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Kapitel 3 -Offene Fragen
ОглавлениеIm Worgunischen Thronsaal tobte ein Kampf, der ungleicher nicht hätte sein können. Der Kampf gegen die erbarmungslos verrinnende Zeit. Zimmerleute und Schreiner rannten fluchend umher, rein und wieder raus, rein und wieder raus, um ihre bepackten Wagen zu entleeren und ihre Aufträge zu vollenden. In dem Gewusel, war es in Aloras Augen unmöglich, überhaupt irgendwas fertigzustellen. Aber trotz allem Chaos herrschte in dieser einmaligen Schlacht eine gewisse chaotische Ordnung. So sehr die Schreiner auch mit den Schaustellern stritten und die Bediensteten für die Speisen mit den Köchen aneinandergerieten, alles schien zu funktionieren und aus dem Chaos entstand langsam Ordnung. Die große Baustelle nahm langsam Gestalt an und schien tatsächlich noch zeitig fertig zu werden. Ein kleines Wunder in ihren Augen. Es war kaum einen halben Tag her, dass sie in der Kammer gestanden und sich die Pläne der Königin und Mätresse angehört hatte.
„Gemahl, die Cent werden heute kurz vor Sonnenuntergang erwartet. Unsere Idee war, dass Marschall Duk Komir und sein Gefolge empfängt. Aber ich glaube unser Marschall hat nun andere Dinge, um die er sich kümmern muss.“
„Dhuhr übernimmt das. Er und die Drachenköpfe geben ein ebenso gutes Bild ab wie Duk mit regulären Truppen“, winkte Refle die Idee seiner Königin ab und glaubte die Diskussion damit für beendet.
Chestaines Blick verharrte kurze Momente auf dem König. Die Antwort Refles war ungewöhnlich hart und streng und es war mehr als deutlich zu spüren, dass die Königin damit nicht einverstanden war.
Hauptmann Dhuhr war ein grobschlächtiger und hässlicher Mann. Eine schiefe Nase, unförmige und versetzte Augen und lichtes dunkles Haar. Aber als Hauptmann der Drachenköpfe befehligte er die persönliche Garde des Königs und damit war er es der Hauptverantworliche für die Sicherheit der gesamten Königsfamilie. Er folgte Refle wie ein Schatten. Wo auch immer der König sich befand, Dhuhr war nie weit entfernt. Vielleicht war dies der Grund, warum Chestaine solch eine Abneigung gegen den Hauptmann hatte.
„Euer Gnaden“, sagte Luca und Alora glaubte ein Zwinkern in Chestaines Richtung gesehen zu haben. „Gewiss sind die Drachenköpfe eine eindrucksvolle Truppe und Dhuhr ein großer Anführer, aber würden diese euch wirklich repräsentieren?“ Ihre Augen wanderten beschwichtigend zur Königin und dann zurück zum König, der regungslos zuhörte. „Wir müssen Stärke zeigen. Worgu und Prinz Catel müssen Stärke zeigen, schließlich geht es hier um ihn und das Reich.“
Alora schaute interessiert zum Prinzen, der hinter seinem Vater in Stellung gegangen war. Er beobachtete emotionslos Luca und hörte ihr mit undurchsichtiger Miene zu.
„Lu hat Recht, Gemahl“, sagte Chestaine, mit etwas Wut in der Stimme. Das Zaturische Blut in ihren Adern machte sich bemerkbar. „Catel sollte eine Hundertschaft aufstellen und damit Imperator Komir und seine Familie begrüßen. Schließlich reiten seine baldige Gemahlin und damit die Prinzessin Worgus in diesem Tross. Der Anstand gebietet es, dass Catel sie empfangen muss.“
Alora stutzte kurz auf. Die Gemahlin des Prinzen? Darum all die Aufregung um den bevorstehenden Besuch. Worgu und Cent sollten im Blute verbunden werden. Kein Wunder, dass Luca so sauer auf die war, es ging hier um die baldigen Verwandten des Königs. Sie schluckte. Das war ein neuer Höhepunkt in ihrer großen Statistik der Fehler und Ausrutscher.
„Raben“, fluchte sie leise und nicht hörbar.
„Gut, ich stimme zu“, antwortete der König, während er sich durch das Gesicht rieb und länger an der großen Nase kratzte. „Catel. Suche dir eine Hundertschaft zusammen und bereite die Heerschau vor. Ich will, dass du den Tross aus Cent an der Speerbrücke abfängst und hierher eskortierst. Verstanden?“
„Gute Idee, Gemahl. Die Speerbrücke eignet sich perfekt für den großen Empfang“, lächelte eine deutlich beruhigte Königin ihrem Gatten zu.
Die Speerbrücke war eine etwa dreihundert Schritt lange Brücke, die zwei Hände südlich der Stadt Worgu eine der wichtigsten Handelsrouten über den Fluss Worga darstellte und so etwas wie die Lebensader Worgus war. Sie war der schnellste Weg, um die Hauptstadt und die Feste über den Landweg zu erreichen. Der nächste Übergang lag mehrere Tagesreisen weiter nördlich.
„Hör zu, Sohn“, wandte Refle sich seinem Sohn zu. „Durch die Heirat werden wir ein mächtiges Bündnis eingehen. Worgu und Cent, Seite an Seite vereint. Die mächtigste Allianz der bekannten Welt. “
Catel antwortete nicht.
„Ich weiß, dass es für einen Mann in deinem Alter schöneres geben kann als eine Heirat.“ Refle lächelte. „Aber es ist zum Wohl des Reiches.“
„Für das Wohl des Reiches“, nickte Catel nach einem Augenblick des Schweigens. „Vater. Mutter. Ich werde meine baldige Gemahlin an der Speerbrücke empfangen und meine Pflicht erfüllen.“
Sein Blick fiel dabei auf Kalir, der seit seiner Auseinandersetzung mit Duk kein Wort mehr gesagt hatte. Nur kurz meinte Alora zu sehen, wie Kalir den Blick des Prinzen erwiderte.
„Mach uns stolz, Junge“, beendete der König endgültig die Diskussion und wandte sich seiner Gemahlin und der Mätresse zu.
„Wie ist die Planung für das Festmahl heute?“
Luca räusperte sich kurz, während Catel teilnahmslos die Kammer verließ und begann, dem König zu berichten was sie geplant hatte aufzutischen und zur Belustigung der Anwesenden beizutragen.
Alora blickte unterdessen dem Prinzen hinterher, während dieser durch die Tür schritt und leise wie eine Maus, ohne einen Blick zurückzuwerfen, verschwand. Sie fand, dass Catel der Hochzeit ziemlich gelassen entgegensah. Sie hatte schon davon gehört, dass viele Männer - Luca nannte es immer „kalte Füße bekommen“, wenn sie den Ehe Eid vor den Göttern ablegen sollten. Aber Catel schien sich damit abgefunden zu haben. Vielleicht freute es sich sogar auf die Hochzeit und auf die gemeinsame Zukunft mit seiner Königin.
„Alora wird sich um die Töchter Komirs kümmern. Ich habe keine Zweifel, dass sie dies zu der Zufriedenheit aller erledigen wird. Nicht wahr, Kind?“
Alora hörte ihre Herrin wieder einmal nicht und grübelte weiter. Luca hatte ihr mal erklärt, dass es vollkommen normal sei, dass in den Adelskreisen Ehen von den Eltern geplant wurden. Allianzen, wie in diesem Fall, wurden geschmiedet, Blutfehden beendet oder Schulden beglichen. Luca bezeichnete eine Hochzeit immer als Allheilmittel für gegenseitige Interessen oder als Fuß in der Tür zum Königshaus. Zweiteres vor allem dann, wenn wiedermal ein Landlord Refles seine Tochter in die Feste schleppte, um sie Catel vorzustellen.
„Alora!“
Sie schreckte zusammen und merkte die Blicke aller Anwesenden auf sich ruhen. „Ja, MyLady!“
Es war schon wieder passiert - und das vor der Königin und dem König. Aloras Herz donnerte und ihr Magen krampfte zusammen. Alle Anwesenden starrten sie an und gerade jetzt musste sie wieder träumen. Sie verfluchte sich innerlich und nickte ängstlich, als sie in Lucas Augen blickte.
„Ich verspreche euch, Euer Gnaden, Alora ist die beste Wahl dafür.“
Refle schaute sie auch an. Er musterte sie geradezu und sie versank im Boden, starr wie eine Marmorsäule des Thronsaals. Ihre Verträumtheit hatte ihr wiedermal Ärger eingehandelt, und das nicht zu knapp, Lucas Blick nach zu urteilen.
Trotz des angedrohten Ärgers kam Alora nochmal mit dem Schrecken davon. Die Königin belagerte Luca auch nach der Besprechung in der Kammer weiter, weshalb die Mätresse keine Zeit hatte, sie wegen ihrer erneuten Verträumtheit zu rüffeln. Luca hatte es bei wenigen Worten und der Aufgabe belassen, dass sie im Thronsaal die Zünfte beobachten und, falls nötig, eingreifen sollte, wenn es wiedermal zu größeren Streitereien kam.
Eine äußerst undankbare Aufgabe, wie sich schnell herausstellte und damit doch eine Art Strafe. Keiner der Handwerker nahm ein junges Mädchen ernst, das ihm erklären wollte, doch bitte nicht die ganzen Sägespäne über die Tafel zu verteilen oder vorsichtig mit den Latten zu sein, die sie rumtrugen. Im besten Fall erntete Alora ein müdes Lächeln und im schlimmsten Fall Wortkreationen, die sie nicht kannte, die aber mit großer Wahrscheinlichkeit eine Beleidigung waren. Ihre Motivation ließ dementsprechend schnell nach und sie verkroch sich in eine Ecke des Saals, wo sie niemanden störte und auch selber nicht gestört wurde. Endlich ein wenig Ruhe genießen und Kraft sammeln, bevor die Cent eintrafen. Sogar ein wenig wärmer war es im Thronsaal geworden. Die Kohlejungen hatten alle zwölf großen Kamine entzündet und große Feuer prasselten vor sich hin. So war es auch unbeweglich in einer Ecke des Thronsaals durchweg aushaltbar und nicht mehr ganz so eisig wie noch vor ein paar Händen. Denn viel zu beaufsichtigen hatte Alora ehrlich gesagt ohnehin nicht. Die jeweiligen Zünfte beherrschten ihre Handwerke bestens und die Arbeiten standen kurz vor der Vollendung. Selbst die von ihr bemängelte Unordnung wurde von den Handwerkern entfernt und die Tafel sauber hinterlassen. Sie wippte von einem Bein auf das andere. Langsam aber sicher schmerzten ihre Knie dank der Untätigkeit, zu der sie verdammt war. Zumindest störte es ausnahmsweise niemanden, dass sie in ihren Gedanken versunken war und so träumte sie vor sich hin und ignorierte die Dutzenden Menschen um sie herum. Sie nutzte die Zeit und malte in ihrem Kopf aus, wie die nächsten Tage oder Monde aussehen würden.
Verantwortlich für die Töchter des Imperators, eine große Aufgabe, die sie keinesfalls vermasseln wollte. Sie repräsentierte Worgu gewissermaßen, Fehler durfte sie keine machen. Damit würde sie nicht nur sich selbst blamieren, sondern auch Luca oder gar das ganze Königreich. Viel Druck lastete auf ihren dürren Schultern und sie spürte, wie ihr Magen bei dem Gedanken daran leicht anfing zu rebellieren.
„Das gefällt mir nicht“, flüsterte sie sich selbst zu.
Wie sie wohl sein würden, die edlen Prinzessinnen aus dem Süden? Wie würden die Cent überhaupt sein? So sehr sie auch nachdachte, sie hatte noch keinen Cent gesehen. Wie waren die fremden Menschen aus dem Land südlich von Worgu wohl? Es gab natürlich viele Gerüchte darüber, aber Gerüchte waren eben nur Gerüchte, was sollte sie davon glauben? Hochnäsig und arrogant bezeichnete man die Cent oft in der Feste und wollte am liebsten nichts mit ihnen zu tun haben. Die Wunden des großen Krieges waren noch zu tief und verheilten nur äußerst langsam. Vielleicht würde die Hochzeit tatsächlich helfen, diese alten Wunden zu schließen und eine tiefe Verbundenheit zwischen den Reichen aufbauen.
Es nagte an Alora. Sie musste mehr wissen, aber wen sollte sie Fragen? Luca war mit der Königin in die Vorbereitungen vertieft und sie sollte im Thronsaal alles beisammenhalten. Möglicherweise könnte Duk ihr helfen. Auch wenn er sicherlich mitten in den Vorbereitungen für den Ritt in den Norden war. Ein wenig Zeit für sie könnte er vielleicht aufbringen und ihr Fragen beantworten. Sie würde ihn auch nicht lange stören. So oft hatte er ihr schon die Angst vor großen Aufgaben, die Luca ihr aufgebrummt hatte genommen und ihr immer mit Rat zur Seite gestanden. Sie hoffte, dass er dieses Wunder auch diesmal vollbringen könnte. Wenn sie aber nun zu Duk gehen würde, würde sie gegen Lucas Anweisungen verstoßen - schon wieder. Die Mätresse hatte sich unmissverständlich ausgedrückt, dass sie im Thronsaal bleiben solle.
Aber wofür, fragte sie sich.
Die Handwerker nahmen sie sowieso nicht ernst und die Arbeiten standen kurz vor der Vollendung. Der langen Tafel wurde der letzte Schliff verpasst und letzte Dekorationen wurden genauestens berechnet platziert. Blumengestecke, Kerzen und kleine Statuetten zierten die Mitte der großen Tafel und zogen sich von einem Ende zum anderen. Die Zimmerleute hingen die letzten Banner an die vorgesehenen Orte und neben Refles Thron wuchteten kräftige Burschen einen massiven schwarz gebeizten Holzthron auf das Podest. Ohne Zweifel würde dort der Imperator Cents während seines Besuchs sitzen. Direkt neben dem König Worgus zu sitzen war natürlich eine große Ehre für einen fremden Herrscher und ganz klar ein weiterer Schritt zur Versöhnung der Reiche. Neben dem imposanten Thron des Worgunischen Königs verblasste der extra für den Imperator aufgestellte Thron jedoch. Gold-silbern glänzte der Thron Refles in allen Regenbogenfarben und sah mit seiner zweimannshohen Lehne aus wie der Stuhl eines Riesen. In die Lehne war das Zeichen der Götter mit glänzenden Edelsteinen eingelassen und sollte so den König und damit das gesamte Königreich gegen die Raben beschützen.
Die Raben waren das Gegenstück der Götter. Dämonen aus einer anderen Welt, die nur dafür geschaffen waren, Böses zu tun. Die Priester der Götter predigten schon immer, dass die Raben schuld seien, wenn Dürren kamen oder wenn wieder ein strenger Winter länger dauerte als normal. Die Raben waren es Schuld. In der gesamten bekannten Welt waren die Raben ein Synonym für Unglück und Pech. Ob es nun tatsächliche Unglücke waren oder einfach nur ein umgestoßenes Glas. Die Raben wurden dafür verflucht.
Wieso auch nicht? Laut den Schriften der Götter wurden die Raben in der ersten und größten Schlacht der Geschichte von dem jungen Göttergeschlecht der Karbons, oder wenn die Priester Südlich der Arka gefragt wurden, von den Ahnen der Götter, den Devons, vernichtet und für immer in die Unterwelt verbannt. Es gab also eigentlich nichts zu befürchten. Wie sollten verbannte Dämonen die auf ewig in der Unterwelt gefangen waren auch für Unglücke verantwortlich sein? Dies war nur einer der vielen Punkte, die Alora bei der ganzen Religion nicht ganz schlüssig erschienen und weshalb sie nicht zu den gläubigsten Bewohnern der Feste zählte.
Mit einem lauten Knall setzten die Burschen den schweren neuen Thron ab und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Alora seufzte und schaute sich um. Sollte sie tatsächlich Lucas Anordnung ignorieren und den Thronsaal verlassen?
„Verzeih mir, Luca“, entschied sie sich und zog ihr Kleid zurecht. Möglichst schnell versuchte sie sich durch das Gewusel im Thronsaal zu winden. Obwohl es bei den anwesenden Zünften so leicht aussah, nicht mit jedem zweiten zusammenzustoßen und somit einen Streit zu provozieren, war es das in Wirklichkeit absolut nicht. Die vielen Schultern stellten für das zierlich gebaute Mädchen unausweichliche Hindernisse da. Wenn sie einer Schulter versuchte auszuweichen, traf sie dafür eine andere plötzlich aus dem Nichts auftauchende Schulter. Zwar entschuldigte sie sich immer höflich, erntete jedoch immer wieder aufs Neue böse Blicke und hin und wieder polterte ihr sogar eine Beleidigung entgegen. Mit Pirouetten und blitzschnellen Ausweichmanövern, die eher kläglich gelangen, erreichte Alora dann doch ihr Ziel und verschwand durch die weit offenstehenden Tore aus dem Thronsaal.
Den prunkvollen Gang erreicht, bemerkte sie schnell, dass auch hier ähnlich viel Trubel herrschte wie im Thronsaal. Im Gang herrschte ebenso ein reger Durchlauf der Zünfte, jedoch deutlich geordneter. Die Drachenköpfe sorgten mit großer Sorgfalt dafür, dass es zu keinem Chaos kam und verhinderten, dass womöglich noch die reichen Verzierungen beschädigt wurden. Sogar den prachtvollen Teppich hatten sie beiseite gerollt, um Beschädigungen durch die großen dreckigen Wagenräder zur verhindern.
Alora nutzte die Ordnung aus und ging schnellen Schrittes ohne weitere Rempeleien zum großen Ausgang in den Hof der Feste.
„Es schneit nicht mehr“, stellte Alora abwesend für sich selbst fest, während sie die Stufen des Kronensaals hinabstieg und den dunklen Stein des Innenhofs erreichte. Die hohen Türme der Feste ragten vor ihr wie die Finger eines Riesen in die Luft und deren Kuppen verschwanden im aufgezogenen tiefhängenden Winternebel der die Sonne vom Morgen gänzlich verdrängt hatte und aus der Welt aussperren wollte. Das schwache Licht hatte kaum genug Kraft den Nebel zu durchbrechen und hüllte den Innenhof in ein dunkles trübes Licht. Sogar die Tore der Feste, die gute fünfhundert Schritte vom Eingang des Kronensaals lagen, waren nur schemenhaft zu erkennen.
Ohne langsamer zu werden eilte sie weiter über den Hof und ignorierte die endlosen Schlangen an vollbeladenen Wagen und bis zum Rand gefüllten Schubkarren, die weiter Material aus der Stadt in die Feste brachten. Es war ein seltsamer Anblick für sie. Ein seltsamer Anblick für alle Bewohner der Feste. An normalen Tagen beherrschten die Soldaten des Reichs den Hof. Zwischen den hohen Mauern und noch höheren Türmen wurden junge Rekruten geschliffen und ausgebildet. Sie lernten den ersten Umgang mit Schwert und Schild und schlugen wie die Berserker auf die extra dafür aufgestellten Strohpuppen ein. Sogar Bogenschützen hatten zwischen den Mauern Platz und übten direkt neben den Pikenieren die mit ihren überlangen Piken die perfekte Phalanx einstudierten. Nur waren es keine normalen Tage mehr. Die Rekruten waren den Zelten gewichen, die über den letzten Mond hinweg langsam aber sicher wie Unkraut den Hof überwuchert hatten. Es gab große Zelte, kleine Zelte und noch größere Pavillons. Manche waren rot, die anderen einfach nur grau und wieder welche bunt wie eine Sommerwiese. Es war ein kleines Dorf, das mitten im Herzen der Feste erbaut worden und für die Männer aus Cent und Worgu gedacht war, die nicht das Glück hatten eine Stube in der Feste zu ergattern.
Durch den Winter würden es sicher keine angenehmen Nächte werden, dachte Alora, während sie im Vorbeigehen flüchtige Blicke in die Zelte warf.
An den Toren angekommen schnaubten ihr die zweidutzend mit buschigem Fell besetzten Ochsen zu, die zum Öffnen und Schließen der Tore genutzt wurden. Ohne die Tiere hätten die Tore sich auch kaum bewegen lassen. Selbst Alora konnte unschwer erkennen, dass die mannsdicken und Baumhohen aus massiven Stahl geschmiedeten Tore unglaublich schwer sein mussten. Darum waren an normalen Tagen die Tore auch nicht geöffnet. Selbst mit den Ochsen dauerte es gute zwei Finger, bis die Tore geschlossen oder geöffnet waren. Eine Prozedur, die niemand mehrfach am Tag über sich ergehen lassen wollte. Aus diesem Grund gab es in einem der Tore eine kleine eingelassene Tür. Auch aus Stahl und auch deutlich zu schwer war es für eine Handvoll Drachenköpfe aber möglich, Besuchern Einlass zu gewähren, ohne zwei Finger warten zu müssen. Aber heute hätte die kleine Tür nicht ausgereicht. Zu groß war der Ansturm der Zünfte, zu groß waren die Wagen, als dass das kleine Tor ausgereicht hätte.
Vorbei an den Gardisten, die jeden Wagen, der in die Feste wollte, genaustens durchsuchten, vorbei an fluchenden Schreinern, die zum wiederholten Male durchsucht wurden betrat Alora die gepflasterte nasse Straße und blickte hinab in das Tal Worgus. So hoffte sie. Aber der Nebel war zu dicht und lag zu tief. Heute konnte sie keinen Blick auf die dunklen Dächer der Stadt Worgu werfen, die sich am Fluss entlang ausbreitete und die an hellen Tagen wie ein gigantisches Spinnennetz wirkte. Sie konnte keinen Blick auf die fünf Tempel der Götter werfen, die das Zentrum der Stadt dominierten, oder auf die Bergkette hinter der Stadt mit ihren immer grünen Nadelwäldern. Alles wirkte trist und leblos, verschlungen vom Winter und dessen Atem. Nur die Kasernen direkt vor den Mauern der Feste waren klar und deutlich zu erkennen. Und ihr Äußeres passte für Alora zum tristen Nebel des Winters. Große vollkommen ohne jegliche Schönheit gebaute viereckige Klötze mit flachen Dächern, kleinen Fenster und großen Türen. Die Mauern aus grauen Ziegeln gemauert und die Dächer mit schwarzen Schindeln bedeckt. Äußerlich sicher passend zur Feste. Aber ohne auch nur einen Hauch ihrer Wucht und Bedrohlichkeit. In ihr lebten die Männer von zwei Worgunischen Divisionen. Zu ihrer rechten die Ersten Landwehr-Division, im Volksmund auch die Eiserne Faust, genannt. Fünftausend Kopf stark und seit den Worgunischen Eroberungskriegen immer das Zentrum der Worgunischen Schlachtlinien. Und zu ihrer linken die deutlich größeren Kasernen der Erstem Reiterdivision. Die legendäre Division, welche in den Nordkriegen die Speerspitze gegen die Joglu geformt hatte. Eintausend berittene Soldaten, die binnen weniger Hände bereit für den Kampf waren und Worgu bis zum Aufmarschieren des restlichen Heeres schützen sollten. Insgesamt standen dem Reich so, auch in Friedenszeiten, sechstausend Männer zur Verfügung. Alle geführt von einem Mann, der nur dem König selbst unterstand. Dem Marschall. Duk. Und da Duk auf Befehl des Königs in den Norden reiten sollte, konnte es nur einen Ort geben an dem Alora suchen musste. Die Kaserne der Reiterdivision.
Eine fast zwanzig Schritt breite Straße führte, wie mit dem Lot gezogen, den Hügel hinab und verband als Kreuzung die beiden Divisionslager, über denen im kalten Wind hastig die Banner Worgus wehten. Der Wind erreichte außerhalb der Mauern auch Alora und ließ sie die Arme eng um sich schlingen.
„Götter, ist das kalt“, bibberte sie und ging weiter.
Durch das große offene Tor der rechten Kaserne konnte sie sehen, dass auch die Landwehrdivision aufgrund des bevorstehenden Besuchs alle Hände voll zu tun hatte. Mehrere Kompanien standen in Formation in ihren auf Hochglanz polierten Rüstungen in Reih und Glied. Vor den Reihen gingen die Leutnants auf und ab und tadelten einzelne Männer, die in ihren Augen irgendetwas falsch gemacht hatten. Sei es ein wenig Dreck auf der Rüstung oder eine falsche Bewegung. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. Das Worgunische Militär sollte sich von seiner besten Seite zeigen.
Schnell huschte Alora über die nasse Straße in Richtung der Reiterdivision. Mit ihren weitläufigen Außenanlagen und den Stallungen für die Pferde war diese Kaserne deutlich imposanter und größer als ihre Schwester. Zwar immer noch so hässlich und zweckmäßig, aber dafür nicht so eng bedrückend.
„Halt!“, raunte jemand, als sie gerade mit gesenktem Kopf das Tor passieren wollte. „Kein Durchgang für Zivilisten. Hier befindet sich die Kaserne der königlichen Ersten Reiterdivision!“ Mit abschätzenden Blick wurde Alora von einem der Kavalleristen gemustert.
Normalerweise wirkten die Soldaten der Armee immer einschüchternd und autoritär. In ihren dunklen Lederrüstungen mit den metallbeschlagenen Harnischen sahen die Reiter der leichten Kavallerie zwar bei weitem nicht so eindrucksvoll aus wie die schweren Reiter oder die schwere Infanterie, aber trotzdem eben bedrohlich. Sie vermittelten Respekt. Eine Eigenschaft, die jeder Soldat mit sich bringen sollte, hatte Duk ihr einst gesagt.
Vielleicht hätte er das auch diesem jungen Soldaten vor ihr sagen sollen, dachte Alora.
Er wirkte schlaksig und alles andere als motiviert. Nervös pendelte er von einem Bein auf das andere und fingerte nervös am Griff des Speeres in seiner Hand herum. Seinem Blick war es deutlich anzusehen, dass es ihm nicht gefiel, in der Kälte draußen wache zu halten, während seine Kameraden in der warmen Kaserne saßen oder sich auf den Einsatz vorbereiteten. Was man ihm bei dem kalten Wind nicht wirklich verdenken konnte.
Nach einer kurzen Sprachlosigkeit räusperte Alora sich und sah dem Soldaten fest in die Augen.
„Ich bin kein Zivilist, Soldat! Ich bin das erste Zimmermädchen von Lady Luca, der Mätresse des Königs. Ich verlange Marschall Duk zu sehen.“
„Erstes Zimmermädchen von Lady Luca, der Mätresse des Königs...“, stieß der Kavallerist kurz angebunden aus und musterte sie erneut von Kopf bis Fuß. Diesmal mit noch mehr Argwohn in den Augen.
„So ist es, Soldat! Also dürfte ich bitten?“, lächelte Alora und ignorierte die Unhöflichkeit des Soldaten und zeigte so ein wenig Verständnis für die schlechte Laune des Soldaten.
„Verzeiht, dass ich Euch nicht erkannt habe“, spielte er den Schuldigen, nur um ihr den Weg erneut zu versperren. “Kein. Zutritt! Und jetzt hau ab.“
„Ich kenne Marschall Duk persönlich, Soldat! Euer Verhalten wird ihm nicht gefallen!“, protestierte sie lautstark.
„Laut Befehl eben jenes Marschalls ist es Zivilisten zurzeit verboten, die Kaserne zu betreten. Der Marschall bereitet in diesem Moment einen Einsatz vor. Da hat er bestimmt keine Zeit für ein Zimmermädchen!“
„Luca wird es bestimmt auch nicht gefallen, dass du mich nicht hereinlässt!“, versuchte Alora ihren letzten Trumpf zu spielen, und hoffte der Respekt, den die Soldaten vor Luca hatten würde helfen.
„Hör zu, Mädchen“, seufzte der Mann. „Befehl ist Befehl, da kannst du mich mit deinen Blicken noch so sehr verfluchen oder mit der Mätresse drohen. Ich befolge die Befehle des Marschalls und nicht die Lucas. Und jetzt hau ab. Dieser beschissen kalte Wind nervt mich schon genug.“
„Aber ich muss zu Duk!“, protestierte Alora weiter.
„Du nervst, Kleine. Fast noch mehr als die Kälte.“ Er stoppte. „Ich hätte einen Vorschlag,“ sagte er breit grinsend weiter.
„Einen Vorschlag?“
„Dir ist doch sicher auch kalt. Natürlich ist dir kalt, euch Frauen ist immer kalt.“
Alora sagte nichts und verzog die Augenbrauen.
„Wir könnten uns gegenseitig ein bisschen aufwärmen. Merkt auch sicher keiner.“ Er zwinkerte ihr zu.
Aloras Gesicht lief Rot an. „Raben nein!“, stöhnte sie und brachte den Mann zum Lachen.
„Nun komm schon“, ächelte elr. „Ansonsten verschwinde und lass mich in Ruhe!“
„Alora?“
Sie blickte auf. Die Stimme kam ihr sofort bekannt vor und ließ sie vor Freude breit strahlen. Womit sie das genaue Gegenteil des Soldaten war, der jetzt eher wirkte, als hätte er sich in die Hose geschissen.
„Duk! Ich habe nach dir gesucht“, rief sie dem Marschall zu, der wenige Schritte entfernt aus der Kaserne zu ihr hinüber sah.
„Und du hast mich gefunden“, antwortete der Marschall ihr als er näherkam. Der Soldat nahm stocksteif Haltung an, als der Marschall neben ihm stehen blieb. „Du hast Glück. Bin gerade erst damit fertig geworden, Befehle zu verteilen. Beide Divisionen sollen bereitstehen und die Cent den gesamten Weg von der Stadt hinauf bis zur Feste begleiten. Und wenn ich in den Norden aufbreche, wird jemand anders die Befehle geben müssen.“
„Herr Marschall!“, salutierte der eben noch so vorlaute Soldat und stand gerade und starr wie der Speer, den er in der Hand hielt.
„Soldat“, nickte Duk und wand sich danach wieder Alora zu. „Womit kann ich dir denn helfen? Ich bin etwas ein Eile musst du wissen“
„Ich…“, überlegte sie kurz und sah zum Soldaten rüber, der mit jedem Augenblick noch bleicher im Gesicht wurde. Sie lächelte. „Ich habe ein paar Fragen. Wird auch nicht lange dauern.“
Duk überlegte kurz. „Dann komm mit“, gab er ihr den Vorrang, die Kaserne zu betreten.
Ein hämisches Grinsen konnte Alora nicht verkneifen, als sie an dem starren Soldaten vorbeiging und den großen Hof der Kaserne betrat. Duk führte sie direkt in seine Stube die unverfehlbar mitten auf dem großen Exerzierplatz der Kaserne lag. Überall um sie herum waren die Männer und Tiere der Ersten Reiterdivision in heller Aufregung. Hastig wurden Pferde neu beschlagen, Rüstungen angelegt und Vorräte auf die langen zweiachsigen Wagen geladen, an deren Spitzen die großen muskulösen Kaltblüter friedlich auf ihren Einsatz warteten. Die in der Luft liegende Spannung unter den Männern war sogar für Alora zu spüren. Überall riefen die Männer durcheinander, Offiziere ordneten ihre Truppen und Waffen wurden aus den Lagern ausgegeben. Die Männer kontrollierten gegenseitig ihre Rüstungen und redeten sich gegenseitig Mut zu. Sogar die älteren Soldaten schienen nervös zu sein. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Division bereit war und an der Seite ihres Marschalls in den Norden zu ziehen.
Das Gewusel hinter sich gelassen erreichten die beiden eine kleine schmucklose Tür, die in einen dunklen Gang führte, der direkt in der Schreibstube des Marschalls endete. Duk besaß als Marschall der Armee natürlich auch eine deutlich größere in der Feste gelegene Stube, aber er bevorzugte so lange Alora sich erinnern konnte schon immer die Enge und Dunkelheit der Amtsstube in der Kaserne. Er hatte einmal erklärt, dass er so näher bei seinen Männer war und sie näher an ihm. Das würde Vertrauen schaffen, und es gäbe nichts Wichtigeres als Vertrauen an den Nebenmann während einer Schlacht. Alora mochte die Schreibstube trotzdem nicht.
Das schwache Licht, das nur durch ein kleines Fenster einfiel, erweckte in ihr dasselbe Gefühl der Enge, das sie auch in der Kammer gefühlt hatte. Anscheinend hatten alle Schreibstuben und Besprechungsraum eines gemeinsam. Alle waren eng und dunkel und nur mit dem Nötigsten möbliert. Auch hier gab es nichts, was dem Raum etwas Freundliches oder Gemütliches gegeben hätte. In der hinteren linken Ecke stand der einsame, aus dunklen Holz gebaute Rüstungsständer direkt neben dem Waffenständer an der Wand. Es mussten Winter vergangen sein, seit Duk die beiden Ständer benutzt hatte. Alora konnte sich nicht daran erinnern, wann sie den Marschall das letzte Mal ohne Rüstung oder Schwert gesehen hatte. Für gewöhnlich trug er beides den ganzen Tag. Selbst wenn er Freizeit hatte, verließ er die Stube nicht ohne Rüstung und Schwert. Früher hatte sie sogar geglaubt, dass er damit schlafen ging, wenn er denn überhaupt schliefe. Direkt neben den beiden Ständern befand sich das Bett. Es war schmal und kaum höher als Aloras Knie. Bequem sah es in ihren Augen nicht aus und sie beneidete Duk nicht darum, auf der dünnen Matratze schlafen zu müssen. Das größte Möbelstück des Raums war der große rechteckige, vollgestellte Tisch. Es lagen stapelhohe Dokumente und Akten auf der Fläche verteilt und neben Feder und Tinte lagen das Siegelwachs und der Siegelstempel des Marschalls. Direkt daneben lag eine sauber ausgerollte, an den Kanten mit Steinen beschwerte von Meisterhand gezeichnete Karte. In großen Lettern stand Nordgrenze - Joglu am oberen Rand. Alora warf einen kurzen Blick auf die Karte und konnte mit den Strichen, Kreisen und Punkten nicht viel anfangen. Nur die Namen der Provinzen konnte sie klar lesen. Joglu, Felsental, Nördliche Gebiete. Alles mit sauberer Hand auf die Karte geschrieben.
Duk entzündete währenddessen die Fackeln an der Wand und erzeugte so ein wenig Licht im dunklen Raum. Er bemerkte wie Alora auf die Karte schaute und ging zu ihr.
„Kannst du sie lesen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich.“
„Die breite schwarze Linie hier.“ Er zeigte auf die gewundene Linie, die zwischen Felsental und Joglu zu sehen war. „Das ist die Grenze nach Joglu. Hier endet Worgu und Joglu beginnt.“
„Und die dünnen grünen Linien hier am Rand?“
„Die Grenze des Felsentals.“
„Grenze? Ich dachte das Felsental gehört zu Worgu.“
„Tut es auch. Sonst würde ich nicht bald dorthin reiten.“ Er grinste Leicht. „Aber das Felsental ist kein Lehen. Kein Baron herrscht dort, nur der König. Nicht viel anders als in den restlichen nördlichen Provinzen. Auf den Karten des restlichen Reiches wäre es bei den Lehen nicht anders. Auch dort gibt es Grenzen, die die Ländereien der Barone trennen. Aber trotzdem gehören sie alle zu Worgu.“
„Verstehe“, lächelte sie.
„Du bist aber nicht hier, um über Karten zu reden oder?“, sagte Duk und rollte die Karte behutsam zusammen.
„Nein, nein.“ sagte Alora. „Wegen der Cents. Luca hat mir aufgetragen, dass ich mich um die Töchter des Imperators kümmern soll.“
„Mhm. Perfekte Aufgabe für dich“, erwiderte er scheinbar abwesend und verstaute die Karte vorsichtig in einer der Schubladen des Schreibtisches.
„Danke.“ Sie war nicht sicher, ob er ihr zuhörte oder nicht.
„Und was willst du wissen?“, las er scheinbar ihre Gedanken und schaute sie fragend an.
„Ähm, entschuldige.“ Alora räusperte und spielte mit einer Schreibfeder herum, die sie vom Schrank genommen hatte.
„Kennst du Cents? Ich habe noch nie einen getroffen, und es gibt viele Gerüchte über den Imperator und seine Familie oder über die Menschen von Cent.“
Duk sagte nichts, weshalb sie weiterredete.
„Ich konnte die Drachenköpfe einmal belauschen. Wie sie über die Cents geredet haben. Dass sie Kriegsgefangene häuten und in eroberten Dörfern jeden lebendig verbrennen, der sich ihnen entgegenstellt und…“
„Stopp, Stopp“, unterbrach Duk ihre Aufzählung der kursierenden Gerüchte, „du weiß, was im großen Krieg passiert ist? Vor sechzig Wintern?“
„Nun ja. Das was in den Aufzeichnungen steht und mir von den Gelehrten beigebracht wurde. Das was jeder weiß eben.“
„Natürlich. Die Aufzeichnungen.“ Duk setzte sich auf den alten Stuhl, um wie von Zauberhand eine gestopfte lange Holzpfeife aus einer Schublade seines Tisches zu ziehen. „Worgu und Cent haben eine - sagen wir mal - bewegte Geschichte. Vor hunderten Wintern gab es den unausgesprochenen Pakt zwischen Worgu und Cent, dass die Cent südlich der Arka bleiben und die Worgu nördlich. Der Fluss sollte die klare Grenze zwischen den Reichen ziehen.“
Er lehnte sich zurück, entzündete den Tabak und zog an der Pfeife. Die Glut erleuchtete sein Gesicht und ließ ihn wie einen Barden wirken der in einem Gasthaus neugierigen Besuchern eine Geschichte erzählte. Mit unüberhörbaren Genuss blies er Rauch aus seinem Mund und schloss kurz die Augen.
Alora mochte den Geruch des Tabaks. Er erinnerte sie an ihre Kindheit, als sie noch mehr Zeit mit Duk verbringen konnte und von Luca noch nicht so eingespannt wurde wie heute. Die Sommerabende, die sie gemeinsam verbracht hatten, auf den Mauern der Feste den Sonnenuntergang bewundert und in die Ferne gesehen hatten. Sie vermissten diese Zeiten.
„Nur wie es dann so häufig ist, sind für manche Menschen Pakte nichts wert. Vor allem Pakte, die nicht offiziell ausgesprochen wurden. Ein junger Imperator Cents wollte Land nördlich der Arka und eroberte eine der damaligen noch freien Provinzen, kam Worgu also zu vor. Was das bedeutet hat, muss ich dir sicher nicht erklären. Der damalige König Worgus befahl der Armee sofort nach Süden zu marschieren und die Cent zu vernichten. Das war der Beginn des ersten von bisher sechs Kriegen zwischen Worgu und Cent. Der letzte dann vor etwa sechzig Wintern. Refles Vater hatte es sich in den Kopf gesetzt Cent zu erobern und zog in den Krieg. Er ließ die Männer in Boote steigen und über die Arka setzen. Ich will dich nicht mit Militärtheorie langweilen. Aber es gibt nur wenige leichtere Ziele als ein vollbesetztes Boot. Die Cent wussten das und haben diesen Vorteil genutzt. Tausende Männer fielen, noch bevor sei einen Fuß auf das andere Ufer gesetzt hatten. Die Kämpfe danach waren sogar noch brutaler. Der Krieg dauerte zwei Winter und endete wie die Kriege zuvor als Patt. Die Cent verloren kein Land und wir zogen uns zurück. Seitdem ist das Verhältnis zwischen Cent und Worgu, nennen wir es angespannt. Der Handel stockt und an der Grenze kommt es immer wieder zu kleineren Auseinandersetzungen. Das soll nun aber ein Ende haben.“
Er inhalierte erneut den Rauch der Pfeife und hustete kurz aber heftig auf. Sein ganzer Körper schüttelte sich während des kurzen Anfalls.
„Du solltest die Pfeife sein lassen“, riet Alora ihm und lächelte dabei freundlich.
„Wenn es nicht so gut schmecken würde“, antwortet er gewitzt und legte die rauchende Pfeife zur Seite. „Um zu deiner Frage zurückzukommen. Es reicht, wenn du weißt, dass Gerüchte eben Gerüchte sind. Die Cents waren unsere Feinde, und werden jetzt unsere Freunde. Der Handel soll florieren und Komir persönlich kommt zu Besuch. Du wirst sicherlich klarkommen.“ Er lächelte. „Ich kann mir niemanden vorstellen, der sich besser um die Prinzessinnen kümmern wird als du. Du schaffst das. Und lass die Drachenköpfe reden. Die Soldaten aus Cent werden sicherlich ähnliche Geschichten haben.“
„Danke“, nickte Alora beruhigt und blickte dem Marschall in die alten Augen. „Wann wirst du wiederkommen?“, fragte sie und wechselte damit zum nächsten Thema, das sie brennend interessierte.
„So schnell wie möglich. Wenn alles so verläuft wie geplant in vielleicht zwei Monden, hoffe ich.“
„Glaubst du, der Hohepriester hat Recht und es sind Joglu? Wieder abtrünnige wie damals?“
„Eher nicht“, antwortete er ungewohnt er und wirkte wieder abwesend. „Eher nicht“, wiederholte er.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Alora mit leiser Stimme, während der Marschall abwesend vor sich hinschaute. „Duk…?“
„Entschuldige.“ Sein Blick wurde wieder klarer. „Ich bin in Gedanken schon in an der Grenze mit meinen Männern. Es ist immer gefährlich, in den Kampf zu reiten. Etwas gesunde Furcht gehört dazu. Das hilft einem, am Leben zu bleiben.“
Alora lächelte ihn an. „Und du hast die Macht der Ersten Reiterdivision auf deiner Seite. Ungeschlagen im Feld.“
„So ist es.“ Er stand wieder auf und ging um den Tisch herum. Die Pfeife ließ er im gläsernen Aschenbecher liegen. „Nun muss ich dich bitten, zu gehen. Ich muss die Hundertschaften noch umplanen. Entgegen meiner Planung reiten wir nur mit einer Schweren Hundertschaft los. Da muss ich noch ein wenig vorbereiten.“
Alora stutzte kurz. Sogar sie wusste, dass die Schweren Hundertschaften, oder auch Panzerreiter genannt, die gefürchtetste Waffe des Worgunischen Militärs waren. Sie waren es, die die feindlichen Linien durchbrachen und den Weg für ihre Kameraden ebneten.
„Wieso nur eine? Wenn du tatsächlich auf Feinde triffst, brauchst du die volle Stärke der Division.“
Duk packte ihre Schulter und tätschelte sie leicht. „Danke für deine Sorge Kind. Aber selbst mit nur einer Schweren Hundertschaft werden wir mit allem fertig. Vertrau mir.“
Sie zögerte kurz, bevor sie aufstand und langsam Richtung Tür ging. „Pass auf dich auf. Versprich es mir“
„Keine Sorge, Kind. Banditen vermute ich, mehr nicht. Damit werden wir spielend fertig“, nickte Duk beruhigend. „Wir sehen uns in wenigen Monden. Und jetzt los. Luca wird dich sicher schon suchen.“
„Raben!“, zuckte sie kurz zusammen.
Er hatte Recht, sie hatte ganz die Zeit vergessen. Wenn Luca nach ihr suchen würde, würde sie schnell herausfinden, dass Alora nicht mehr im Thronsaal war. Und, dass trotz ihres ausdrücklichen Befehls.
Duk lachte. „Ich habe Recht, nicht wahr?“
„Pass auf dich auf!“, zog sie eine Grimasse und verschwand durch die Tür in den dunklen Gang.
Der eiskalte Wind begrüßte sie erneut und biss ihr in die Haut. Es war noch kälter, als vor den wenigen Fingern, die sie in Duks Stube verbracht hatte. Zitternd marschierte sie zur Tür, die sie wieder in den Hof führen würde und stieß sie auf. Sofort flogen ihr dicke Schneeflocken ins Gesicht und färbten ihre Haare weiß.
„Raben“, fluchte sie kurz und hielt sich die Hand schützend vor die Augen. Es hatte tatsächlich erneut begonnen zu schneien.
Die Männer der Reiterdivision interessierten sich nicht für den Schnee und eilten weiter über den Hof von den Schlafstuben in die Ställe und zurück. Die Pferde tänzelten nervös umher, als ihnen die Rüstungen angelegt wurden, weswegen die Männer alles versuchten, um die Tiere zu beruhigen. Alora beobachtete die Männer und Tiere kurz. Sie beunruhigte der Gedanke an Krieg und Schlachten schon, aber wie musste es da erst für jemanden sein, der tatsächlich kämpfen musste? Konnte man jemals dafür vorbereitet werden, andere Menschen zu töten? Sie konnte und wollte sich gar nicht vorstellen, wie es war in den Krieg zu ziehen. Trotz all ihrer Neugier gehörte Krieg nicht zu jenen Dingen, die sie unbedingt kennenlernen wollte. Ihr reichte es schon, dass der Krieg ihren Vater genommen hatte. Mehr sollte das gefräßige Monster mit seinem unstillbaren Hunger nicht von ihr bekommen. Niemals. Verträumter als sie sollte schaute sie den Flocken zu, wie diese vom Wind eingefangen zu Boden gingen und eine dicke weiße Schicht bildeten. Auch auf den kalten stählernen Rüstungen der Pferde und Menschen blieb der Schnee liegen und hüllte nach dem toten Stein auch die Lebenden langsam ein. Sie mochte den Schnee, wenn es nur nicht so verflucht kalt dafür sein müsste. Schnee im Sommer. Das wäre perfekt. In der warmen Sonne des Sommers einen Schneemann bauen oder sich eine Schneeballschlacht liefern, ohne danach bibbernd vorm Kaminfeuer sitzen zu müssen. Der Gedanke gefiel ihr, während sie weiter Richtung Ausgang der Kaserne lief.