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Kapitel 3 Die Namenlose

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Die verborgene Welt, Kommandostab der Primär-Matriarchin

Die aus Stein gemeißelte Figur der Frau war fast zweihundert Meter hoch und stand auf einer Felsklippe inmitten einer öden und trostlosen Landschaft. Die Frau war unbekleidet und hatte die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit ausgebreitet. Man nannte sie „die Namenlose“ und sie verkörperte Leid und Geschichte des Volkes der Negaruyen.

Vor vielen Hunderten Jahren war das friedliche raumfahrende Volk auf die insektoiden Norsun gestoßen. Die enorme Fruchtbarkeit und der strikte Glauben an die Überlegenheit führten zu einer gewaltsamen Expansion der Norsun. Dieser waren bereits mehrere Fremdvölker zum Opfer gefallen. Damals griffen sie die Negaruyen an, verwandelten deren fruchtbare Heimat in eine Wüste und vernichteten nahezu alle Kolonien. Doch die Negaruyen überlebten im Verborgenen und führten jetzt seit fast achthundert Jahren einen unbarmherzigen Kleinkrieg gegen den alten Feind. Ein Krieg der Nadelstiche, bei dem keine Seite den entscheidenden letzten Sieg erringen konnte.

Als man die Menschheit auf der galaktischen Bühne entdeckt hatte, hofften die Negaruyen, in dem humanoiden Volk einen Verbündeten zu finden. Jeder Verbündete, und sei er noch so schwach, erhöhte die Chance, die Insektoiden doch noch zu bezwingen. Ein anfängliches Missverständnis führte tatsächlich zu einem Kampf zwischen Menschen und Norsun, doch es kam nicht zu dem von den Negaruyen erhofften umfassenden Krieg.

Der Plan der Primär-Kommandantin Desara-dal-Kellon, ein menschliches Schiff zu erobern, mit ihm Welten der Norsun zu überfallen und so endlich den ersehnten Konflikt zu erzwingen, war gescheitert. Die fähige Flottenbefehlshaberin war auf die verborgene Welt befohlen worden. Nun stand sie vor der Statue der Namenlosen, konzentrierte sich auf ihr Innerstes und bereitete sich darauf vor, sich vor der Primär-Matriarchin zu verantworten.

Die verborgene Welt war ein Paradies. Fauna und Flora waren üppig. Nur ein Stück der Oberfläche, die kreisförmige Öde der Namenlosen, zeigte noch das Antlitz nach dem Angriff der Norsun. Hier wurde jeder erneute Pflanzenwuchs sorgsam beseitigt, denn dies war die Stätte der Erinnerung an die Unbarmherzigkeit des Feindes und die Stätte der Mahnung, es ihm mit der gleichen Gnadenlosigkeit zu vergelten.

Desara-dal-Kellon war in Begleitung ihrer vierköpfigen Leibgarde. Die Männer trugen seidige hellblaue Kampfanzüge und führten Klinge, Neuropeitsche, Pulsenergiepistole und Raketengewehr. Ein breiter hellroter Farbstreifen verlief von der rechten Schulter zur linken Hüfte und zeigte, dass die Leibgardisten das Recht besaßen, jederzeit tödliche Gewalt anwenden zu können, ohne hierüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Nur zwei Personen waren für sie unberührbar: Ihre Schutzbefohlene, Desara-dal-Kellon, und die Primär- Matriarchin.

Desara verzichtete auf einen Schutzpanzer. Sie trug ihre Dienstuniform. Einen hellblauen Einteiler, in den das Schuhwerk eingearbeitet war. An die breiten Manschetten konnten Handschuhe angeschlossen werden und der hohe und steife Stehkragen war für die Arretierung eines Raumhelms geeignet. Die Uniform erfüllte die Erfordernisse eines Raumanzuges und erfüllte damit die praktischen Erwägungen, die zur Lebensphilosophie der Negaruyen gehörten. Dennoch wusste man natürlich auch Dinge zu schätzen, die nicht nur zweckdienlich waren.

Entlang der Außenseiten der Ärmel verliefen drei schmale parallele hellgrüne Streifen. Sie zeigten Desaras Zugehörigkeit zur Flotte an. Am hellgrünen Stehkragen waren jeweils drei hellrote fünfzackige Sterne befestigt. Sie bewiesen den hohen Rang als Primär-Kommandantin und Oberbefehlshaberin der Flotte.

Sie und ihre Gardisten trugen alle das kreisrunde weiße Feld an der linken Brustseite, dessen Inhalt die verborgene Welt symbolisierte: Zwei schlanke Hände, die sich schützend zu einem einzelnen Stern erhoben, umgeben von einem blauen Ring, der die Gemeinschaft symbolisierte.

Desara-dal-Kellon verzichtete auf eine Kopfbedeckung. Das glatte blonde Haar trug sie kurz, so dass es wie eine Kappe eng am Kopf anlag. Da sie vor die große Matriarchin treten würde, waren Kontaktlinsen und Nasenattrappe entfernt, die der Täuschung des Feindes gegolten hatten. An Stelle einer menschlichen Nase befand sich ein flaches Muskeldreieck mit zwei senkrechten Atemschlitzen. In dem ebenmäßigen Gesicht dominierten nun wieder die vollen Lippen und die großen hellblauen Augen mit den silbernen Pupillen.

Von der fehlenden Nase einmal abgesehen, hätte Desara sogar unter den Menschen als sehr attraktiv gegolten, doch es gab Lebewesen, bei denen man instinktiv vor einer näheren Beziehung zurückschreckte. Die Primär-Kommandantin strahlte Funktionalität und Gefühlskälte aus, auch wenn beides nicht wirklich zutraf. Sie genoss durchaus die Freuden des Lebens, auch wenn ihr Trachten alleine dem Wohl der verborgenen Welt galt.

„Ehrenwerte, es ist an der Zeit“, erinnerte einer der Gardisten leise.

Eher unbewusst stampfte sie kurz mit dem linken Fuß auf und gab so das Zeichen ihrer Zustimmung. „Fliegen wir“, entschied sie. „Die Zeit der Erinnerung an das Vergangene ist vorbei. Nun muss ich mich unserer Zukunft und der Primär-Matriarchin zuwenden.“

Der linsenförmige Gleiter brachte sie innerhalb einer Stunde in die Hauptstadt und so betrat Desara-dal-Kellon, rechtzeitig und ohne die Begleitung ihrer Leibgardisten, jenen Raum der Residenz, den die Primär-Matriarchin privaten Audienzen vorbehielt.

Der Raum war gemütlich eingerichtet. Es gab eine bequeme Sitzgruppe, reichlich Pflanzen, einen transparenten Wassertank mit Zierfischen, einen munter plätschernden Brunnen, dessen Wasserstrahl in einen kleinen Teich traf sowie einen Versorgungsbereich für Getränke und Nahrung. In dem mit Holz bedeckten Boden war das Emblem der verborgenen Welt eingelegt. Die sanft gewölbte Decke wurde von einer holografischen Karte gebildet. Große Panoramascheiben erlaubten den Ausblick auf die blühende Hauptstadt.

Es wirkte luxuriös, obwohl jeder Negaruyen wusste, dass die Primär-Matriarchin keinerlei Wert auf Luxus legte. Ja, dass sie diesen nicht einmal hätte genießen können, wenn sie das gewollt hätte, denn die junge Frau, die auf einem der bequemen Polster saß, war keine wirklich lebende Person.

Die Primär-Matriarchin hatte das Aussehen einer jungen Frau, doch dies täuschte über ihr wahres Alter. Sie war sicher die Älteste noch lebende Negaruyen und hatte, als kleines Mädchen und Tochter der damaligen Primär-Matriarchin, den Angriff der Norsun miterlebt. Kurz vor dem Tod ihrer Mutter, als junge Frau, war sie selbst zur Primär-Matriarchin erhoben worden. Ihrem Willen entsprechend, war es den Wissenschaftlern gelungen, sie in eine Kältestasis zu versetzen, so dass ihr Körper kaum mehr alterte, ihr Geist davon jedoch unberührt blieb. Ein holografischer Avatar erlaubte ihr, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. So entschied sie nun, seit vielen Jahrhunderten und mit der entsprechenden Erfahrung, über die Geschicke ihres Volkes und das der verborgenen Welt.

Desara-dal-Kellon legte die Fingerspitzen der linken Hand an die linke Schulter und verneigte sich voller Respekt. „Primär-Kommandantin Desara-dal-Kellon, deinem Wunsch entsprechend, Allerhöchste.“

„Du bist willkommen.“ Der weibliche Avatar deutete in die Sitzgruppe. „Komm zu uns. Wir müssen uns beraten.“

Die Anwesenheit der zweiten Person überraschte Desara nicht. Hoch-Kommandantin Suna-dal-Sollis war ihre Stellvertreterin und als zweite im Kommando zugleich ihre schärfste Konkurrentin. Sie war von Ehrgeiz getrieben und lauerte auf ein Versagen ihrer Vorgesetzten, um deren Position einzunehmen. Desara erkannte die Fähigkeiten der Frau durchaus an, verachtete jedoch deren persönliche Beweggründe. Das Interesse der verborgenen Welt hatte über allem Anderen zu stehen.

Desara-dal-Kellon wartete, bis die Hoch-Kommandantin ihr den gebotenen Respekt erwies, bevor sie den Gruß erwiderte und sich ebenfalls setzte.

Der Avatar der Primär-Matriarchin schenkte Desara eine bunt schillernde Flüssigkeit in ein geschliffenes Kristallglas und schob es vor sie. Desara dankte und bewunderte erneut die Technologie, die es einem Hologramm ermöglichte, körperliche Handlungen auszuüben. Es war eine in der verborgenen Welt einzigartige Errungenschaft, denn sie wurde nur beim Avatar der obersten Herrin genutzt.

Desara war noch vor dem vereinbarten Zeitpunkt eingetroffen. Demnach war Suna-dal-Sollis wesentlich früher gekommen und schon eine Weile mit der Primär-Matriarchin im Gespräch. Sicherlich hatte Suna die Gelegenheit genutzt, um ihre Vorgesetzte in zweifelhaftem Licht erscheinen zu lassen. Sie musste vorsichtig sein. Die vielen Jahre brachten der Primär-Matriarchin nicht nur Erfahrungen ein, sondern leider auch gelegentliche Stimmungsschwankungen.

„Dein Plan war in vielerlei Hinsicht erfolgreich“, begann die Herrin mit sanftem Lächeln. „Durch deine Eroberung des Menschenschiffes konnten viele Dinge untersucht und viele Fragen beantwortet werden. Andere sind neu aufgeworfen und bedürfen der Klärung. Wusstest du, dass die Menschen genetisch zu 99,86 Prozent mit uns identisch sind? Das ist sehr interessant, nicht wahr?“ Die Primär-Matriarchin blickte versonnen in ihr Kristallglas. „Es wirft für mich die Frage auf, ob die Menschen nicht vielleicht von unseren Ur-Ahnen abstammen, als diese vor tausenden Jahren in den Weltraum vorstießen. Viele sind verschollen und ihr Schicksal blieb ungeklärt.“ Sie sah Desara direkt an. „Glaubst du, dass die Menschen mit uns verwandt sind? Gar unsere Schwestern und Brüder?“

Desara wusste, dass hier Vorsicht angebracht war. Die Lehre der Abstammung war umstritten. „Das kann ich nicht beurteilen, Herrin. Ich kann lediglich beurteilen, dass die Menschen gefährlich sind. Auch wenn sie erst vor Kurzem in den Raum vorgestoßen sind, so haben sie gefährliche Technologien entwickelt.“

„Du hältst sie für überlegen?“, kam die Zwischenfrage von Suna.

„Ihre Technik ist gefährlich, weil sie anders ist“, antwortete Desara, „aber sie ist uns nicht überlegen. Doch wenn wir sie entschlüsseln, kann die verborgene Welt sicher Vorteile daraus ziehen.“

Suna-dal-Sollis lehnte sich in die Polster zurück und sah ihre Vorgesetzte mit kaum verhohlenem Spott an. „Und welche Vorteile sollten dies sein?“

„Möglicherweise fehlt dir die Erfahrung, um dies zu erkennen“, erlaubte Desara sich eine kleine Spitze und beobachtete, wie das Lächeln ihrer Konkurrentin gefror. „Da wäre zum Beispiel ihr Schwingungsantrieb. Während wir nach dem Austritt aus der Nullzeit-Schwingung für eine Weile handlungsunfähig sind, trifft das bei Verwendung des menschlichen Antriebs nicht zu. Dies habe ich nun mehrfach auf der Nanjing erlebt.“ Desara bemerkte, dass auch diese Spitze saß. „Dann wären da die Waffen der Menschen. Wir und die Norsun haben uns in den vergangenen Jahrhunderten ausschließlich auf Energiewaffen konzentriert. Erst in jüngster Zeit haben wir erkannt, dass altmodische Projektilwaffen die goldenen Energieschirme der Eierlinge sehr viel leichter überwinden können.“

„Die Handfeuerwaffen der Menschen sind genetisch kodiert und konnten nicht untersucht werden“, wandte die Primär-Matriarchin bedauernd ein.

„Das gilt nicht für die Hauptwaffe ihrer Schiffe. Die sogenannte Räll-Gann kann sogar die größten Schlachtschiffe der Eierlinge vernichten.“

„Zwei dieser Waffen befinden sich auf dem von dir eroberten Schiff und dennoch weißt du noch immer nicht, wie sie funktionieren“, kam es von Suna.

Desara fand, dass es an der Zeit für eine Neuigkeit war. „Wir wissen, wie sie funktionieren. Dennoch können wir sie nicht nachbauen, da uns ein wichtiger Bestandteil der Waffe fehlt. Die Menschen benutzen ein uns bislang unbekanntes Kristall. Sie verwenden es in Antrieb und Waffen und wir wissen, dass dieses Kristall die Eigenschaft besitzt, eine Art von Nullzeit-Schwingung zu erzeugen. Geschosse, Nachrichten, Schiffe… Die Menschen können alles ohne Zeitverlust bewegen.“ Desara lächelte ihre Kontrahentin schmelzend an. „Das macht sie gefährlich, verehrte Hoch-Kommandantin.“

„Dieses Kristall“, schaltete sich die Primär-Matriarchin ein, „es ist bei uns unbekannt?“

„Wir können es nicht reproduzieren“, gestand Desara ein, „obwohl unsere Wissenden dies natürlich weiterhin versuchen werden. Wir werden jetzt allerdings mit allen Möglichkeiten nach natürlichen Vorkommen suchen. Dieser Hiromata-Kristall könnte uns erhebliche Vorteile gegenüber den Eierlingen verschaffen und von Kriegsentscheidender Bedeutung sein.“

„Wie ich es erwähnte“, meinte die oberste Herrin mit einem leisen Seufzen, „dein Plan brachte uns neues Wissen, neue Fragen und, hier muss ich unserer Hoch-Kommandantin beipflichten, auch neue Gefahren.“

Abermals erschien auf dem Gesicht von Suna-dal-Sollis ein zufriedenes Lächeln. „Dein Plan, mit dem eroberten Menschenschiff einen Krieg zwischen den Menschen und den Eierlingen zu provozieren, ist gescheitert. Nicht nur das.“ Suna beugte sich leicht vor und sah Desara triumphierend an. „Dein Vorgehen hat eine große Gefahr für die verborgene Welt heraufbeschworen.“

Die Primär-Matriarchin nickte. „Nun, da die Eierlinge und die Menschen wissen, wer für die Überfälle auf die Norsun-Welten verantwortlich ist, könnten sie sich verbünden und gemeinsam gegen uns vorgehen.“

„Eine überaus tödliche Gefahr“, rieb Suna genüsslich noch etwas Salz in die Wunde.

„Das sehe ich ebenso“, erwiderte Desara zur Verblüffung von Suna. „Dieser Gefahr müssen wir schnell und entschlossen begegnen.“

„Mit einem Großangriff auf das winzige Sternenreich der Menschen?“ Suna-dal-Sollis sah die Herrscherin an. „Du siehst, ehrenwerte Herrin, unsere Gedanken sind gleich.“

„Ein Präventivschlag.“ Die Primär-Matriarchin nippte an ihrem Glas. „Sicherlich die richtige Maßnahme. Man muss einem Raubtier begegnen, bevor es einem an die Kehle springen kann. Dennoch bedauerlich. Wir sind nie zuvor einem Volk begegnet, welches uns genetisch so ähnlich war.“

Interessiert bemerkte Desara nun einen winzigen Schwachpunkt in dem ansonsten perfekten Hologramm. Zwar führte der Avatar perfekte Schluckbewegungen aus und die Lippen wurden feucht, doch der Inhalt des Kristallglases wurde nicht weniger. Desara lehnte sich nun ebenfalls entspannt zurück. „Ein Präventivschlag, ja“, stimmte sie zu. „Jedoch nicht mit einem massierten Einsatz unserer Flotte. Eher ein begrenztes Kommandounternehmen.“

„Eine Handvoll Schiffe?“ Suna runzelte die Stirn.

„Und ein paar Elitetruppen der Garde.“ Desara lächelte auf eine Weise, die ihre Kontrahentin an ein sprungbereites Raubtier erinnerte.

„Nur ein paar Schiffe und Truppen?“ Die Primär-Matriarchin wirkte interessiert. „Was willst du damit bewirken?“

„Die Vernichtung einer ihrer wichtigsten Militärbasen und eine entscheidende Schwächung ihrer Flotte.“ Desara lächelte. „Herrin, die Menschen sind im Augenblick auf besondere Weise geschwächt. Ein großer Teil ihrer Flotte ist auf der Suche nach der Nanjing. Ihre Flottenstützpunkte sind daher nur schwach besetzt.“

Suna-dal-Sollis mochte ihre Gegnerin sein, doch sie war zugleich Patriotin genug, um ihren Widerwillen gegen Desara hintenan zu stellen. „Das klingt nach einem Plan. Du hast doch einen Plan, Primär-Kommandantin?“

„Den habe ich.“

Die Primär-Matriarchin lehnte sich abermals zurück und legte entspannt die Beine übereinander. „Du hast mein Interesse, Desara-dal-Kellon. Und nun erkläre mir, was du mir vorschlägst.“

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