mit dem wir unverwechselbar erscheinen wollen. Ob man ein iPhone oder Android-Smartphone besitzt, ist zur philosophischen Frage geworden, die Grundsatzdiskussionen auslösen kann. Das richtige Smartphone, die richtige Kleidung, der richtige Urlaubsort, die richtige Wohnung in der richtigen Lage, damit definieren wir unsere Identität. Es ist die Identität der Konsumenten, die einen immer weiter von dem entfernt, was einen eigentlich ausmacht.

Wir formen unsere vermeintliche Identität aus Dingen, die wir ihr hinzufügen. Aber der richtige Weg wäre es, alles zu entfernen. Aber was ist, wenn man plötzlich alles verliert, seinen Besitz, seine Arbeit, seinen Status, seinen Erfolg? Was bleibt, wenn diese äußere Identität zerfällt? Welcher Mensch kommt dann zum Vorschein? Und würde einem dieser Mensch gefallen?

Es kommt hin und wieder vor, dass ich an Abenden, an denen ich nicht einschlafen kann, vor meinem Bücherregal stehe, um ein Buch zu finden, mit dem ich mich in den Schlaf lesen kann. Vor einigen Wochen war das mal wieder der Fall. Es war ein Uhr morgens, mein Blick schweifte über das Regal, während meine Finger über die Buchrücken glitten. Ab und zu zog ich ein Buch heraus, blätterte einige Minuten darin, um es dann doch wieder zurückzustellen. So etwas dauert bei mir immer eine Weile, länger als dann das tatsächliche Lesen des Buches. Es ist ein Ritual, das in mir ein angenehmes Gefühl auslöst. Es gibt mir, auch wenn das vielleicht seltsam klingt, ein Gefühl von Kultur. Es geht in diesem Ritual nie um ein bestimmtes Buch, die Bücher, die ich gerade lese, liegen ja neben meinem Bett, es geht darum, vor diesem Bücherregal zu stehen und dieses erhabene Gefühl zu spüren.

Als ich in Gedanken schon das Wohnzimmer verließ, um endlich schlafen zu gehen, streiften meine Finger einen dicken, in weinrotes Leinen gebundenen Band, auf dessen Rücken in silbernen Buchstaben die Worte »Mein Leben« zu lesen waren. Es war die Autobiografie von Marcel Reich-Ranicki, die ich schon dreimal gelesen habe. Ich nahm das Buch, schlug es auf irgendeiner Seite auf und begann zu lesen. Dann blätterte ich zu einer anderen Stelle und las wieder ein paar Seiten, mit dem Gefühl, wie prall die 550 Seiten des Buches doch mit Leben gefüllt waren. Ein erlebnisreiches Leben. Ein erzählenswertes Leben.

Ich schloss das Buch und fragte mich, wie viele Seiten die erzählenswerten Ereignisse meines Lebens füllen würden. Wie viele Schicksalsschläge oder Erlebnisse mein Leben bisher zu bieten hat. Es erschien mir blass. Wenn ich mein Leben als Endzwanziger mit meiner Gegenwart vergleiche, gibt es kaum Unterschiede, gibt es nicht viele Schicksalsschläge. Ich habe keinen neuen Lebensabschnitt begonnen. Ich bin ein 44-Jähriger, der das Leben eines 29-Jährigen in der Innenstadt von Berlin führt. Der einzige Unterschied ist, dass ich nicht in einer WG lebe und mir keine Gedanken mehr ums Geld machen muss. Ansonsten hat sich in den vergangenen 15 Jahren nicht allzu viel verändert.

Bei solchen Überlegungen beginne ich mir Grundsatzfragen zu stellen. Ich frage mich: Wer bin ich eigentlich? Und was hat das Leben, das ich führe, eigentlich mit mir zu tun? Ich frage mich: Was ist eigentlich meine Geschichte? Meine wirkliche Geschichte. Es sind Fragen, die mich erschlagen. Fragen, auf die ich keine Antwort finde. Möglicherweise weil ich einfach nicht weiß, wo ich ansetzen muss, und mich vor der Antwort fürchte. Ich fürchte mich, dass die Antwort ein banaleres Leben beschreibt, als ich es mir wünschen würde.

Vielleicht hilft es, die Fragestellung zu ändern. Sie gewissermaßen zu korrigieren. Weg von der abstrakten philosophischen Frage. Vielleicht muss man konkreter werden. Fragen stellen, deren Antworten anwendbar sind. Vielleicht muss man sie so formulierten: Was für ein Mensch möchte ich sein und wofür möchte ich die kurze Zeit, in der ich lebe, nutzen?

Das ist eine gute Frage. Sie öffnet eine andere Ebene. Und sie lässt die Dinge, mit denen auch ich einen Großteil meiner Zeit verbringe, lächerlich erscheinen. Man möchte sie einfach nicht mit Sätzen wie »Auf Instagram Fotos posten, um möglichst viele Likes zu erhalten« beantworten. Und auch Antworten wie »Viel Geld verdienen« oder »Das neueste Smartphone besitzen« oder »Netflix-Serien sehen« sieht man durch diese Frage in einem anderen Licht.

Die Antwort auf diese Frage kann vieles entscheiden. Vielleicht sogar alles.

Ich hätte nie gedacht, dass ich solche Sätze einmal aufschreibe, aber offenbar muss ich mich bei Boris Becker bedanken, der in mir mit einer banalen, tragikomischen Äußerung Gedanken in Gang gesetzt hat, die mir erkennen helfen, wo ich ansetzen muss, um die Dinge zu ändern.

Ach, Boris. Danke.

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