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Kapitel 3 Picknick im Schnee

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Sie hatten lange geschlafen und am Morgen, nach dem Erwachen, noch eine Weile eng aneinandergekuschelt gelegen und ihre Nähe genossen. Nun trieb sie die Aussicht auf ein ergiebiges Frühstück die Treppe zum Erdgeschoss hinunter.

Phil Tucker, der Besitzer des „Union Star“, hatte eine einzigartige Kombination aus Hotel, Restaurant und Saloon geschaffen. Von der Hauptstraße mit dem breiten Stepwalk aus gelangte man in einen relativ kleinen Empfangsbereich, von dem Türen nach rechts und links und zur Treppe in die oberen Stockwerke führten. Rechts lag der Saloon, den man auch über eine eigene Tür in der Hausfront erreichen konnte, links lag das Restaurant. Hinter der Treppe, auf der Rückseite des Gebäudes, waren beide Bereiche durch Küche, Vorratslager und sonstige Betriebsräume verbunden. Die zentrale Treppe stellte die Verbindung zu den Gästezimmern und den Räumen des Personals und des Besitzers her. Das Dachgeschoss wurde wiederum als zusätzliches Lager genutzt. Zum Union Star gehörten drei dahintergelegene kleinere Gebäude, mit Remise, Stall und dem eigentlichen Lagerhaus.

Die Wände, welche Restaurant und Vorraum und diesen wiederum vom Saloon trennten, konnten mit wenigen Handgriffen entfernt werden, so dass im Erdgeschoss ein ungewöhnlich großer Saal entstand, der für Veranstaltungen und Bürgerversammlungen genutzt werden konnte. Phil Tucker hatte eine ähnliche Konstruktion einmal in Saint Louis gesehen und die Idee für sein eigenes Haus übernommen.

Der Besitzer des Union Star schien auf das Paar gewartet zu haben, denn als es die Treppe herunterkam, eilte er hinter dem Empfangstresen hervor und strahlte es förmlich an. „Es ist mir eine große Freude, Sie und Ihre werte Gemahlin in meinem Haus als Gäste willkommen heißen zu dürfen. Mein Name ist Phil Tucker und mir gehört der Union Star. Bedauerlicherweise konnte ich Sie gestern nicht persönlich begrüßen, Major, da ich unterwegs war. Ich hoffe sehr, Sie fühlen sich bei uns wohl und der Betrieb im Saloon hat Ihre Nachtruhe nicht zu sehr gestört.“

Matt und Mary-Anne hatten eher befürchtet, dass sie während der Nacht die Ruhe im Saloon beeinträchtigt hätten, da sie ihre lange entbehrte Zweisamkeit durchaus intensiv genossen hatten. Mary-Anne erwiderte das Lächeln von Tucker. „Keineswegs, Mister Tucker. Es war eine sehr angenehme Nacht.“

„Ich bin erleichtert, Lady“, gestand der Besitzer. „Wir achten hier sehr strikt darauf, dass der Saloon um dreiundzwanzig Uhr schließt und Nachtruhe herrscht. Nun, Ihr Frühstück ist bereit. Wenn Sie mir noch mitteilen, wie Sie Ihre Eier wünschen, so gebe ich das sofort an unseren Koch weiter.“

Matt und Mary-Anne nannten Tucker ihre Wünsche und gingen dann in den links gelegenen Bereich des Restaurants. Auch hier waren sie von der Einrichtung überrascht, die sich durchaus mit jener in einer Großstadt messen konnte. Tische, Stühle und das sonstige Mobiliar waren fein gearbeitet und zeigten nichts von der üblichen groben und rein funktionalen Schreinerarbeit, wie sie im Westen meist anzutreffen war. Die Polster waren mit feinem Leder bezogen, auf den Tischen lagen weiße Decken. Es gab Silberbesteck und gutes Porzellan aus London.

Die Tische waren so aufgestellt, dass es sogar dann reichlich Platz gab, wenn eine Dame einen Reifrock trug. Kerzen standen auf diesen Tischen und ein paar grüne Pflanzen schufen zusätzlich eine gemütliche Atmosphäre.

Zwei Angestellte des Union Star huschten heran und rückten Matt und Mary-Anne die Stühle zurecht, erkundigten sich nach besonderen Wünschen und schenkten Kaffee ein. Milch und Zucker wurden in Silberkännchen und Silberschalen dargeboten. Auf dem Tisch standen das übliche helle Brot, Toast, Marmelade, frische Butter und Rührei mit gebratenen Speckstreifen. Nach wenigen Augenblicken wurden die Frühstückseier gebracht und die Bediensteten zogen sich, bis auf einen jungen Mann, diskret zurück.

Matt und Mary-Anne schienen die einzigen Gäste zu sein, denn auf den anderen Tischen war nicht eingedeckt. Während sie sich das Frühstück schmecken ließen, sah Mary-Anne sich aufmerksam um. „Dieses Union Star könnte ebenso gut in Washington stehen“, raunte sie. „Matt, dieser ganze Aufwand, was die Einrichtung und die Bediensteten betrifft … Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das rechnet. Mein Conducteur erzählte mir während der Bahnfahrt, Lenningstown sei ein eher unbedeutender Haltepunkt, wenn es das Depot nicht gäbe.“

Matt nickte. „Meiner sagte etwas Ähnliches. Ich weiß nicht, ob sich hier im Sommer viele Gäste einfinden, denn außer Wild soll die Gegend nicht viel zu bieten haben und Jagen kann man auch in Gegenden, die besser erschlossen sind. Vielleicht hat Mister Tucker von einem bedeutsamen Hotel in einer der großen Städte geträumt und sich hier diesen Traum im abgelegenen Lenningstown erfüllt. Aber ich stimme dir zu … Bei dem ganzen Aufwand hier und den Kosten, die das verursacht, wird er das Hotel nicht lange halten können.“

„Und der Saloon wird das kaum ausgleichen. Auch wenn hier vierhundert Menschen leben, so wird ihr Durst die Verluste durch das Hotel nicht ausgleichen.“ Mary-Anne hob den Blick. „Da kommt Mister Tucker. Ich werde ihn fragen. Natürlich ganz dezent.“

Der Hotelbesitzer erkundigte sich nach ihrer Zufriedenheit. Matt fiel auf, dass er einen modischen Anzug trug und eine ungewöhnlich große goldene Uhr, doch er konnte keinen Ehering sehen.

„Ein wundervolles Haus“, meinte die 45-Jährige und lächelte Tucker an. „So etwas hätte ich hier draußen, im Territorium, eigentlich nicht erwartet.“

Tucker schien zu wissen, worauf sie anspielte und erwiderte ihr Lächeln. „Man muss an die Zukunft denken, Misses Dunhill. Sehen Sie, Lenningstown mag jetzt noch ein unbedeutender Ort sein, doch ich bin mir sicher, dass sich das schon bald ändern wird. Wir liegen hier direkt am Niobrarah River und die Bahnstrecke und die Postkutschenstraße führen hier durch. Das wird auch so bleiben, wenn die Besiedlung weiter fortschreitet. Lenningstown hat eine sehr günstige Position. Wir liegen genau zwischen Sioux City im Osten, der Stadt Laramie, mit dem großen Armeestützpunkt, im Westen sowie Fort Randall im Norden und Fort Grattan im Süden. Das Territorium von Nebraska wird bald ein eigenständiger Staat werden und sich entwickeln. Hier gibt es massenweise Holz, welches per Bahn transportiert oder über den Niobrarah verschifft werden kann. Dazu kommen reichhaltige Vorkommen in den nahen Bergen. Ein geologisches Team hat dort Eisenerz, Silber, Mangan und Blei gefunden. Wenn sich das Land entwickelt, dann werden diese Rohstoffe benötigt.“

„Ich verstehe.“ Matt nickte. „Schreitet die Besiedlung nach Westen weiter voran, dann liegt Lenningstown mit seinen Vorkommen den neuen Entwicklungsgebieten am nächsten.“

„Die Stadt wird wachsen.“ Tucker strahlte Zuversicht aus. „Darin sind wir uns alle einig und bereiten uns darauf vor. Es mag ein Pokerspiel sein, Major, doch wir sind uns gewiss, ein gutes Blatt in der Hand zu haben. Es gibt bereits Vorgespräche mit einer Minengesellschaft, die sich für den Abbau in unserem Gebiet interessiert.“

„Gratulation“, sagte Matt ehrlichen Herzens. „Das klingt wirklich so, als könnte aus Lenningstown eine blühende Stadt werden.“

„Das wird sie ganz gewiss.“

Mary-Anne tupfte sich den Mund mit dem bereitliegenden Tuch ab. „Wir werden hier fast vierzehn Tage Urlaub verbringen, Mister Tucker. So wundervoll Ihr Hotel auch ist, so wollen wir doch auch ein wenig von den Sehenswürdigkeiten Ihrer schönen Gegend genießen. Können Sie uns da ein paar Empfehlungen geben?“

„Wären Sie beide Jäger oder Angler, dann wäre dies ein kleines Paradies für Sie“, versicherte Tucker und überlegte kurz. „Zwar bietet auch die Winterlandschaft ihren Reiz, aber die wahre Schönheit unserer Gegend offenbart sich erst im Sommer. Nun, neben unserer schönen aufstrebenden Stadt kann ich Ihnen die Brücke im Norden empfehlen. Eine sehr interessante Konstruktion. Sie könnten einen Ausflug in die Wälder machen oder auch zu Harrigans Ranch.“ Der Hotelbesitzer seufzte. „Wie gesagt, jetzt, im Winter … Würden Sie jagen oder fischen …“

Matt begriff, dass es eigentlich keinen nachvollziehbaren Grund gab, den Urlaub ausgerechnet in diesem Nest zu verbringen. Was für Hintergedanken verfolgte General Grant, dass er Matt dies eingebrockt hatte? „Offen gesagt, Mister Tucker, ist es uns ganz recht, dass es in dieser Gegend noch so angenehm ruhig ist. Meine Frau und ich haben uns über ein Jahr nicht gesehen und wir freuen uns auf etwas Ruhe und Einsamkeit.“

Mary-Anne strich über seine Hand. „Du meinst Zweisamkeit, mein Liebster.“

Matt errötete ein wenig. „Das meinte ich, ja.“

„Sie können die Gegend ja einfach erkunden“, schlug Tucker ein wenig verlegen vor. „Pferde oder Kutsche, das Union Star kann Ihnen beides ausleihen.“ Er zwinkerte Matt zu. „Eine Kutsche wäre sicher angenehmer, da man schön beieinander sitzt, wenn ich das einmal so sagen darf. Wir haben warme Büffelfelle und Decken und die Küche kann Ihnen einen leckeren Picknickkorb zusammenstellen.“

„Ein Picknick im Schnee.“ Mary-Anne klatschte in die Hände. „Oh, Matt, das ist eine gute Idee. Das haben wir schon sehr lange nicht mehr gemacht. Und natürlich nehmen wir die Kutsche.“

„Wunderbar“, sagte Tucker sichtlich erleichtert. „Ich werde alles vorbereiten lassen. In einer halben Stunde können Sie aufbrechen. Äh, Major, Sie sind doch bewaffnet? Also, nicht dass diese Gegend besonders gefährlich wäre. Wir haben hier keinerlei Ärger mit Indianern oder Banditen. Aber es gibt Bären und Wölfe, Sie verstehen?“

„Ich habe meine Spencer dabei und bin ein recht guter Schütze.“

„Nun, dann wäre auch das geklärt, denn sonst hätte ich Ihnen einen Begleiter besorgt. Schade, dass Croyden nicht in der Stadt ist.“

„Croyden?“

„Der beste Jäger und Scout in unserer Gegend. Der würde sicher ein paar Sehenswürdigkeiten kennen“, erklärte Tucker. „Leider ist der Mann ein Einzelgänger und lässt sich kaum blicken. Lebt in seiner Hütte, irgendwo in den Bergen. Ein komischer Kauz, aber vielleicht lernen Sie ihn doch noch kennen, wenn er zu einem seiner seltenen Besuche in die Stadt kommt. Oh, bei der Gelegenheit …“ Der Hotelbesitzer blühte förmlich auf. „Heute Abend ist im Saloon Hausmusik. Einige der Familien hier treten gegeneinander an. Das sollten Sie nicht versäumen.“

„Werden wir nicht“, versicherte Matt. „Liebling, du solltest dir etwas Passendes für unseren Ausflug anziehen.“

„Mein Reitkostüm liegt schon bereit und glücklicherweise habe ich pelzgefütterte Stiefel dabei.“

„Nun, dann steht unserem Vergnügen wohl nichts mehr im Wege.“

Eine gute halbe Stunde später bestiegen beide eine kleine offene Kutsche, vor der zwei kräftige Braune eingespannt waren. Matt übernahm die Zügel und Mister Tucker und ein Helfer wirkten überrascht, als Mary-Anne sich, nachdem sie die wärmenden Felle und Decken sorgfältig drapiert hatte, den Spencer-Karabiner von Matt über den Schoß legte. Die Bewegungen, mit denen sie sich von dem einwandfreien Zustand des Karabiners überzeugte, waren ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie sich auf Schusswaffen verstand.

Matt ließ die Kutsche langsam vom Hinterhof des Union Star rollen und folgte dann der Hauptstraße nach Norden.

Über Nacht war kein neuer Schnee gefallen, der Himmel war klar und es würde ein sonniger Tag werden. In Decken und Pelze gehüllt, war die Kälte sehr gut auszuhalten. Matt bemerkte, dass Tucker die beiden Zugpferde durch zusätzliche Satteldecken und dicke Bandagen hatte schützen lassen. Letztere schützten die Fesseln der Pferde vor Verletzungen, wenn sie mit den Beinen durch die gefrorene Oberfläche der Schneedecke traten.

Matt ließ die Pferde im Schritt gehen und sie beide beobachteten das Treiben in der Siedlung, welche die Bezeichnung als Stadt noch lange nicht verdient hatte. Es war kalt und so waren nur jene unterwegs, die Besorgungen zu erledigen hatten. Einkäufe oder das Beschaffen von Feuerholz. Ein paar Kinder tollten herum und bewarfen sich mit Schneebällen.

Die Kutsche rollte an einer der Gassen vorbei, als Mary-Anne ihren Mann unvermittelt am Arm packte. „Warte, Matt. Sieh einmal dort entlang. Kannst du das Holzgerüst am Ende der kleinen Straße sehen?“

„Offensichtlich wird dort ein weiteres Haus gebaut“, bestätigte er schmunzelnd. „Ein ziemlich großes sogar. Da haben sie sich viel vorgenommen. Kein Wunder, dass sie vor dem Winter nicht damit fertig geworden sind.“

Sie lachte leise. „Ich bin gestern ein wenig spazieren gegangen und habe dabei erfahren, was dieser Bau einmal werden soll. Ein Theater.“

Matt sah sie überrascht an. „Ein Theater? Hier?“

Sie nickte und ihr Gesicht wurde unerwartet ernst. „Offen gesagt, Matt, ich fürchte, die Leute hier sind ein wenig größenwahnsinnig.“

„Zumindest sind sie von ihrer Zukunft und der ihrer Stadt überzeugt.“ Matt schüttelte ungläubig den Kopf, dann ließ er die Pferde weitergehen.

Rechts die Stadt und links der Schienenstrang, ging es langsam voran, bis sie Lenningstown verließen und Matt das Gespann in einen gemächlichen Trab fallen ließ. Mary-Anne kuschelte sich an ihn, so weit dies möglich war. „Sag einmal, Matt“, fragte sie unvermittelt, „wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, dass wir uns ausgerechnet in Lenningstown treffen?“

Er musste lachen. „Das war eigentlich nicht meine Idee, sondern die von Grant.“

„General Grant?“

„Genau der.“

Sie runzelte die Stirn. „Und wie kam unser hoch geschätzter General auf diese glorreiche Idee?“

„Das hat er mir leider nicht verraten“, gestand Matt missmutig.

„Grant ist ein schlauer Kopf“, meinte sie. „Der hat sich das nicht ohne Grund einfallen lassen. Matt, ich habe das Gefühl, wir sollten unsere Augen offen halten.“

Sie fuhren die Überlandstraße der Postkutschenlinie entlang nach Norden. Erneut weckte Mary-Anne die Aufmerksamkeit ihres Manns. „Das scheint der Friedhof zu sein.“

Rund drei Kilometer außerhalb des Orts, zwischen dem Fluss einerseits und Straße und Bahnlinie andererseits, lag der Friedhof von Lenningstown. Es gab keine Einfriedung, aber ein einsames schmiedeeisernes Tor, über dem ein Schild mit dem Schriftzug „Cemetary“ hing. Mancherorts nutzte man im Westen auch die Bezeichnung „Boot Hill“, doch die friedlichen Bewohner von Siedlungen starben nicht zwangsläufig in ihren Stiefeln.

Die Kutsche rollte auf das Areal zu und Mary-Anne richtete sich ein wenig auf. Außer dem Schild und dem Tor war nicht viel zu erkennen, mit Ausnahme einiger flacher Hügel, die sich kaum noch unter dem Schnee abzeichneten. „Matt, was weißt du über Gräber?“

Er sah sie irritiert an. „Nun, das übliche. Man gräbt ein Loch, entsprechend groß und tief, und setzt den Verstorbenen darin bei.“

„In einem hölzernen Sarg.“

„So ist es in der Regel üblich, ja.“

„Und der Sarg zerfällt nach einiger Zeit.“

„Ebenso wie die sterbliche Hülle eines Menschen.“ Er räusperte sich. „Liebes, ich gedachte bei unserem Ausflug eigentlich über andere Themen zu sprechen.“

Sie hatte einen merkwürdig nachdenklichen Blick, während sie zum Friedhof hinübersah. „Wenn der Leib und der Sarg verfallen, dann entsteht doch ein Hohlraum, in den die Erde des Grabhügels nachrutscht, nicht wahr?“

„Also, Mary-Anne …“

„Das Grab wird wieder flach und eben, nicht wahr?“

„Verdammt, Liebes, was …?“

„Matt, hier gibt es eine Menge Gräber, die noch nicht wieder eingefallen sind“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Es müssen eine Menge Leute vor relativ kurzer Zeit gestorben sein.“

Ihre Worte ließen ihn stutzen. Matt zügelte das Gespann und betrachtete nun ebenfalls nachdenklich die Begräbnisstätte. Er überschlug die Zahl der Gräber, die man noch schwach erkennen konnte. „Verdammt“, fluchte er erneut. „Du könntest recht haben.“

Sie schlug Felle und Decken zurück und schwang sich aus der Kutsche. „Hier, mein edler Beschützer“, sagte sie lächelnd und warf ihm den Spencer zu, den er instinktiv auffing. „Ich will mir das einmal genauer ansehen.“

Sie gingen langsam zum Friedhof hinüber, von einer morbiden Neugierde getrieben. Die älteren Gräber waren unter der Schneedecke nur durch Kreuze oder Grabsteine zu erkennen. Oftmals ein schlichtes Holzbrett, auf dem die Daten des Verstorbenen eingebrannt waren. Doch eine ganze Reihe von Grabstätten war, aufgrund der sanften Hügelform, noch immer gut sichtbar.

„Ich schätze, hier liegen um die hundertfünfzig oder zweihundert Leute begraben“, stellte Matt fest, nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatten. „Das sind ziemlich viele, wenn man bedenkt, dass Lenningstown erst fünf Jahre bestehen soll. Was mich irritiert ist jedoch der Umstand, dass rund die Hälfte der Leute innerhalb sehr kurzer Zeit verstorben ist.“

„Hast du die Inschriften gelesen? Die meisten sind sogar innerhalb eines Zeitraums von nur zwei Wochen gestorben. Wahrscheinlich gab es eine Brandkatastrophe oder Seuche“, vermutete sie.

„Fast hundert Menschen?“ Matt seufzte. „Eine üble Sache. Es wundert mich, dass Mister Tucker das nicht erwähnt hat.“

„Das wundert dich? Ich würde meine Gäste auch nicht mit solchen Schauergeschichten aufmuntern wollen.“ Mary-Anne ergriff seine Hand. „Jedenfalls muss sich in Lenningstown eine wahre Tragödie abgespielt haben. Schön, ich habe wirklich genug gesehen. Lass uns nach etwas Erfreulicherem Ausschau halten.“

„Meine Worte“, brummte Matt, der erleichtert war, als sie dem Friedhof den Rücken kehrten. Plötzlich strahlte Lenningstown für ihn etwas Bedrückendes aus. So sehr er sich über das Wiedersehen mit Mary-Anne freute, so sehr bedauerte er, dass es ausgerechnet an diesem Ort geschehen musste.

Matt Dunhill ließ die Pferde in Trab fallen, um den Friedhof rasch hinter ihnen zu lassen und konzentrierte sich auf den Anblick der Landschaft. Der nahe Fluss, mit dem sanften Rauschen seiner Strömung, strahlte etwas Beruhigendes aus und das galt selbst für das stählerne Band der Schiene, welches sich nach Osten und Westen erstreckte.

Rund zwei Kilometer hinter dem Friedhof erreichten sie eine Straßenkreuzung. Nur das Gleis der Eisenbahn führte weiter nach Westen, in Richtung der Stadt und Fort Laramie. Die Straße der Überlandkutsche teilte sich hier. Der nach Süden verlaufende Abzweig stellte die Verbindung mit Fort Grattan her, welches rund dreihundertfünfzig Kilometer entfernt lag. Der nach Norden gehende Weg erreichte zunächst die von Mister Tucker erwähnte Brücke über den Niobrarah River und gabelte sich dann ebenfalls. Einmal nach Westen, nach Laramie, und einmal Richtung Osten, zu der nahen Ranch der Harrigans.

„Fahren wir zur Ranch“, schlug Matt vor und gab den Pferden erneut die Zügel.

„Gleich den Höhepunkt des ganzen Urlaubs?“, fragte seine Frau mit spöttischem Lächeln.

Er lachte. „Die Ranchbewohner werden uns sicher sagen können, welche lohnenden Ausflugsziele es in der Gegend gibt.“

Auch die Brücke wirkte, wie alles in Lenningstown, ein wenig überdimensioniert. Sie war ungewöhnlich breit, so dass zwei Planwagen nebeneinander fahren konnten, und sehr massiv gebaut. Die festen Bohlen und Balken überspannten hier den Fluss und eine kleine Sandbank, die ungefähr in der Mitte lag. Im Gegensatz zu den meisten Brücken war diese nicht überdacht. Es war durchaus üblich, hölzerne Brücken mit einem Spitzdach und Seitenwänden zu versehen, so dass sie wie ein Tunnel wirkten. Dies reduzierte die Unfallgefahr, die von Regen oder Schnee und rutschigen Bohlen ausging.

Sie überquerten den Niobrarah und stießen nach einem Kilometer auf eine weitere Gabelung, von der aus es nach Laramie oder zur Ranch ging. „Kein Hinweis auf Fort Randall“, stellte Mary-Anne fest und las die schlichten Schilder. „Dabei müsste die Straße dorthin doch ebenfalls von hier abzweigen.“

„Nach Fort Randall führt keine richtige Straße, Liebes. In der Bahnstation sagte man mir, es gäbe nahe der Station eine weitere Furt, allerdings ohne Brücke. Dort hat man den Abzweig der Telegrafenlinie gebaut, der zum Fort führt. Man muss den Telegrafenmasten folgen, um nach Randall zu gelangen.“

„Wie unpraktisch“, meinte Mary-Anne. „Fort Randall ist der nächstgelegene Stützpunkt und ausgerechnet dorthin führt keine richtige Straße?“

Matt zuckte mit den Schultern und ließ die Pferde erneut antraben. Sie folgten dem rechten Weg. Ringsum gab es ausgedehnte schneebedeckte freie Flächen und größere und kleinere Baumgruppen, die gelegentlich zu kleinen Waldstücken zusammenwuchsen. Ein Stück im Norden erstreckten sich weitläufige Nadelwälder. Dahinter erhoben sich die schneebedeckten Gipfel der Bergkette.

Vor dem Gespann dehnte sich eine weite Fläche aus, die wohl Grasland war. Das Paar sah Hunderte von Rindern, die hier nach Futter suchten, und zwei Reiter, die über die Sicherheit der Herde wachten. Sie schwenkten ihre Hüte, als sie die Kutsche bemerkten, und Matt und Mary-Anne grüßten zurück. Kurz darauf sahen sie die dunklen Konturen von Gebäuden vor sich. Zwischen kleineren Baumgruppen, ein wenig vor Wind geschützt, war die Ranch errichtet worden. Während sie näher kamen, erkannten Matt und Mary-Anne immer mehr Details.

Die Anlage war in Form eines Rechtecks angelegt worden und von einem Stangenzaun umgeben. Es gab ein großes Haupthaus, in dem die Familie des Ranchers lebte, das „Bunkhouse“ der Ranchhelfer, einen Stall und zwei Schuppen, in denen auch die Wintervorräte für das Vieh lagerten. Neben dem Haupthaus erhob sich ein kleiner Wasserturm. Die beiden bewohnten Gebäude waren Blockhäuser, die man aus soliden Baumstämmen errichtet hatte. Sie waren mit Grassoden gedeckt und schützten vor jedem Wetter, während sie ihren Bewohnern zugleich Schutz vor Angreifern boten.

Man hatte die Annäherung der Kutsche anscheinend beobachtet, denn noch während das Gespann durch das offene Tor des Zauns rollte, traten mehrere Menschen vor die Gebäude. Zwei Cowboys spähten unter dem kurzen Vordach ihrer Unterkunft hervor. Auf der Veranda des Haupthauses sammelte sich offensichtlich die kleine Familie des Ranchers.

Matt zügelte das Gespann und lächelte freundlich. „Ich wünsche einen guten Tag. Sie sind sicher die Familie Harrigan, von der uns Mister Tucker erzählt hat. Ich bin Matt Dunhill und dies ist meine Frau Mary-Anne.“

Der Rancher lüftete kurz den Hut und lächelte Mary-Anne an. „Ma’am. Ich bin Carl Harrigan und mir gehört die Triple-H-Ranch. Dies ist meine Frau Lydia und der kleine Blondschopf da, das ist unsere Tochter Susan.“

Die Harrigans konnten ihre Verwandtschaft nicht leugnen, da sie alle die gleichen blonden Locken besaßen. Carl war von stämmiger Statur, während seine Frau eher zierlich wirkte. Susan mochte vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein und begann sich langsam zur Frau zu entwickeln. Sie musterte die Dunhills und schien sich noch nicht sicher zu sein, was sie von ihnen halten sollte.

Matt hatte eigentlich erwartet, dass Harrigan sie auffordern würde, ins Haus zu kommen. Es war ein Gebot der Gastfreundlichkeit und zudem mussten die Ranchbewohner doch sicherlich neugierig sein, was sich in der Welt um sie herum tat, doch der Mann machte keine Anstalten, Matt und Mary-Anne zum Aussteigen aufzufordern.

Die unerwartete Distanziertheit des Ranchers irritierte Matt. Er räusperte sich verlegen. „Wir, äh, verbringen ein paar Tage Urlaub in Lenningstown. Vielleicht können Sie uns ein paar Tipps geben, was hier in der Gegend einen Ausflug lohnt?“

Plötzlich meldete sich die junge Susan zu Wort: „Pa, der ist ein Major der Kavallerie. Sag es ihm! Sag ihm, dass sie Mörder sind!“

Carl Harrigan zuckte zusammen. „Lydia!“

Seine Frau reagierte prompt. Sie wandte sich um und zerrte die Tochter mit sich durch die Tür ins Haus.

„Du musst es ihnen sagen!“, hörten Matt und Mary-Anne noch die verzweifelt klingende Stimme des Mädchens, dann wurde die Tür geschlossen.

Harrigan räusperte sich nun ebenfalls. „Tut mir leid, hier in der Gegend gibt es nicht viel, was sich anzusehen lohnt“, sagte er, als habe er die Worte seiner Tochter nicht gehört. „Jedenfalls empfehle ich Ihnen, auf dem südlichen Ufer zu bleiben. Wir hatten in den letzten Tagen eine Menge Ärger mit Wölfen auf unserer Seite. Sie sollten darauf achten, dass Ihrer Lady nichts geschieht, Mister Dunhill. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen? Wir müssen raus und das Vieh versorgen.“

Der Hinauswurf war ebenso unerwartet wie deutlich.

Matt tippte grüßend an sein Kepi und zog das Gespann herum.

Während sie vom Hof der Ranch rollten, sah Mary-Anne hinter sich. „Matt, du weißt, ich bin nicht ängstlich, aber in dieser Gegend geht etwas vor sich und ich würde mich wohler fühlen, wenn du deine Kompanie bei dir hättest.“

Matt fühlte sich ebenfalls unbehaglich. Die schroffe Abweisung durch die Ranchbewohner stand im krassen Gegensatz zu der überschwänglichen Freundlichkeit des Hotelbesitzers. Matt war auf seinen Kavalleriepatrouillen zahlreichen Ranchern und Farmern begegnet und war sich sicher, nur sehr selten so unfreundlich abgewiesen worden zu sein.

„Fahren wir in die Stadt zurück“, meinte er. „Mir ist der Appetit auf ein Picknick vergangen.“

Sie erreichten die Brücke gleichzeitig mit einem Reiter, der aus Richtung der Stadt kam und einen weißen Schimmel ritt, der gegen den Schnee kaum auszumachen war. Der Mann trug Jacke und Hose aus wärmendem Schafsfell und hob sich ebenfalls kaum von dem hellen Hintergrund ab. Als er die Kutsche entdeckte, zügelte er sein Pferd, um auf sie zu warten.

„Marcus Delano Croyden“, stellte er sich vor und nickte Mary-Anne zu. Sein Blick traf Matts Rangabzeichen. „Ein Major ist ein seltener Anblick in unserer Gegend, Mister. Was treibt Sie denn ausgerechnet nach Lenningstown?“

„Urlaub und nach einem Jahr die günstigste Gelegenheit, meine Frau endlich einmal wiederzusehen“, antwortete Matt reserviert.

Croyden grinste. „Ihre Lady wird Sie sicher für die einsame Gegend hier entschädigen“, sagte er im Versuch, galant zu sein. „Ich empfehle Ihnen, in der Stadt zu bleiben und die Zweisamkeit zu genießen.“ Das Gesicht des hageren Manns wurde hart. „Seitdem ihr Blaubäuche am Sand Creek das Indianerlager niedergemetzelt habt, ist es auch hier nicht mehr sicher. Noch vor Wochen konnte ich mit den Roten Wild und Häute tauschen. Manchmal sind sie sogar zur Ranch von Harrigan gekommen. Doch seit dem verdammten Gemetzel lässt sich keiner mehr blicken und ich wette, die hecken etwas aus.“

„Mein Mann ist für das Massaker nicht verantwortlich“, fühlte sich Mary-Anne genötigt, ihren Matt zu verteidigen. „Unser Sohn ist ebenfalls Offizier und sagt gegen den Verantwortlichen aus. Matt mag schon gegen Indianer gekämpft haben, aber dennoch ist er ihr Freund.“

„Yeah, ganz sicher.“ In der Stimme des Jägers lag Spott. „Ist heutzutage aber kein Problem, Freunde, Brüder und Verwandte umzubringen, nicht wahr? Das zeigt euer verfluchter Krieg ja deutlich genug.“

Croyden nickte ihnen nochmals zu, bevor er sein Pferd antrieb und in Richtung der Ranch ritt.

„Mister Tucker scheint mir der Einzige zu sein, der sich über unseren Besuch in Lenningstown freut“, knurrte Matt missmutig. „Fahren wir wieder zum Union Star. Für heute reicht mir der Anblick unfreundlicher Gesichter.“

Pferdesoldaten 11 - Unter schwarzer Flagge

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