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Kapitel 1 -Das Mädchen
Оглавление„Der erste Schnee“, lächelte sie.
Dicke Flocken tänzelten vom Wind getragen zielsicher gen Boden. Das Mädchen beobachtete durch ihr kleines Fenster das Windspiel der weißen Pracht und schaute dabei zu, wie die Flocken die dreckigen grau-schwarzen Steine der Feste weiß färbten.
Wie jeden Morgen stand Alora am Fenster ihrer Stube und band sich die langen braunen Haare zusammen. Sie hörte das gewohnte Dröhnen der Hörner, die den allmorgendlichen Wachwechsel ankündigten. Der tägliche Wecker, der sie ansonsten immer unsanft aus dem Schlaf riss und den nächsten anstrengenden Tag einleitete. Aber heute war sie vor dem Dröhnen wach geworden. Eine Ausnahme, wie sie selbst wusste. Aber gerade heute eine willkommene Ausnahme. Erneut streckte sie sich, bis im Rücken ein angenehmes Knacken zu vernehmen war und bereitete sich mental auf den heutigen Tag vor. Heute müsste sie endlich mit ihren Vorbereitungen für das Ereignis fertig werden, das seit mehr als einem Mond das einzige Gesprächsthema innerhalb der Feste war. Der Besuch der Cents. Oder besser gesagt der Besuch der Centischen Herrscherfamilie. Auch wenn sie nie großes Interesse an Politik hatte wusste sie - jeder wusste es schließlich - dass Cent eines der mächtigsten Reiche der bekannten Welt war. Südlich von Worgu gelegen war es der direkte Nachbar ihrer Heimat. Und seit dutzenden Wintern war es der erste Besuch der Cents. Dementsprechende Aufregung und Anspannung war in der gesamten Feste zu spüren.
Nach ihren Kleidern suchend glitt ihr Blick durch ihre kleine gemütliche Stube. Etwas wirklich Besonderes entdeckte sie nicht. Ein Bett, ein kleiner dunkler Tisch mit Hocker und eine kleine Kommode aus hellem Nadelholz waren alles, was sich in ihrem kleinen Zuhause befand. Und trotzdem mochte sie es, so wie es war und wollte nichts daran ändern. Schließlich war es warm, das Bett sauber von Ungeziefer und sie musste nicht hungern.
Nicht schon wieder hungern, dachte sie kurz, aber schüttelte den Kopf und verdrängte so den kurz aufkeimenden Gedanken wieder, der die blassen, kaum noch vorhandenen Erinnerungen wieder aufflammen lassen wollte. Sie musste sich wieder auf das Hier und Heute konzentrieren. Und das bedeutete erstmal ihre Kleidung zu finden. Und das war trotz des eher begrenzten Platzes in ihrer Stube manchmal gar nicht so einfach. Denn genug Platz für Unordnung war vorhanden. Und wenn sie eines Meisterhaft beherrschte, war es Unordnung zu schaffen. Ihre Klamotten häuften sich in den Ecken der Stube und Staub gewischt hatte sie wohl seit einem Mond nicht mehr. Trotzdem fühlte sie sich wohl in ihrem kleinen persönlichen Königreich, und ihrer Meinung nach hatte ihr niemand vorzuschreiben, wie es auszusehen hatte, solange sie sich wohlfühlte. Obwohl sie sich eingestehen musste, dass ein wenig mehr Ordnung die zur Routine gewordene Kleidersuche jeden Morgen deutlich erleichtern würde.
Die ersten unbrauchbaren Kleider flogen von einem Klamottenberg auf den anderen und ließen ihn so schnell wachsen wie der andere schrumpfte. Zwischen den dreckigen und übelriechenden Kleidern fand sie immer wieder mal saubere und brauchbare Kleider, aber keines davon gefiel ihr, sodass auch die eigentlich frischen Kleidungsstücke mit Schwung weggeschleudert wurden.
„Aha!“, schnaubte sie triumphal, als sie ein sauberes Unterkleid aus einem dem Wäscheberge zog und siegreich in die Höhe hielt. „Jetzt nur noch der Rest.“ Das gewählte Unterkleid landete nach einem kräftigen gezielten Wurf auf ihrem Bett, wo es so schnell nicht mehr verschwinden konnte.
„Wo ist denn der Rest meiner Kleidung? Ich hatte doch gestern alles bereitgelegt“, redete sie teilnahmslos mit sich selbst und wühlte weiter in dem Wäscheberg herum. Ein Hornstoß kündigte das Ende des Wachwechsels im Hof an. Er wurde von Alora aber ignorierte und sie suchte weiter.
„Wieder mal nicht aufgeräumt Alora?“, unterbrach sie plötzlich eine schrille Stimme in ihrer Suche und riss sie aus der aufgebauten Konzentration. Vor Schreck wäre sie beinahe rückwärts umgefallen, wenn der Tisch ihr keinen sicheren Halt geboten hätte.
„Raben!“, fluchte sie leise und schaute zur Tür, in der sie sofort den großen bereiten Schatten erkannte. Die schrille hohe Stimme ließ keinen Zweifel zu, wer sich erneut an sie herangeschlichen hatte.
„Hollu“, sagte sie ohne Freude in der Stimme. Das zweite Zimmermädchen der Mätresse hatte sich wiedermal wie eine Schlange angeschlichen und wartete auf die Gelegenheit zuzuschlagen. Dass Hollu sich mit ihrer Körperfülle überhaupt an irgendetwas heranschleichen konnte, verwunderte Alora immer wieder aufs Neue. Sie bewunderte dieses Talent sogar ein wenig. „Wie ich sehe“, Hollus Doppelkinn tanzte vor Schadenfreude, „bist du spät dran. Erneut.“
Das letzte Wort betonte sie wie ein Minnesänger.
„Hollu! Bei allen Göttern, du sollst anklopfen, wenn du in meine Stube kommst!“
Das dicke Mädchen lachte schrill auf. „Um mir dein überraschtes und verzweifeltes Gesicht entgehen zu lassen?“ Ihre Augen zogen sich zusammen und der gigantische Hals schlug Wellen wie ein See im Sturm als Hollu mit dem Kopf schüttelte. „Nie und nimmer!“ Wieder ertönte das schrille ohrenbetäubende Lachen.
Alora atmete tief durch, sie wusste wie angriffslustig und temperamentvoll Hollu war, und sie in diesem Moment nur auf einen Streit aus war. Oft genug ließ Alora sich provozieren und biss wie ein Fisch an. Zu verführerisch waren Hollus Köder das eine oder andere Mal. Nur heute hatte sie keine Zeit dafür, die Zeit rannte ihr davon, sie musste sich zusammenreißen und die Ruhe bewahren. Die Erwachsene von beiden sein.
„Was gibt es Hollu?“ fragte Alora so gefasst wie möglich.
Gerne hätte sie zurückgefaucht und ein Wortgefecht begonnen.
Hollu schaute enttäuscht drein und seufzte laut. „Lady Luca verlangt nach uns. Sie wartet bereits seit fast zwei Fingern. Die Cents kommen wohl früher als gedacht. Einer unserer Grenzposten hat gemeldet, dass das Gefolge wahrscheinlich heute noch eintreffen wird.“
„Heute bereits? Es war doch die Rede vom Neumond!“
„Es war die Rede vom Neumond, ja. Es war...“, plötzlich hatte Hollu doch wieder einen Grund sich zu freuen und grinste schadenfroh.
Obwohl beide Mädchen täglich zusammenarbeiteten, wollte keine Freundschaft entstehen. Früher zerbrach Alora sich häufiger den Kopf darüber und hatte versucht eine Freundschaft zwischen ihr und Hollu aufzubauen. Sie hatte Hollu Geschenke gebracht, ihr Arbeit abgenommen und immer versucht nett und freundlich zu sein. Hollu dankte ihr dies, indem sie Gerüchte über Alora in der Feste verbreitete und jeden kleinen Fehler sofort Luca meldete. Irgendwann hatte Alora dann schließlich aufgegeben und sich damit abgefunden, dass sie und das dicke Mädchen niemals Freunde werden könnten. Daraus war dann die gegenseitige Abneigung entstanden, die bis heute bestand und sich wohl auch nie verbessern würde.
„Soll mich der…“, flüsterte Alora leise in sich hinein.
„Etwa nicht mit den dir aufgetragenen Aufgaben fertig geworden?“, erkannte Hollu sofort, was los war. „Hah! Ich habe bereits alles erledigt, was Lady Luca mir aufgetragen hatte! Ich werde nie verstehen, wieso du ihre Nummer eins bist.“
„Ja ja, Hollu, die Fleißige!“, ignorierte Alora die Anfeindung. „Halte den Mund und verschwinde. Ich bin gleich soweit.“
Hollu schnaubte und warf Alora einen abschätzigen Blick zu als sie wortlos aus der Tür verschwand und langsam den Gang der Feste entlangstampfte.
Kurz schaute Alora durch das Fenster und schätzte die Zeit ein. Es war etwa drei Finger nach Sonnenaufgang und damit noch recht früh. Normal erwartete sie Lady Luca nicht vor der ersten Hand, aber selbst das war für sie kaum noch zu schaffen. Fluchend wendete sie sich wieder den Bergen von Kleidern zu und suchte weiter. Innerlich fluchte sie. Ihr innerer Schweinehund hatte wieder gesiegt und sie alles bis kurz vor Schluss aufschieben lassen, schon wieder. Wie schon die unzähligen Male zuvor. Auch heute würde sie wieder einen gehörigen Rüffel von Lady Luca kassieren und das nicht ganz ohne Grund.
„Halt deine Gedanken zusammen!“, wiederholte sie Lucas Worte und suchte weiter.
Die erstbeste saubere Kleidung warf sie zu dem bereits gefunden Unterkleid aufs Bett. Sie wusste genau, dass Lady Luca ungern wartete und pünktlich würde sie so oder so nicht mehr sein. Unpünktlich und mit ihren Aufgaben nicht fertig. Lady Luca würde sie wiedermal zurechtweißen. Schon wieder. Blitzschnell schlüpfte sie in ihre Kleider und Schuhe. Ein kurzer Blick in den Spiegel reichte, um das zu richten, was sie konnte.
„Könnte schlimmer sein“, schlussfolgerte sie und richtete nur nochmals kurz ihre Haare. Hastig lief sie zur Tür und bog in den Gang der Feste ein.
Wie immer begrüßte sie der dunkle grau-schwarze Stein der gigantischen Feste Worgus. Erbaut vor tausenden Wintern aus noch mehr etwa pferdekopfgroßen Steinen war die als uneinnehmbare Feste Worgus der Sitze der Worgunischen Königsfamilie. Mit ihrer Lage mitten in im Herzen des Reichs, dessen König Refle nun seit dreißig Wintern herrschte, war sie das Zentrum der Macht und vermittelte dies mit den zwölf hohen Türmen und der unüberwindbaren Wehrmauer, deren Zinnen an den schuppigen und zackigen Rücken eines Drachen erinnerten. Jeder der zwölf Türme war ein achteckiges zweihundertfünfzig Schritt hohes Ungetüm aus Stein. Und Alora lebte in einem dieser Ungetüme - genauer gesagt im dritten Westturm und damit direkt neben dem Königsturm, in dem die Gemächer der Königsfamilie und auch das Lady Lucas befanden.
Kurz stoppte sie, als sie einem der unzähligen Gänge stand und überlegte, wie sie am besten in den Königsturm gelangen sollte. Sie konnte aus drei Möglichkeiten wählen, um den Nachbarturm zu erreichen. Normalerweise bevorzugte sie den langen und anstrengenden Weg durch den Hof. Die hunderten Treppen ihres Turms hinab, kurz über den Hof und die hunderten Stufen im Königsturm wieder hinauf. Nur hatte sie dafür heute keine Zeit, sie musste sich beeilen und so blieb ihr nur der Weg über die großen Bogenbrücken. Sie seufzte und ging los.
Während die Wehrmauern etwa hundert Schritte in die Höhe ragten, lagen nochmal fünfzig Schritt darüber die breiten und massiven Bogenbrücken, die die Türme im oberen Bereich miteinander verbanden. Auch wenn die Brücken der eindeutig schnellste Weg waren, um zwischen den Türmen zu wechseln, hasste sie diesen Weg. Zu sehr zog der Wind an ihr und zu kalt war es so weit oben. Nur hatte sie heute keine andere Wahl.
Um die nächste Ecke gebogen spürte sie bereits, den kühlen Luftstrom, der durch die große Bogenöffnung in die Gänge der Feste jagte. Sie hatte die Brücke erreicht und blieb kurz stehen, um durchzuatmen. Mit fast zwanzig Schritt breiten und hohen ebenfalls gemauerten Geländern wirkte die Brücke genau so massiv und unzerstörbar wie der Rest der Feste. Trotzdem wollte sie den freischwebenden Konstruktionen einfach nicht trauen.
„Augen zu und durch!“, redete sie sich selbst Mut ein und ging los. Der frische Schnee auf der Brücke knirschte, als sie losging. Sofort ließ sie der kalte Winterwind erschaudern und die Arme eng um sich schlingen. Kleine Rauchwolken stiegen empor, während sie ein und ausatmete.
„Raben, ist das kalt“, fluchte sie zitternd und ging zügig über die Brücke in Richtung des nächsten Turms.
Selbst den Gardisten, die auf der Brücke den Eingang zum Königsturm beschützen mussten, war anzusehen, dass die Kälte ihnen zu schaffen machte.
„Lucas Zimmermädchen?“, fragte einer der Gardisten, dessen Gesicht Alora durch das Visier des schwarzen Drachenhelms nicht erkennten konnte.
Sie nickte nur und schlang die Arme enger um sich.
„Eine Eiseskälte heute“, zappelte der Gardist mit den Beinen und wollte dadurch irgendwie Wärme erzeugen.
„Vor allem hier oben“, lächelte Alora und zog fragend die Augenbrauen nach oben. Wollte der Gardist sie nun endlich vorbeilassen?
„Geh durch. Das dicke Mädchen ist schon bei Luca“, winkte der Gardist sie durch und öffnete die schwere Tür, die in den Königsturm führte.
Langsam ging sie weiter und blickte dabei etwas ängstlich über die Brüstung der Brücke in die Ferne. Eines musste sie immer wieder zugeben, wenn sie eine der Brücken benutzten musste - der Ausblick aus dieser Höhe war fantastisch. Trotz des Schnees konnte sie bis zum Horizont blicken und sah die weiten Wälder Worgus mit ihren Flüssen und den Feldern. Ganz im Westen konnte sie die Kathedralentürme der nächsten großen Stadt Ingru erkennen. Eine der größten Städte des Reichs. Auch nach Norden blickte sie, in Richtung ihrer Heimat und ihres Geburtsortes. Die Heimat, an die sie sich kaum noch erinnern konnte. Sie kannte nur noch die Feste. Den Dienst für Luca und die Königsfamilie und somit den Dienst für Worgu. Jenes Reich, für das ihr Vater sein Leben gelassen hatte. Gerne erinnerte sie sich an die verblassenden Bilder ihres Vaters und ihrer Brüder. An ihr Lachen, ihre Stimmen und ihre Augen. Jeden Tag aber wurde das Lachen leiser und die Augen verschwommener. Heute waren sie kaum mehr als Nebel in ihrem Kopf, der täglich dünner wurde. Irgendwie war sie dankbar dafür. Auch, wenn sie die Erinnerungen an ihre Familie schmerzlich vermissen würde. Das, was sie vergessen wollte - die letzten Monde im Norden - würde sie auch vergessen. Als erst ihr Vater sie verlassen hatte, um im Norden gegen die Joglu zu kämpfen und dann wenig später auch ihre Brüder sie verlassen mussten. Mit kaum Vorräten für den kalten Winter, die sie sich so gut einteilen sollte wie möglich. „Wir sind bald zurück!“, hatten sie ihr damals geschworen. „Mit genug zu essen für den ganzen Winter!“, hatten sie ihr versprochen, nur um das Versprechen dann zu brechen. Sie kamen nie zurück.
Sie hatten sie im Stich gelassen. Bis heute wusste sie nicht, was mit ihren Brüdern geschehen war. Sie wartete und wartete. Die Tage vergingen damals, ohne dass sie einen anderen Menschen zu Gesicht bekam. Die Tage gingen und die Nacht kam. Immer wieder aufs Neue wechselten Sonne und Mond am Himmel. Und mit jedem Wechsel wurden die wenigen Vorräte weniger. Bis beinahe alles aufgebraucht war. Und erst dann klopfte ein Mensch an ihre Türe. Ein einziger. Ein großer bärtiger Mann in dreckiger Rüstung stand damals vor ihr. Traurige Augen blickten sie aus dem eingefallenen erschöpften Gesicht an. Sie erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. An die Erschöpfung und die Müdigkeit, die den Soldaten gezeichnet hatte. Der Krieg, der ihn auf ewig gezeichnet hatte.
„Mädchen?“, riss sie die Stimme des Gardisten sie aus ihrer Erinnerung. „Willst du hier festfrieren? Geh rein.“
„Verzeihung“, lächelte sie verlegen und ging durch die Tür.
Alora eilte weiter durch die Gänge des Königsturm. Sicheren Schrittes vorbei an Gardisten und anderen Bediensteten, die ihr hinterherriefen gefälligst aufzupassen und die Augen zu öffnen. Unnötige Warnungen für sie. Oft genug eilte sie so schnell wie ein Rennpferd durch die Gänge und hatte noch nie jemanden umgerannt. Sie kannte jede Ecke, jede Biegung und jeden Stein der Feste. Ohne zu übertreiben konnte sie von sich behaupten, die Feste besser zu kennen als so manch anderer. Das erklärte dann auch ihre Verwunderung über die ihr unbekannte massive Wand, die plötzlich hinter einer Ecke erbaut war und ihren schnellen Schritt so plötzlich und schmerzhaft stoppte.
„Raben“, rieb sie sich über die schmerzende Stirn, nachdem sie mit lauten stöhnen zu Boden gegangen war. Völlig verwirrt brauchte sie einen Moment, um sich wieder zu orientieren. Was war hier geschehen? Woher kam die Wand? Es konnte nur ein unvorsichtiger Gardist gewesen sein, der sich ihr in den Weg gestellt hatte. Wände entstanden nicht einfach so über Nacht.
„Bei den Göttern, die Raben sollen dich...!“
Ihr wütender Blick schweifte nach oben und erblickte zwei Rüstungen aus fein geschmiedetem und reich verziertem Stahl. Selbst das schummrige Licht der Fackeln reichte aus, um den polierten Stahl glänzen zu lassen. Das waren keine Gardisten vor ihr. Gardisten trugen nicht solche Prunkrüstungen, und schon gar nicht welche aus glänzendem Silber. Vor ihr standen zwei Männer, die für einen kurzen Moment ebenso überrascht schienen wie Alora.
„Alora! Bei allen Göttern! Mach die Augen auf!“, fluchte der ältere mit seiner tiefen Stimme.
„Es tut mir leid, Duk. Herr Marschall! Ich meine Herr Marschall!“
Fast musste sie ihren Kopf in den Nacken legen, um dem Marschall in die Augen sehen zu können, so groß war der bärtige ältere Mann vor ihr. Trotz seines Alters verströmte er immer noch Kraft und Autorität. Nur die Müdigkeit in seinen Augen, die selbe Müdigkeit, die sie vor Wintern in seinen Augen sehen konnte, als er vor ihrer Tür stand, um vom Tod ihres Vaters berichtete, war immer noch vorhanden. Die breiten Schultern, die mächtigen prankenartigen Hände machten die Trauer in seinen Augen aber oft vergessen. Noch strahlte der oberste Befehlshaber des Worgunischen Militärs seine gewohnte Stärke aus.
„Wer ist das, Duk?“, sagte der zweite Mann neben dem Marschall, während er über die Rüstung strich als hätte er Angst der Zusammenprall hätte sie verbeult.
Alora erstarrte kurz.
„Raben“, murmelte sie, als sie Catel erkannte. Den Sohn Königs Refle und Erben des Reichs.
„Lucas Zimmermädchen, Euer Gnaden“, antwortete Duk knapp, während er Alora weiter ansah.
Catel Schnaubte „Hast du keine Augen im Kopf?“, fragte er mit unüberhörbarer Wut in der Stimme. „Renn nicht kopflos durch den Königsturm, Weibsbild!“
Alora lief rot im Gesicht an und schaute beschämt zu Boden. So oft war sie schon durch die Gänge gerannt, so viele Monde zu jeder Tageszeit und nie war etwas geschehen. Immer hatte sie es geschafft den anderen Menschen auszuweichen und Unfälle zu vermeiden und nun musste sie unbedingt den Prinzen umrennen.
„Komm, Duk. Wir müssen weiter!“, sagte Catel nach einem Moment und ging weiter, ohne auf Duk zu warten.
„Entschuldige“, flüsterte Alora.
„Wieder geträumt?“, lächelte Duk sie an.
„Eher wieder verspätet. Luca wartet auf mich.“
Duk lächelte weiter. „Das Typische also.“
Also nickte. „Er hat mich nicht erkannt, oder?“
„Catel? Nein. Blaues Blut hat keine Augen für die Dienerschaft.
Selbst wenn es die Diener von Luca sind. Mache dir keine Sorgen, Catel ist heute etwas“, er stoppte kurz, „aufbrausend. Noch mehr als sonst.“
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Alora mit etwas Sorge in der Stimme.
Duk schüttelte den Kopf und lächelte sie wieder an. „Augen auf“, sagte er noch, als er weiter ging, ohne ihre Frage zu beantworten.
„Ich versuche es“, rief sie ihm noch hinterher, als der Marschall schon hinter der nächsten Biegung verschwunden war.
Kurz fluchte sie innerlich und ging dann weiter. Sie hatte noch mehr Zeit verloren. Es waren jetzt zwei Finger nach der ersten Hand am Morgen und damit wäre sie mehr als zu spät. Das würde Ärger bedeuten. Luca würde sie erneut ausschimpfen und tadeln.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Alora Ärger von der Mätresse bekommen würde. Nachdem Duk sie vor Wintern mit in die Feste gebracht hatte, begann sie als normale Küchenhilfe in einer der vielen Küchen für die Gardisten. Nach wenigen Monden jedoch brachte sie Duk zu Lady Luca und von da an war sie das Zimmermädchen Lucas.
„Ich beneide dich nicht, Mädchen“, sagte der Küchenchef ihr damals. „Luca ist eine Zaturin. Refles Großvater wollte damals nicht glauben, dass ihr rotes Haar das Feuer in ihren Seelen repräsentiert!“
Damals wusste Alora nicht viel damit anzufangen. Sie war gerade zehn Winter alt und wusste nicht mal, was eine Zaturin sein soll. Erst später erfuhr sie, dass Zaturien einst ein freies Land gewesen war und nun zu Worgu gehörte. Und auch erst später erkannte sie, was der Küchenchef meinte. Luca konnte herrisch, streng und gemein sein. Das hatte Alora mehr als einmal erleben müssen, gerade zu Beginn ihrer Arbeit bei Luca, als die Mätresse sie wie einen Edelstein nach ihren Wünschen zurechtgeschliffen hatte. Nur ihre Verträumtheit hatte Luca nie wegschleifen können.
Die letzten Stufen endlich erklommen, erreichte Alora Lucas Gemächer. Etwas außer Atem gönnte sie sich einen Augenblick der Ruhe und blieb im Flur stehen. Typisch für den Königsturm spendeten die großen Kerzenhalter mit ihren oberschenkelgroßen Kerzen an den Wänden warmes flackerndes Licht. Sie richtete noch schnell ihre Kleidung, während sie vor die Tür schritt und klopfte an, um ohne auf Antwort zu warten einzutreten.
„Und ihre Vorbereitungen für die Cents sind…“ Hollu stoppte mitten im Satz und blickte nur kurz zu ihr herüber, keineswegs verlegen oder schamhaft, sondern, siegessicher grinsend. Hollu hatte also schon bei Luca gepetzt. Sie hätte es wissen müssen.
„Lady Luca.“ Alora verneigte sich vor der Mätresse und bewunderte erneut das makellose Aussehen.
Lady Luca war eine majestätische Frau mit langen fuchsroten Haaren, einem stolz empor gestreckten Kinn und roten Wangen. Ihre violetten Augen unterstrichen den sehr strengen Blick, der sogar, wenn sie lächelte Autorität vermittelte. Auf ihr Äußeres achtete Luca immer peinlichst genau. Keine Strähne durfte vom Haar abstehen und jede Falte ihres Kleides musste perfekt sitzen. Aber trotzdem lag keine Eitelkeit oder Arroganz in ihren Bewegungen, sondern eine gewisse Weisheit und Würde. Jetzt gerade entdeckte Alora in den Bewegungen Lucas aber nur eines, Wut.
Sie schluckte und verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken, während die Mätresse sie anstarrte wie ein Klingenbär auf der Pirsch.
„Ja, Ja. Alora? Hat Hollu Recht?“, rollte Lucas Stimme wie eine Sturmflut über sie hinweg.
„MyLady, ich kann das…“
„Erklären? Da bin ich gespannt. Seit zwei Monden hast du den Auftrag die Unterkunft der edlen Herren und Damen aus Cent zu planen und herzurichten. Und wie weit bist du gekommen?“
„Ich… ich...“
„Vergiss es Kind. Hollu hast du etwas für mich?“ Luca drehte sich in Richtung des zweiten Mädchens.
Diese setzte ein Grinsen auf das Alora am liebsten mit einem Morgenstern zerschmettert hätte. Das hässliche Lächeln betonte Hollus nicht vorhandene Schönheit nochmals um ein Vielfaches. Sie hätte über alles hinwegsehen können: Sei es Hollus dicker Hals oder die kleinen Rattenaugen, aber sie ekelte sich vor allem vor den winzigen Zähnen, die kaum zu sehen waren in einem Berg aus rotem Zahnfleisch.
„Natürlich, MyLady! Wir könnten…“
„Gut! Dann geh und richte alles her. Alora, du kommst mit mir, sofort“, stoppte Luca Hollu, um sie danach zu ignorieren.
„Selbstverständlich, MyLady.“
Die Mätresse erhob sich würdevoll, keine Sekunde konnte man ihr ansehen, dass sie bereits fünfzig Winter gesehen hatte. Ihr Haar saß perfekt und ihr langes Kleid war wie jeden Tag über jeden Zweifel erhaben.
„Hollu. Was stehst du hier noch rum? Ran an die Arbeit!“
Hollu verneigte sich hektisch und eilte durch die Tür, während Lady Luca zum großen Spiegel ging der gegenüber der mächtigen mit bunten Glas verzierten Fensters stand. Der gigantische Spiegel nahm fast eine gesamte Wand des großen Gemachs der Mätresse ein und ruhte in einem reich verzierten Rahmen aus glänzend polierter Bronze. Luca begutachtete sich nochmals genau im Spiegel, kontrollierte die Haare, ihre Schminke und ihr Kleid. Alles saß absolut perfekt.
„Alora, Kind. Warum sabotierst du dich immer wieder selbst?“, fragte sie, ohne den Blick vom Spiegel zu lösen. „Du musst endlich deinen Kopf zusammenhalten und die Dinge, die dir aufgetragen werden, erledigen. Und nicht zwei Monde lang liegen lassen.“
„Es tut mir leid MyLady… Ich.“
„Spare es dir. Und komm mit.“
Mit gesenkten Kopf folgte Alora der Mätresse aus den Gemächern wieder in die Gänge der Feste.
„Pass auf Mädchen“, begann Luca im Gang zu reden, „die Cents werden heute kurz vor Sonnenuntergang erwartet. Die Königin, wie auch ich, haben gehofft, dass der Schnee sie verlangsam würde, aber scheinbar bewirkte dieser das genaue Gegenteil und beschleunigte den Tross sogar.“
„Der Schnee ließ sie schneller werden?“, fragte Alora verwundert.
Luca nickte. „Es scheint so. Vielleicht wollen sie schneller ins Warme, ich weiß es nicht Kind. Auf jeden Fall sind sie einen ganzen Halbmond zu früh hier.“
Sie gingen die Treppen hinab und überquerten die zweite Brücke des Turms. Kurz zögerte Alora, bevor sie die Brücke betraten. Aber sie wusste, dass Luca für solche Kleinigkeiten wie Höhenangst kein Verständnis hatte und folgte ihr deshalb so schnell wie möglich. Jeder Gardist, dem sie auf ihrem Weg begegneten, machte ihnen, oder vielmehr Luca, schnell Platz. Die Männer wussten, dass Lady Luca auch ohne Grund einen diebischen Spaß daran hatte, Gardisten rumzukommandieren und ihnen sinnlose Befehle zu geben. Luca hatte Alora einmal erklärt, dass sie so sichergehen wollte, dass auch die Gardisten, allesamt Veteranen und große Krieger der Armee, den Respekt vor ihr nicht verloren.
„Dieses Treffen von König Refle und Imperator Komir, welches du so sorgfältig vergessen zu haben scheinst, ist das erste Treffen zwischen Worgu und Cent seit sechzig Wintern“, erklärte die Mätresse, als sie die Brücke überquert hatten und den Schwertturm des Königshauses erreicht hatten.
„Also seit dem großen Krieg?“, konnte Alora sich nicht verkneifen zu fragen.
Luca lächelte und nickte. „Exakt. Wie du auch weißt, ist Cent eines der mächtigsten Reiche der bekannten Welt. Das behaupten sie zumindest, während wir natürlich selbiges von uns behaupten. Deshalb ist dieses Treffen auch so ungemein wichtig. Allianzen werden geschmiedet für die Zukunft beider Reiche.“
„Verstehe“, nickte Alora, als sie langsam die engen gewundenen Treppen des Schwerturms hinabstiegen.
Anders als die großen Wohntürme der Feste waren der Schwertturm und sein direkter Zwilling der Schildturm enge, verzweigte Labyrinthe aus kleinen unübersichtlichen Räumen, die alle miteinander verschachtelt waren. Während ihrer ersten Zeit in der Feste hatte Alora sich mehrfach in einem der beiden Türme verlaufen und weinend in irgendeinem der engen Räume geendet. Einmal hatte sie ein Gardist gefunden, dann war es einmal Luca, die alles andere als begeistert darüber gewesen war und auch Duk hatte sie einmal mehrere Hände im Turm gesucht. Dieser erklärte ihr dann das Geheimnis der beiden Türme, die den großen Kronensaal der Feste flankierten.
„Das sind Wehrtürme Alora“, sagte er damals. „Hier lebt niemand, hier isst niemand. Nur, wenn es jemals soweit kommen sollte, dass die Feste angegriffen wird, sind diese Türme das letzte Bollwerk zum Schutz der Königsfamilie.“
„Ich mag sie nicht“, jammerte sie damals und entlockte so ein Lachen.
„Hier soll sich auch niemand wohlfühlen.“
Im Erdgeschoss angekommen wich die schlichte Einfachheit der Feste mit ihren dunklen Steinen nun endgültig dem Prunk. Der Gang wurde deutlich breiter, mindestens zwanzig Schritt, und fast zehn Schritte hoch. Links und rechts waren die Wände auf halber Höhe mit glänzenden rotbraunen Hölzern beschlagen und edle bronzene Kerzenhalter ragten aus den Wänden in den Gang hinein. Ein breiter purpurroter Teppich sollte die Gäste des Kronensaals sanft zu ihrem Ziel geleiten. Sei es die große Bibliothek Worgus, in der auch Alora den ein oder anderen Tag verbringen musste, eine der Tempel der Götter oder, das Hauptziel der meisten Gäste - der Thronsaal König Refles. Die Besucher wurden im Gang von dutzenden Fresken und Gemälden begrüßt. Unkundigen Reisenden sollten die wichtigsten Ereignisse der Worgunischen Geschichte gezeigt werden. Von der Besetzung des Landes durch die ersten Worgus vor Wintertausenden über die Eroberungskriege vor Winterhunderten bis zu den letzten Nordkriegen vor wenigen Wintern. Jedes wichtige Ereignis der Geschichte bekam seinen Platz und sollte die nachfolgenden Generationen an das Vergangene erinnern. Eines der neusten, und auch größten Fresken war das fast zehn Schritt lange Fresko, das die Schlacht von Kalum darstellte. Es zeigte wie die stolzen Truppen Worgus, ganz vorne natürlich König Refle persönlich, auf den Rücken ihrer weißen Pferde die Phalanx der Barbaren aus dem Norden überrannten. In Kalum wurde die größte und entscheidende Schlacht des zweiten Nordkriegs geschlagen. Mit dem Sieg der Worgunischen Truppen endete die Schreckensherrschaft des Joglu Königs Winterzorn, der sein Volk aushungerte und zwang erneut gegen Worgu zu den Waffen zu greifen. Sie hatte vieles über die Schlacht in den Chroniken Worgus gelesen. Genauestens wurde beschrieben, wie über einhunderttausend Barbaren den Norden Worgus überrannten. Auch Aloras Heimatdorf sollte damals in Gefahr gewesen sein Opfer der Joglu zu werden. Erst durch das tapfere eingreifen Refles und seiner Armee konnten die Barbaren gestoppt werden. Fünfzigtausend Worgunische Männer vernichteten damals die feindliche Übermacht in einer legendären Schlacht. Ein glorreicher und großer Sieg über den noch in den Winterhunderten Lieder gesungen werden würden. Nach dem Krieg hatte Refle dem Volk Joglus die Freiheit geschenkt. Die Joglu sollten ihr Land erneut aufbauen und in Frieden leben. Überall in den Chroniken wurde Refle als Befreier beschrieben. Sie hatte Duk des Öfteren gefragt wie es in Joglu sei, wie der Kampf gegen die Barbaren abgelaufen war, aber er antwortete nie auf ihre Fragen.
„Krieg ist Krieg, Alora. Du lebst hier im Frieden. Belasse es dabei“, antwortete er ihr höchstens.
„Alora? Alora!“ Lady Luca stand wenige Schritte von Alora entfernt und versuchte sie aus der tiefen Verträumtheit zu reißen, in die sie wieder gefallen war.
„Dieses Kind!“, fluchte Luca, als Alora wieder einmal nicht reagierte und schlug ihr mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf.
Erfolgreich.
Schnell verschwanden Aloras Gedanken an große Schlachten für Ruhm und Ehre und sie landete wieder in der Realität.
„Aua“, sagte sie unbewusst und rieb leicht ihren Hinterkopf. Es dauerte einen Moment, bis sie realisierte, wo genau sie hier war, und mit wem.
„Verzeiht MyLady! Ich habe…“
„Du hast geträumt Mädchen!“, fluchte Luca. „Wie immer. Nun komm, ich werde erwartet.“
Sie gingen weiter den Gang entlang und erreichten die beiden fünf Schritt hohen und mit massiven Eisen beschlagen Eichentore zum Thronsaal. Davor postiert, wie immer, die Garde des Königs. Vierzehn Männer in pechschwarzen Rüstungen, bewaffnet mit Schwertern und Schild auf denen meisterhaft per Hand das Wappen des Worgunischen Königshauses gemalt war. Der große brennende Baum.
Die Wachen selbst standen still und wirkten wegen der dunklen Rüstung wie Statuen. Erst auf dem zweiten Blick erkannte man die Augen der Gardisten die durch die schmalen Öffnungen ihrer Drachenkopfförmiger Helme blickten. Die besondere Form der Helme gab den Gardisten auch ihren unverwechselbaren Namen. Die Drachenköpfe.
Die Aufgabe der Drachenköpfe war klar und einfach. Sie waren die Gardisten der Feste. Sie bewachten die Eingänge und Gänge. Ihr Schlachtfeld war die Feste und ihre Aufgabe war es, jedwede Gefahr, die dem König oder seiner Familie zustoßen könnte, abzuwenden. Und wenn nötig ihr Leben dafür zu geben.
„Macht euch nützlich und öffnet die Tore!“, blaffte Lady Luca, ohne die Gardisten eines Blickes zu würdigen.
Ohne Zeit zu verschwenden taten beide Männer, wie ihnen befohlen wurde. Die lange eiserne Kette gepackt, zogen sie die die hölzernen Flügel des Tores auf und nahmen hastig Haltung an, als Luca mit ihrem Zimmermädchen an ihnen vorbeimarschierte.
Für Alora war es jedes Mal aufs Neue belustigend zu sehen, wie starke Männer aus Furcht vor einer Frau wie eine Horde Halbstarker wirkten. Noch während das Tor sich öffnete, schlug ihr schon die im Thronsaal immer herrschende Kälte entgegen. Egal wie sehr die Sonne brannte, es war immer eisig kalt, und jetzt, da es schneite, war es ihrer Meinung nach fast unaushaltbar. Nur die zwölf großen brennenden Kamine spendeten etwas Wärme. Zitternd umschlang sie sich mit ihren Armen und folgte Luca in die große Halle.
Die mit dem Symbol der fünf Götter bemalte Decke ruhte auf acht gut drei Schritt breiten Säulen, die schneeweiß in die Höhe ragten. Der Boden des Thronsaals bestand aus schwarzweißem Marmor und reflektierte das Licht der unzählbaren Fackeln wie ein Spiegel. Trotz ihrer Abneigung gegen die Kälte fand sie den großen Saal immer aufs Neue faszinierend. Sie mochte die Weitläufigkeit und die große gläserne Kuppel, die während des Sommers das Licht der Sonne in die Halle einließ und sie mit vielen verschiedenen Farben zu einem ganz eigenen Kunstwerk machte. Heute sperrte jedoch der erste Schnee auf der Kuppel die wenigen Sonnenstrahlen aus und eine überdimensionale Tafel in der Mitte des Thronsaals ließ die gewohnte Weitläufigkeit verschwinden. Und nicht nur das. Dutzende Bedienstete eilten durch den Saal und bereiteten alles für die Ankunft der Cent vor. Denn zu solch feierlichen Anlässen wurden der Thronsaal auch als Schank und Feierraum genutzt. Etwas freudig stellte Alora fest, als sie die ganzen gestressten Bediensteten sah, dass die frühe Ankunft der Cent nicht nur sie völlig überrascht hatte.
Luca blieb nur kurz stehen um das Chaos vor ihren Augen anzusehen. „Wie es scheint bist du nicht alleine mit deinen Trödeleien“, sagte sie lächelte sogar etwas. „Nun denn. Lass uns weitergehen,“
Zimmermänner, Wirte und Schausteller huschten hin und her und wussten scheinbar selbst nicht, was sie genau zu tun hatten. Es herrschte in Aloras Augen nur Chaos. Von Ordnung war nichts zu sehen. Im Angesicht dieses menschlichen Ameisenschwarms versuchte sie ihr Bestes um möglichst nahe an Luca zu bleiben. Das war ihre beste Chance, nicht erneut jemanden umzurennen. Denn ein jeder kannte die Mätresse und versuchte möglichst schnell aus ihrem Weg zu verschwinden, sofern er sie denn sah. Viele der Handwerker, beladen mit den unterschiedlichsten Dingen, waren vollkommen auf ihre Aufgaben konzentriert und nahmen ihre Umgebung kaum noch wahr. Luca wäre aber nicht Luca gewesen, wenn sie sich davon hätte abschrecken lassen. Elegant wich sie jedem Handwerker aus, der tief in seine Gedanken versunken seiner Arbeit nachging und nicht auf die Umgebung achtete. Lucas Ziel war die sogenannte Kammer. In diesem Raum hielt der König mit seinen Offizieren und Beratern regelmäßig Konferenzen ab, an denen auch Lady Luca als wichtige Beraterin des Königs immer anwesend war.
An normalen Tagen, wenn Alora die Mätresse begleitete waren es nur wenige Schritte vom Eingang des Thronsaals bis zur Kammer. Aber heute, zwischen den verschwitzten Handwerkern und der beinahe fünfzig Schritt langen Tafel gefangen, fühlte sie sie sich klein und unwichtig. Es dauerte eine halbe Ewigkeit für sie, bis sie endlich die Menschentraube verlassen hatten und vor der unscheinbaren Tür zur Tafel standen. Tief atmete sie durch und genoss die kalte Luft des Thronsaals in ihren Lungen. Sie hatte genug Schweiß für einen Tag gerochen. Mehr davon brauchte sie nicht.
„Hör zu Alora“, sagte Luca nach einer kurzen Verschnaufpause. „Heute wirst du mich begleiten.“
Alora riss die Augen auf. „In die Kammer? Zu einer Sitzung?“
Luca nickte. „Heute wird es um den Besuch der Cent gehen. Und du wirst einige Aufgaben übernehmen, während der Imperator und seine Familie in der Feste sind. Deshalb ist es diesmal notwendig, dass du anwesend bist.“
Ihr Blick fixierte streng Aloras Augen. Im Hintergrund war das Durcheinander der verschiedenen Zünfte weiterhin in seine eigene Schlacht verwickelt und wirkte auf einmal doch ganz weit weg.
„Was genau wird meine Aufgabe sein, MyLady?“
Luca zog ihr Kleid zurecht und wandte ihren Blick ab.
„Die Cents kommen mit der gesamten kaiserlichen Familie, fast der gesamten Familie. Der Imperator und drei seiner sechs Frauen…“
„Sechs?“, Alora verzog das Gesicht. „Wie kann sich jemand sechs Frauen nehmen, das ist doch unnatürlich?“
„Kind!“, mahnte Luca sie sofort zur Stille.
„Verzeiht.“
„Drei seiner niederen Töchter“, fuhr Luca fort. „Mit seiner ersten Tochter und seinem erstgeborenen und Thronfolger. Deine Aufgabe wird es sein, dich um seine Töchter zu kümmern. Verstanden?“
Alora reckte ihr Kinn und nickte überzeugend, Worte sparte sie sich.
„Gut. Denn eins musst du wissen. Der Cent Besuch ist nicht aus reiner Höflichkeit.“ Ihr Blick ruhte weiterhin sehr ernst auf Alora gerichtet.
„Ich verstehe.“
„Sehr gut. Den Rest erfährst du gleich. Folge mir. Wenn wir in der Kammer sind, bleib am Rand stehen.“
Alora nickte und richtete ihr Haare und das Kleid. Auch wenn sie nicht so penibel wie Luca war, was ihre Kleidung anging wollte sie nicht vor den König treten und aussehen wie eine Bäuerin.
Luca öffnete die Tür zur Kammer und trat durch diese hindurch. Zwei Drachenköpfe standen im Gang der Thronsaal und Kammer verband und nahmen beim Eintreten der Mätresse sofort Haltung an.
Nach dem gigantischen Thronsaal wirkte der Gang beengend und winzig. Keine drei Schritt breit und hoch säumten nur ein paar Fackeln die etwa zwanzig Schritte bis zur Kammer. Am Ende des engen Gangs lag eine weitere Tür ohne Knauf. Einer der Drachenköpfe klopfte an, als er Luca sah und kurz darauf öffnete die Tür sich wie von Geisterhand. Ein weiterer Drachenkopf im Inneren der Kammer schien nur dafür zuständig zu sein die Tür zu öffnen, falls jemand klopfte. Eine undankbare Aufgabe, wie Alora fand. Hinter der Tür kam der recht kleine runde Raum mit vielleicht fünf Schritt im Durchmesser zum Vorschein. Alora sah sich um und entdeckte außer den Fackeln nur einen großen runden Tisch, der beinahe den gesamten Raum einnahm.
„Ah, Lu endlich. Wir warten schon auf dich.“
„Verzeih Chessy, ich wurde aufgehalten. Es ist viel los im Thronsaal“, lächelte Luca Königin Chestaine zu.
Die Königin lachte kurz auf „Die Männer sind sowieso noch nicht fertig.“
Sogar Alora beachtete Chestaine und warf ihr ein leichtes Lächeln zu, was sie verlegen grinsen ließ. Dabei fiel ihr sofort wieder ins Auge, was für eine Schönheit die Königin Worgus war. Groß, fast einen Kopf größer als Luca, große runde Augen mit einer kleinen Stupsnase und die roten Haare, die an den Sonnenaufgang erinnerten, den man am Horizont so gern beobachtete. Es war keine Übertreibung, wenn man sagte, dass alle Frauen mit Zaturischen Blut das Geschenk der Schönheit geerbt hätten. So auch Luca, der man die Blutsverwandtschaft zur Königin deutlich ansah.
Ein kurzes Räuspern lenkte Aloras Blick weg von der Königin und hinüber zum Runden Tisch. Ein untersetzter Mann mit Halbglatze und eingefallenen Augen warf Luca ebenfalls ein Lächeln zu. Das einzige, was an ihm nobel wirkte, war der lange dunkelblaue mit buschigem Fell besetzte Mantel über den Schultern.
„Euer Gnaden“, vollführte Luca einen eleganten Knicks, den Alora ungeschickt nachmachte.
„Grüß dich, Luca.“
„MyLady“, grüßte auch Duk, der wie ein Riese neben dem fast zwei Köpfe kleineren König wirkte, die Mätresse und warf Alora einen verwundert wirkenden Blick zu.
„Herr Marschall“, lächelte Luca und schaute zu Alora. „Sie ist hier wegen unseres Besuchs. Beachtet sie nicht.“
Alora schluckte schwer und schaute verlegen zu Boden, als alle Blicke einen kurzen Moment auf ihr ruhten.
Der neben Duk stehende Catel hatte für Luca nicht mehr als ein kurzes Nicken übrig. Seine Laune hatte sich allem Anschein nach nicht wesentlich gebessert. Alora hoffte, dass er sie nicht erkannte.
„Wo waren wir?“, beendete Refle die Stille und kam zurück zum Thema.
„Bei den Berichten über das Felsental Euer Gnaden.“
„Richtig. Fahrt fort Marschall.“
„Späher und Meldereiter berichten immer wieder dasselbe. Ganze Siedlungen seien wie ausgestorben vorgefunden wurden. Nicht nur kleine Siedlungen oder Höfe, sondern ganze Dörfer mit hundert Einwohnern und mehr. Unsere Festung im Norden hat offiziell nach Hilfe gerufen, da die fünfzig Rekruten zu wenige seien um das ganze Felsental effektiv zu schützen.“
Kurz herrschte Stille in der Kammer. Der König blickte starr auf die vor ihm liegenden Berichte aus dem fernen Norden.
„Das Felsental.“ Der König rieb sich mit der Hand durch das Gesicht und kratzte sich die Wange. „Unsere Nord-Ost Grenze. Die Grenze nach Joglu.“
„Kalir?“, wanderte sein Blick zu dem hageren Mann, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte.
„Euer Gnaden?“
„Sonst irgendwelche Nachrichten? Gerüchte? Irgendwas.“
Kalir räusperte sich und rollte eine kleine Karte auf dem Tisch aus.
Alora schauderte beim Anblick des hageren Mannes zusammen. Noch vor Luca oder Duk war Kalir durch seinen Status als Hohepriester der Götter der einflussreichste und wichtigste Berater des Königs. Sein Wort hatte viel Gewicht und hatte den König schon mehr als einmal überzeugt. Sie wusste, dass Luca, und, soweit sie wusste, auch Chestaine, überzeugte Gegnerinnen Kalirs waren. Oft genug hatte Luca über den Mann geflucht, dessen Aussehen Alora immer an die Gruselfiguren aus Kindergeschichten erinnerte. Die dünnen langen Finger, der knochige Kopf. Alles wirkte nicht so, wie es sein sollte an ihm.
„Über die Mesmerize kommen nur wenige Gerüchte die letzten Tage, Euer Gnaden“, knarrte Kalirs Stimme durch die enge Kammer. „Das meiste aus den freien Tälern jenseits der Rabenberge.“
„Nichts aus dem Norden?“
„Ich befürchte nicht. Kein Wort, Euer Gnaden. Völlige Stille.“
„Mesmerize“, sagte Duk abschätzig und schüttelte den Kopf. „Die Meldungen meiner Männer sind verlässlicher als dieser Hokus Pokus, Euer Gnaden.“
„Der Nutzen der Mesmerize ist unumstritten, Duk“, sagte Refle.
„Ein Geschenk der Götter“, sagte Kalir zu Duk mit einem Grinsen, in dem keine Freundlichkeiten vorhanden waren.
„Vielleicht. Und ebenso gefährlich. Seit dem Feuersturm gibt es zu wenige Kundige, die die Kugeln benutzen können. Und jeder der ohne Kugeln Magie nutzen konnte ist verbrannt.““
„Herr Marschall scheint mir und den Göttern nicht zu vertrauen“, sagte Kalir mit seiner emotionslosen kalten Stimme.
„Den Göttern ja. Euch?“ Er sparte sich die Antwort.
Ein kurzes Lächeln glitt über Kalirs Lippen.
„Genug“, blickte Refle zu Duk und Kalir, die gefügsam ihren Kopf senkten und den aufkommenden Streit beendeten. „Wir haben Wichtigeres zu tun.“
„Euer Gnaden.“
„Gewiss.“
„Kalir. Fahr fort.“
„Wo war ich, Euer Gnaden?“. Er sah ausdruckslos aber dann doch irgendwie berechnend zu Duk. „Als das letzte Mal im Norden völlige Stille herrschte, fielen die Joglu in unsere Reich ein.“
„Euer Gnaden!“, es war Duk der Kalir wieder harsch ins Wort fiel und mit einem festen entschlossenen Blick zum Schweigen brachte. „Euer Gnaden“, widerholte er sichtlich erregt, „es gibt keinerlei Hinweise, dass es Grenzüberschreitungen von regulären Truppen gegeben hätte. Banditen oder Chimären sind wahrscheinlicher, als dass die Joglu…“ Er stoppte. „Als dass Joglu eine Armee aufgestellt hat.“
„Chimären?“, erwiderte Prinz Catel auf die Vermutungen des Marschalls und schüttelte mit dem Kopf. „Seit Wintern gibt es keine Berichte mehr über Chimären diesseits der Arka oder der Rabenberge. In Worgu sind sie ausgerottet.“
„Klingenbären galten ebenfalls als ausgerottet. Und trotzdem haben meine Männer allein diesen Sommer zwei Dutzend erlegt!“
„Vielleicht, angeblich oder es wurde gehört. Alles Vermutungen!“, warf der König plötzlich in den Raum und brachte alle wieder zum Schweigen. „Das Felsental ist zu wichtig für Vermutungen. Erze, Kohle und Stein. Unsere Wirtschafft hängt vom Felsental ab.“
„So ist es, Euer Gnaden. Und einen halben Tagesmarsch entfernt liegt die Grenze nach Joglu.“
„Und was wollt Ihr damit sagen? Eine Heerschau und Joglu angreifen? Erneut? Kurz vor der Hochzeit?“
„Unter Repgo wart Ihr damals ganz begeistert in den Krieg gezogen. Oder irre ich mich da, Herr Marschall?“, antwortete Kalir ausdruckslos und kalt, ganz klar gewollt provozierend.
Duks Hände begannen zu zittern. „Wie kannst du es wagen?“
Das erste Mal erkannte Alora tatsächliche Wut und Hass in Duks Gesicht.
„Genug!“, brüllte Refle, als Duks Hand plötzlich am Griff des Schwerts ruhte und diesen verkrampft festhielt. „Kalir. Du auch. Es reicht.“
Der Priester nickte und wich einen Schritt zurück.
„Verzeiht euer Gnaden.“ Duk verneigte sich kurz und ließ seine Hand lockerer werden.
„Chestaine. Luca. Was empfehlt ihr?“, fragte der König nach wenigen Momenten der Ruhe.
Auch die beiden Frauen schienen überrascht von den Ereignissen der letzten Finger zu sein und brauchten einen Moment, bis sie sich gesammelt hatten.
„Eine Hochzeit steht bevor, Geliebter.“ Sie schaute ihrem Gatten tief in die Augen. „Und ein Krieg ist ein schlechtes Omen.“
„Wahre Worte“, nickte Refle zustimmend und schaute starr auf den Tisch. „Marschall Duk?“, sagte der König schließlich.
„Euer Gnaden?“
„Ihr nehmt fünfhundert Mann, beritten, und macht Euch mit diesen auf den Weg zum Felsental. Dort werdet Ihr feststellen, was sein Unwesen treibt und es erledigen. Falls, ich betone, falls“, er schaute zu Kalir, „es eine feindliche Armee ist, werdet ihr unverzüglich Bericht erstatten. Verstanden?“
„Ja, Euer Gnaden.“
„Gut. Macht Euch auf den Weg.“
Der Marschall verneigte sich und begab sich in Richtung Tür. Alora lächelte Duk zu, als er an ihr vorbeiging. Sie wusste, was das bedeuten sollte. Duk würde womöglich in eine Schlacht ziehen. Sie mochte den Gedanken noch nie. Ihr Vater war bereits nicht zurückgekommen, nachdem er in den Krieg gezogen war und sie hatte Angst, dass Duk dasselbe Schicksal treffen könnte.
„Da das nun geklärt ist, die Cent werden bald hier sein, Gemahl“ lächelte Chestaine.
Refle atmete sichtlich genervt durch. „Ich weiß. Was habt ihr geplant?“