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Das Talent, die falschen Fragen zu stellen

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Der Experte für die Liebe

Es gibt Momente, die etwas in einem lösen. Momente, die ein Hindernis entfernen, das einen lange davon abgehalten hat, einen schon oft begonnenen Gedankengang zu Ende zu führen. Im vorletzten Sommer gab es einen dieser Momente, als ich mich auf der Terrasse des Berliner Soho House mit zwei Freunden unterhielt und plötzlich spürte, wie sich eine Hand auf meine Schulter legte. Ich wandte mich um und blickte in das Gesicht einer Frau, die mir unbekannt war. Sie lächelte allerdings, als würden wir uns kennen. Ich versuchte, ihr Gesicht in einen Zusammenhang zu bringen, aber ich fand keinen Anhaltspunkt, woher wir uns kennen könnten.

Dann sagte sie: »Du bist doch der Mann, der sich mit der Liebe so gut auskennt.«

»Nicht wirklich«, erwiderte ich, ohne nachzudenken. »Ich bin wohl eher der Mann, der sich mit der unerfüllten Liebe so gut auskennt.«

Wir mussten unvermittelt lachen, und jetzt war mir auch klar, woher sie mich kannte. Sie war eine Leserin.

Der Mann, der sich mit der unerfüllten Liebe auskennt, dachte ich. Ich war selbst erstaunt über diese Antwort, mit der ich eigentlich nur eine Pointe setzen wollte. Schließlich habe auch ich lange angenommen, dass die Liebe der Antrieb meines Schreibens ist. Aber das war ein Irrtum, offenbar hatten wir meine Bücher beide falsch verstanden.

Ich hatte vier Beziehungen in meinem Leben, meine längste hat knapp drei Jahre gehalten. Sie endeten, bevor richtige Liebe überhaupt entstehen konnte. Trotzdem gelte ich als Experte für Liebe und Beziehungen. So gesehen bin ich ein Paradoxon. Wenn ich mich frage, warum das so ist, liegt es vielleicht daran, dass man am besten über Dinge schreiben kann, nach denen man sich sehnt. Die Sehnsucht idealisiert die Dinge. Ich schreibe auf, wie es sein könnte.

Genau genommen kenne ich mich nicht mit der Liebe aus, ich kenne mich damit aus, wie Liebe eigentlich sein sollte. Es ist eine poetische Idee von Liebe, die vom Alltag befreit ist. Das macht sie so verheißungsvoll, aber auch unerreichbar. Liebe entsteht mit der Zeit. Sie entsteht, wenn in einer Liebesbeziehung so viel Geborgenheit und Vertrauen entstanden ist, dass sie zu einer Heimat geworden ist. Und um diese Tiefe zu erreichen, braucht man mehr Zeit, als die meisten Beziehungen halten. Auch meine. Ich gab auf, bevor Liebe, nach der ich mich so sehne, überhaupt entstehen konnte.

Ich spürte, wie unser kurzer Dialog bereits dabei war, Gedanken in Gang zu setzen, die zwei Fragen beantworten sollten, die mich und mein Schreiben schon lange beschäftigten: warum es mir so schwerfällt, mich auf eine Frau einzulassen, und warum meine Beziehungen nie lange genug halten. Und jetzt verstand ich auch, was mich so lange daran gehindert hatte, den begonnenen Gedankengang zu Ende zu führen: Er führte zu einer unbequemen Wahrheit.

Einer unbequemen Wahrheit, die zu weiteren, unbequemeren Wahrheiten führte.

Als im Jahr 2016 mein Buch Generation Beziehungsunfähig erschien, löste es eine monatelange Debatte aus, die mehrere Länder erfasste. Es gab unzählige Artikel, Fernsehberichte und Blogbeiträge, in denen diskutiert und analysiert wurde, warum es den jüngeren Generationen so schwerfällt, Beziehungen zu führen, ob sie überhaupt lieben können. Das Buch wurde in vielen europäischen Ländern veröffentlicht, was ich nachvollziehen konnte. Mich überraschte allerdings, dass es auch in Taiwan, Südkorea und Japan erschien, die in einem vollkommen anderen Kulturkreis liegen. Ich beschrieb offensichtlich ein universelleres Problem, als ich angenommen hatte.

Es war ein seltsames Gefühl zu beobachten, wie sich ein Begriff, den ich mir ausgedacht hatte, verselbstständigte. Psychologen wurden panisch, weil viele ihrer Patienten bei sich selbst oder ihren Partnern eine Beziehungsunfähigkeitsstörung diagnostizierten. Es wurden Bücher geschrieben, die auf mein Buch reagierten. Kluge Bücher von Psychologen, in denen es Fragebögen und Selbsttests gab, Anleitungen und Arbeitsanweisungen, um eine gesunde Beziehung führen zu können.

Ein Jahr darauf nahm ich an, dass sich das Thema erledigt hatte. Dass alles dazu gesagt und geschrieben worden war. Offen gestanden wollte ich mich auch nicht mehr mit diesem Thema beschäftigen, denn ich hatte genug. Ich war satt. Als hätte ich einen Song, der mir eigentlich gefiel, zu oft gehört, um ihn noch mögen zu können.

Ich schrieb einen Roman und dann ein Buch, das sich damit beschäftigte, wie der Mauerfall in mein Leben als vierzehnjähriger Ostberliner geschnitten war und was die darauffolgenden Jahre im Kapitalismus mit mir gemacht haben. Aber schon während ich an diesen Büchern schrieb, sprachen mich immer mehr Menschen darauf an, dass sich im Liebesleben vieler trotz aller Debatten und Anleitungen eigentlich nichts geändert hatte. Das Wort »eigentlich« hat einen Grund, denn es schien sich doch etwas geändert zu haben: Es war schlimmer geworden.

Vergangenes Jahr sah mich eine Frau bewundernd an, als ich erwähnte, dass meine längste Beziehung knappe drei Jahre gehalten hat.

»Das ist ja schon sehr lange«, sagte sie. Der Satz enthielt keinen ironischen Unterton. Sie meinte das offensichtlich ernst.

Ich dachte an das nachsichtige Lächeln, mit dem dieser Umstand noch vor einigen Jahren beantwortet wurde. Ein Lächeln, das auch erzählte, dass ich bemitleidet wurde. Heute bin ich mit solchen Zahlen offensichtlich ganz vorne mit dabei. Das war der Moment, in dem ich spürte, dass etwas gekippt ist.

Es ist ja erwiesen, dass die wenigsten von uns eine Beziehungsunfähigkeitsstörung haben. Trotzdem ist es offensichtlich schlimmer geworden. Das eigentliche Problem scheint also woanders zu liegen.

Ich kenne eine Frau, die seit fünfzehn Jahren in Therapie ist. Sie wechselt ihre Psychologen in regelmäßigen Abständen. Ihr Ziel scheint es nicht zu sein, irgendwann austherapiert zu sein, sie versteht die Therapie offenbar als Teil ihres Lebensstils. Ähnlich geht es vielen offenbar mit der Liebe. Sie haben sich auf dem Weg verfangen. Die erfolglose Suche nach Liebe ist zu einem Teil ihres Lebensentwurfs geworden. Das war die unbequeme Wahrheit, die ich mir nicht eingestand: Die unerfüllte Sehnsucht nach einer Beziehung ist zu einem Lifestyle geworden.

Es ist offensichtlich eine große uneingestandene Wahrheit unserer Zeit: Wir reden uns ein, dass es uns um Liebe geht, aber das ist ein großer Selbstbetrug – die Sehnsucht nach der Liebe ist offenbar wichtiger geworden als die Liebe selbst.

Wenn man sich nach Liebe sehnt, empfindet man dieses schöne und tiefe Gefühl als die Lösung. Es gibt ja den wundervoll ironischen Satz: »Wenn das die Lösung ist, will ich mein Problem zurück.« Besser lässt sich die Haltung nicht zusammenfassen. Offensichtlich haben sich viele entschieden, das Problem zu pflegen und nicht an einer Lösung zu arbeiten.

Auch ich nicht.

Denn genau genommen hat sich trotz meiner Erkenntnisse und Einsichten in meinem Liebesleben nichts geändert. Ich bin immer noch Single, oder wieder. Ich breche Beziehungen schneller ab, die Frauen, mit denen ich mich treffe, werden gefühlt immer instabiler. Trotz der Anleitungen, die ja auch mir zugänglich sind, ist es auch in meinem Leben schlimmer geworden.

Das Thema war wieder da. Eigentlich war es nie weg.

Die richtigen und die falschen Fragen

In einem Artikel habe ich mal gelesen, dass eine harmonische Beziehung funktionierende Haushaltsgeräte brauche. Es wäre schön, wenn das so einfach wäre, aber ich fürchte, es hängt nicht nur von der Technik ab. Meine Probleme liegen jedenfalls woanders. Sie entstehen vor der Beziehung. Meine Gefühle überleben häufig nicht einmal die Kennenlernphase. Sie sterben, bevor aus ihnen Verliebtheit oder Liebe entstehen kann. Die Todesursachen können verschieden sein.

Meine Freunde und Familienmitglieder fragen sich seit Jahren ratlos, warum es mir so schwerfällt, eine Frau zu finden, auf die ich mich auch einlassen möchte.

»Du bist einfach zu wählerisch«, sagen die Skeptischen.

»Bei dir entscheiden doch immer schon Kleinigkeiten gegen eine Frau«, sagen die Vernünftigen.

»Du gerätst nur an gestörte Frauen«, sagen die Empfindsamen.

»Ja«, sagte ich mit einer leichten Tragik in der Stimme. »Und sie werden immer gestörter.«

Sie geben die Antworten, die ich mir selbst gebe. Und diese Antworten trafen ja auch zu, aber mein Denkfehler war die Voraussetzung, aus der sie entstanden: Es waren Antworten auf die falschen Fragen. Offensichtlich besitze ich das große Talent, die falschen Fragen zu stellen.

Mein Liebesleben setzte sich im Grunde genommen aus einer Folge abgebrochener Anfänge zusammen. Wenn ich auf meine zahllosen Dates der letzten Jahre zurückblicke, aus denen keine Beziehung entstand, auf die vielen Argumente, die schon bei ersten Dates auftauchten, um gegen die Frau zu sprechen, die Kleinigkeiten, aus denen ich auf den ganzen Menschen schloss, fügten sich meine Liebesbeziehungen zu einer Aneinanderreihung von Gründen, um einer Beziehung aus dem Weg zu gehen.

Ich idealisierte, stellte Listen auf, in denen ich meine Traumfrau zusammenstellte, als könnte man sich die Eigenschaften einer Seelenverwandten aus einer Art Lifestylekatalog zusammenstellen. Ein Katalog, dessen Inhalt in die Farben getaucht war, die den farbkorrigierten Bildern moderner Kinofilme und Netflix-Serien ähnelten.

Schon bei ersten Dates prasselten die Gründe auf mich ein, die gegen die Frau sprachen. Es waren Argumente, die gegen sie und gleichzeitig gegen eine Beziehung sprachen. Ich ging nicht den Frauen aus dem Weg, ich ging einer Beziehung aus dem Weg. Ich war so beschäftigt mit der Sehnsucht nach einer idealen Liebe und der Frau, die in diese ideale Vorstellung passte, dass ich etwas Entscheidendes übersah. Ich übersah, dass ich alles dafür tat, um einer Beziehung auszuweichen.

Wir sind in der privilegierten Lage, die Liebe zu einem Luxusproblem erheben zu können. Ein Privileg, an dem viele scheitern. Auch ich. Es ist ja so: Ich möchte eine Beziehung nicht ertragen müssen. Ich möchte, dass sich beide Partner Halt geben, und auch Kraft. Es geht mir darum, die Frau zu finden, die das Beste in einem zum Vorschein bringt – und nicht das Schlechteste. Aber ich blende erfolgreich aus, dass Beziehungen Arbeit und Ausdauer erfordern. Dass man sich auf jemanden einlassen und verletzbar sein muss.

»Nur der verdient die Liebe, der täglich sie erobern muss.« Das hat Goethe einmal gesagt. Ich frage mich allerdings, ob wir bereit sind, sie täglich aufs Neue zu erobern.

Ich bin es offensichtlich nicht. Und so wie es aussieht, bin ich mit dieser uneingestandenen Wahrheit nicht unbedingt die große Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Verliebtheit ist reines Gefühl, aber Liebe ist eine Entscheidung. Man muss Liebe wollen. Aber die meisten wollen offenbar nicht. Man sieht immer nur Hindernisse. Der Weg ist reizvoller als das Ziel, denn das Ziel ist mit Einschränkungen verbunden. Wir haben uns in die Idee des Verliebtseins verliebt. Und nicht in einen Menschen. Wir gefallen uns im Theoretischen und versagen in der Praxis. Die unerfüllten Illusionen scheinen uns lieber zu sein. Wir ziehen die Illusion der Wirklichkeit vor. Die Antworten, die ich mir gab, waren ebenfalls Idealisierungen. Wir haben uns in den Illusionen eingerichtet, sie zum Maß aller Dinge gemacht. Es ist die Sehnsucht von Menschen nach einer Beziehung, die nicht bereit sind, etwas für die Beziehung zu tun. Wir wünschen uns Liebe, wollen aber nichts dafür tun.

Ginge es mir wirklich um eine Beziehung, gäbe ich nicht so schnell auf, wenn erste Probleme auftauchen, die ja nur daraus entstehen, dass der Mensch hinter der Projektion sichtbar wird. Als hätte ich mich für die Illusion eines Traumpartners entschieden, in der ein wirklicher Mensch mit einer eigenständigen Persönlichkeit gar nicht vorgesehen ist.

Offensichtlich stand ich mir selbst im Weg, allerdings nicht auf die Art, in der ich es angenommen hatte.

Ich begriff, dass ich die Fragen ändern musste.

Ich fragte mich: »Warum lerne ich nur Frauen kennen, die mir so offensichtlich nicht guttun?« Aber eigentlich musste ich mich fragen: »Warum interessiere ich mich ausschließlich für Frauen, die mir so offensichtlich nicht guttun?«

Die meisten Fragen, die ich mir stelle, bewegen sich auf der Oberfläche. Sie beziehen sich auf die Symptome, was ganz natürlich ist, weil es die Symptome sind, die mich direkt betreffen. Ich beantwortete Fragen, die sich auf die Oberfläche bezogen, aber die richtigen Fragen, die Fragen, deren Antworten zu Änderungen führten, betrafen das, was sich unter dieser Oberfläche befand.

Ich musste mich fragen, warum ich mich so nach einer Beziehung sehne und dann doch alles unternehme, um ihr auszuweichen. Ich musste hinterfragen, warum ich mich so verhalte, wie ich mich verhalte. Warum ich nicht tiefer schürfe, obwohl ich ja weiß, dass ich gerade dort erfahre, wo ich wirklich ansetzen muss. Vielleicht habe ich mich vor der Antwort gefürchtet. Oder ihren Konsequenzen. Denn die wirkliche Herausforderung ist es ja, eine Erkenntnis im eigenen Leben anzuwenden.

Ich musste mich fragen, warum wir die Lösungen kennen, die uns Psychologen in unzähligen Artikeln und Büchern beschrieben haben, und ich mich doch nicht danach richte. Warum ich in meinem Leben keine Änderungen vornehme, obwohl ich mein Leben ändern will.

Es ist ein seltsames Gefühl, in Texten, Podcasts und Talkshows darzulegen, was wir in unseren Liebesbeziehungen ändern müssten, dann aber zu registrieren, wie wenig ich mich selbst daran halte. Wenn ich kritisiere, wie unverbindlich das Liebesleben vieler inzwischen geworden ist, ist das wirklich Erstaunliche, dass ich mich über diese Unverbindlichkeit beschwere, obwohl ich mich selbst genauso unverbindlich verhalte. In solchen Momenten begreife ich, dass ich genau dort ansetzen muss. Dass ich tiefer schürfen muss. Eben unter der Oberfläche.

Wenn es eine Überzeugung gibt, die aus der Summe meiner Erfahrungen entstanden ist, ist es die, dass alles mit allem zusammenhängt. Vielleicht ist diese Überzeugung sogar die eigentliche Klammer, die die Texte dieses Buches zusammenhält. Wie sich zum Beispiel gesellschaftliche Umstände und Umbrüche, wie sich unser Konsumverhalten oder neue Technologien und Kommunikationsformen auf unser Denken, Fühlen und Lieben auswirken. Welche Impulse uns unbewusst Entscheidungen treffen lassen, obwohl wir sie nicht wahrnehmen.

Um diese Fragen geht es in diesem Buch. Die Fragen nach den Ursachen, die unter der Oberfläche wirken. Die Fragen danach, warum wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten. Die Antworten darauf beleuchten die Punkte, an denen man ansetzen muss, um wirkliche Änderungen vornehmen zu können. Ein Weg, der auch mich dazu brachte, mich selbst besser kennenzulernen und zu verstehen.

Darum handelt dieses Buch vor allem von einer gesunden Beziehung zu dem Menschen, den zu verstehen die Voraussetzung ist, um eine gesunde Beziehung zu anderen aufzubauen, zu pflegen und zu kultivieren.

Zu sich selbst.

Generation Beziehungsunfähig. Die Lösungen

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