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Neues Leben?
ОглавлениеHerrliches Wetter da draußen. Die Sonne scheint so schön in die bunten Blätter der Bäume, die hinterm Floßbach an der Wallgasse stehen. Ich genieße die kleine, grüne Insel hier inmitten der Stadt. Eigentlich ist ja alles gut, doch wohl fühl ich mich nicht in meiner Haut. Unwohl, das trifft es eher. Mein Magen grummelt und es stehen mir kalte Schweißperlen auf der Stirn. Auch meine Körperhaltung irritiert mich. Da stehe ich am Fenster in diesem großen Raum, schau hinaus mit den Händen auf dem Rücken und drehe ununterbrochen meinen Ehering am Finger, diesen Ring, den ich nun wieder mit Stolz tragen darf, denn Natalie und ich konnten alle Missverständnisse abarbeiten. Somit habe ich auch wieder Kraft geschöpft für die neuen Aufgaben, die nun vor mir liegen. Gut, die Aufgaben, die hinter mir liegen, waren auch nicht schlecht. Vor allem der Pool, den ich in den letzten Wochen angelegt habe, war eine Herausforderung für sich. Drei volle Tage bin ich mit einem gemieteten Minibagger in meinem Garten herumgefahren und habe das Loch ausgehoben. Am Ende hatte ich aber mein Ziel erreicht. Ein acht Meter langes und sechs Meter breites Loch, einen Meter vierzig tief. Ein schönes Loch und mitten drinnen ein schöner, gemieteter Minibagger. Klasse Schlempert, toll gemacht. Ein weiterer Tag und zwölf Liter Kraftstoff hat es dann in Anspruch genommen, mir eine Ausfahrt zu baggern, damit ich das Teil auch wieder zum Mietpark zurückbringen konnte. Aber der Pool wurde schön. Schön kalt. Na ja, bei Fertigstellung im September reichte die Sonnenkraft eben nicht mehr aus, um das Wasser auf Temperatur zu bekommen. Im nächsten Sommer klappt es bestimmt.
Genug aus dem Fenster geschaut, weshalb ich mir nun mal die Bilder an der Wand ansehe. Große Überraschungen sind nicht dabei. Ich hab sie ja auch alle selbst aufgehängt. Da ein Poster der Gibson Flying V in Originalgröße, die Kult-Heavy-Metal-Gitarre überhaupt, dann ein gerahmtes Bild eines Lamborghini Countach, daneben Edward van Halen mit seiner gestreiften Frankenstein-Gitarre. Anschließend, wiederum gerahmt, der Lancia Stratos. Ich liebe dieses Auto genauso wie den Renault Alpine A110, dessen Abbild in blau daneben hängt.
An der Wand gegenüber steht eine Vitrine, in der meine Pokale stehen, die ich mit Gusti als Rallyebeifahrer gewonnen habe. Dazwischen immer wieder einige meiner schönsten Modellautos und dann noch meine alte Fender. Meine gute, alte, elektrische Gitarre. Wenn ich sage, dass die mir sogar schon das Leben gerettet hat, ist das keineswegs übertrieben. Doch das war eine andere Geschichte.
Zwischen den beiden Wänden steht noch der total überdimensionierte Besprechungstisch, an dem mindestens zwanzig Personen Platz finden, so mit allem Pipapo, mit Beamer, Steckdosen und USB-Anschlüssen, damit ein jeder am Tisch seine Erkenntnisse auch gleich auf die Leinwand projizieren kann. Ganz toll. Wo ich ja so ein Computergenie bin. Nämlich gar keins. Dass ich meine Mails abrufen kann, ist auch schon das höchste. Etwas googeln hab ich inzwischen auch gelernt. Also bei Wikipedia kann ich eigenständig etwas nachlesen oder auf Ebay etwas beobachten, zu bieten hab ich mich allerdings noch nie getraut.
Dann steht dort noch der Schreibtisch. Eiche rustikal würde ich sagen, mit den vielen kleinen handgeschnitzten Verzierungen, riesengroß und sicher tonnenschwer, wahrscheinlich hier im Raum angefertigt. Durch die Tür passt er jedenfalls nicht. Drei Bildschirme mit Tastaturen befinden sich darauf. Zwei, ja richtig, zwei Telefone, wo doch jeder weiß, dass ich nur einem zuhören kann. Dann das Multifunktionsgerät, das drucken, kopieren, faxen und scannen kann, alles auf einmal. Der helle Wahnsinn, wenn man es bedienen kann.
An der Wand hinter dem Schreibtisch hängt auch noch dieser gigantische Flachbildmonitor, mindestens zwei Meter in der Diagonale. Und alles, was er anzeigt, ist diese Landkarte mit den Blinkpunkten darauf, unter denen so komische Zahlenkombinationen stehen.
Ne, ne, hier bin ich komplett fehl am Platz. Ich will raus. Ich schmeiße am besten gleich alles hin. Aber was sag ich dann Natalie? Bisher sagte sie, dass sie mir in den Arsch tritt, wenn ich diese Chance nicht wahrnehme. Dass mir doch nichts Besseres passieren kann in meiner Situation.
Sie hat ja auch nicht Unrecht, glaubt sie. Ich dachte mir ja, dass es das Beste war, dass mich der Heuler suspendiert hat. Ich hatte ja nie Bock auf den scheiß Kripo-Job. Immer die Verantwortung, die Angst, Fehler zu machen. Das war nichts für mich. Ich wusste immer, dass es nicht schlimmer kommen konnte. Und nun? Nun ist es schlimmer gekommen. Der schlempertsche Super-Gau sozusagen.
Da ist doch tatsächlich in Mainz bei unserer Landesregierung jemand dahintergekommen, was der Heuler hier so treibt. Dass er in der Presse bekannt gibt, dass er zum Ermitteln untergetaucht wäre und dann die Spesenrechnung eines süßen, kleinen, aber nicht ganz billigen Hotels eingereicht hat. Hot Chocolate Massage, anstatt Observierung und so. Gut, den haben sie dann nicht suspendiert. Ne, den haben sie einfach gefeuert. Gerade so. Einfach weg. Eigentlich ein Traum für mich, da ich ihn ja noch nie leiden konnte. Nur, dass sie dann ausgerechnet mich auf seinen Posten als Dienststellenleiter gesetzt haben, das ist eher ein Alptraum. Mich einfach zu versetzen und mich auch noch vom Haupt- zum Oberkommissar zu befördern. Gut, ich habe nun auch die gleichen Bezüge, die der Heuler hatte, das tröstet mich etwas. Aber was soll ich denn hier tun? Ich war doch in Landau mit meinem Team, das nur aus Timo und Laura bestand, oft überfordert. Nun hab ich einhundertachtunddreißig Beamte, für die ich verantwortlich bin. Keine Ahnung, wie das gehen soll. Nun bekomme ich ja fast schon Ehrfurcht vor dem Heuler, immerhin hat er ja den Laden jahrelang geschmissen. Zwar eher schlecht als recht, aber immerhin hat er ihn geschmissen, womit er mir gegenüber im Vorteil ist.
Es hilft alles nichts, jetzt bin ich eben da, Dienststellenleiter der Kriminaldirektion Neustadt an der Weinstraße, Dieter Schlempert.
Und als erste Maßnahme werde ich die nähere Umgebung erkunden. Man sollte ja wissen, wo es was zum Essen gibt, wenn einen der Hunger quält. Der nächste Supermarkt und auch eine Apotheke sollten sich ebenfalls in meinem Kopf einprägen, ebenso wie der nächste Geldautomat. Alles Orte, die man kennen sollte.
So ziehe ich meine Jacke über und schreite zur Tür, die sich aber auch genau in diesem Moment öffnet und mir einen Schlag gegen die Schulter versetzt.
„Sag mal, wo willst du denn hin?“, fragt Timo, der die Tür so schwungvoll öffnete.
„Raus“, sag ich, während ich meine schmerzende Schulter reibe.
„Du kannst doch jetzt nicht raus“, bekomm ich zur Antwort, „du hast in drei Minuten Teambesprechung mit den Hundeführern.“
„Mit den wem?“, bin ich verblüfft.
„Mit den Hundeführern. So steht es im Wochenplan. Montags neun Uhr Teambesprechung mit den Hundeführern. Anschließend dann Sitzung mit dem Ausschuss für innere Abläufe und Optimierung.“
Jetzt bin ich platt. Genauso lass ich mich auf meinen Sessel am Schreibtisch fallen. Komplett geplättet. Sitzung nach Sitzung. Total unvorbereitet. Das kann ja heiter werden. Nein, das wird sicher heiter werden.
Bevor ich dazu komme mich zu bemitleiden, kommen auch schon die Hundeführer, allerdings nicht alleine, denn zu jedem Führer gehört ja auch der passende Hund. Nun sitzen also vier Herrchen, zwei Frauchen und sechs Hündchen brav an meinem Besprechungstisch und machen Männchen. Also die Hündchen halt.
So erfahre ich, dass wir hier über zwei Drogenhunde, einen Sprengstoffspürhund, einen Fährtenhund und zwei Schutzhunde verfügen.
Einer der Schutzhunde, ein Schäferhund, winselt sabbernd vor sich hin und streckt mir dabei sein Pfötchen entgegen. Anscheinend verwechselt er mich mit jemandem. Warum sonst sollte er so freudig erregt sein und so schwungvoll mit seinem Schwanz wedeln?
„Haras, still! Du siehst doch, der Herr Schlempert erkennt dich nicht mehr.“
Das stimmt ja auch, den Hund erkannte ich nicht gleich wieder, was wohl daran liegt, dass für mich ein Hund wie der andere aussieht. Gut, es gibt große und kleine Hunde, auch welche mit langem oder kurzem Haar. Die Engelsstimme seiner Hundeführerin habe ich dagegen sofort erkannt. Haras und sein weibliches Herrchen haben mir doch tatsächlich damals vor der Pizzeria in Waldrohrbach das Leben gerettet. Nun freue ich mich ebenfalls über das Wiedersehen. So teile ich mit Haras meinen Schokoriegel, was von seinen Artgenossen mit neidischen Blicken verfolgt wird.
In den nächsten Minuten erfahre ich die Namen der restlichen Hundeschar und ihre Spezialgebiete. Sehr informativ. Nun fasse ich doch etwas Mut in Angesicht der tierischen Unterstützung, die ich in meinem neuen Arbeitsbereich habe.
Kaum ist die Hundestaffel abgetreten, stellt Timo auch schon wieder frische Kaffeetassen für die nächste Sitzung bereit. Der Heuler hatte seinen Laden anscheinend minuziös durchgetaktet.
Ausschuss für innere Abläufe und Optimierung steht nun an.
Fünf Personen, die ich nicht kenne, bevölkern nun meinen Besprechungstisch. Zum einen ein asiatischer Herr mit Laptop, der sich als Kim Yang vorstellt. Zum zweiten ein schnauzbärtiger Anzugträger, der Gerhard Treiber heißt und ebenfalls mit einem Laptop bewaffnet ist. Die drei weiteren, ein Herr und zwei Damen, setzen sich, ohne ein Wort zu verlieren, auf die hinteren Plätze.
Kim und Gerhard haben ihre Rechner zwischenzeitlich mit dem Beamer vernetzt.
„Zur Optimierung der inneren Abläufe habe ich, wie von Herrn Heuler gewünscht, einen Plan ausgearbeitet“, beginnt der Asiate mit seiner Ansprache. „Bei einer Verlegung der Toiletten in die Mitte einer jeden Etage könnten wir durchschnittlich 28 Sekunden pro Toilettengang je Mitarbeiter einsparen. Das würde bei 138 Beamten und vier Toilettengängen pro Schicht bedeuten, dass wir 94,5 Arbeitsstunden monatlich einsparen würden. Was wiederum bedeutet, dass wir etwas mehr als eine Halbtagsstelle einsparen könnten.“
Hab ich nun richtig gehört? Da schlägt mir wirklich einer allen Ernstes vor, wegen einer halben Stelle, das komplette Gebäude umzubauen. Nun bin ich wirklich gespannt, was der Gerhard Treiber zu sagen hat.
„Werter Kollege, sehr geehrter Vorgesetzter und alle anderen im Raum befindlichen Personen“, leitet er seinen Beitrag ein, „meinen Erkenntnissen zufolge muss ich Herrn Yang entschieden widersprechen. Einer finnischen Studie folgend, sollten wir die Toiletten im Haus schließen und auf die gegenüberliegende Seite vom Hof verlagern. Ein nicht unerheblicher Teil der Kommunikation unter Kollegen findet auf den Fluren statt. Somit sollten wir die Wege zu den Toiletten so gestalten, dass möglichst viel Raum für Gespräche entsteht. Zudem würde der Weg über den Hof zu einer erhöhten Sauerstoffzufuhr führen, was zusätzlich die Effizienz erhöht.“
Okay. Meiner Meinung nach würden wir die meisten Kosten einsparen, wenn wir die zwei Toilettenheinis wegrationalisieren würden.
„Den letzten asiatischen Forschungen zufolge ist meine Lösung die einzig richtige“, setzt sich nun Yang zur Wehr, „zielorientiertes Arbeiten ist nur am eigenen Arbeitsplatz, vernetzt in die modernen Medien, möglich.“
„Alles Firlefanz“, wird der Treiber nun etwas lauter, „der Faktor Mensch ist entscheidend. Wir müssen die Kommunikation fördern und wieder eine Verbindung zur Natur herstellen.“
„Natur, Natur. Wir können uns nicht davor verschließen, dass das natürliche Umfeld der Menschheit nun virtuell stattfindet. Vorbei mit Konversation und frischer Luft.“
So sehr mich das Schauspiel auch fasziniert, nun schwillt mir doch der Kamm. Die beiden bekriegen sich wie Politiker im Wahlkampf und dabei langweilen sich die stillen Beisitzer. Zudem sitzen Timo und ich auch noch dabei. Das sind entschieden zu viele Ausgaben für den Steuerzahler.
„Schluss mit der Seifenoper!“, schreie ich deshalb mal in den Raum. „Die Beisitzer gehen bitte zurück an Ihren Arbeitsplatz und die Herren Yang und Treiber erhalten von mir den Auftrag, für die nächsten Monate einen sozial verträglichen Dienstplan zu erstellen.“
„Und die Toilettenfrage?“, sagen die beiden Herren wie aus einem Mund.
„Gestorben!“, sag ich. „Und nun alle raus.“ Worauf auch alle gehen. „Du nicht.“ Nun bleibt Timo stehen. Wohl wissend, dass er der einzige ist, den ich mit du anrede.
„Ja, Chef“, sagt er eingeschüchtert dienstlich. Okay, er hat mich schon deprimiert, ängstlich oder freundschaftlich erlebt, aber so aufbrausend anscheinend noch nicht.
„Setz dich“, schlage ich nun ruhigere Töne an. „Gehe bitte meinen ganzen Wochenplan durch und sage sämtliche Meetings ab. Anschließend schreibe an alle Abteilungen, dass ich im Laufe der Woche ohne festen Zeitplan zu Besuch kommen werde, um mir vor Ort ein Bild von jedem Arbeitsplatz zu machen.“
Als ich geendet habe, geht Timo wieder Richtung Tür.
„Kannst du mir sagen, wo du schon wieder hin willst?“, frag ich ihn deshalb.
„Na ins Großraumbüro, die Mail schreiben.“
„Nix Großraumbüro“, sag ich, so wie man mit einem Kind redet, „du bleibst hier bei mir. So wie in Landau.“
„Dieter, das hier ist nicht Landau, das hier ist Neustadt! Und du bist nicht mehr Dieter, du bist jetzt Oberkommissar und Herr Schlempert.“
Jetzt redet der mit mir, als wäre ich bescheuert.
„Timo, rede nicht daher, als wäre ich bescheuert. Du holst auf der Stelle deinen Kram und schlägst hier dein Lager auf. Basta!“
„Oberkommissar Schlempert“, spricht Timo jetzt auch noch geschwollen, „ich werde mich Ihrer Autorität beugen.“
So zieht er von dannen und ich stehe wieder alleine in dem riesigen Büro. Zu allem Überfluss beginnt nun auch noch der Bildschirm über meinem Schreibtisch rot zu blinken und wie eine Sirene zu heulen. Wie gelähmt stehe ich davor und hab keine Idee, was das nun wieder soll. Glücklicherweise kommt Timo schon hereingestürmt.
„Los Dieter, ein Leichenfund, da musst du reagieren.“
Ach so ist das. Da reagiere ich doch gleich einmal und schnappe meine Jacke, den Autoschlüssel und mach mich auf den Weg.
„Dieter“, sagt Timo auffallend provokant.
„Was? Ich habe keine Lust auf Spielchen“, blaffe ich ihn an.
„Nicht auf und davon, Mensch. Delegieren! Du verdienst dein Geld nun mit dem Zeigefinger.“
„So ein Quatsch“, sag ich, weil das doch ein Quatsch ist, „wir fahren jetzt dorthin.“
„Wenn du das willst, kannst du das“, wird mein Kollege nun versöhnlicher, „nachdem du die Spurensicherung, den Pathologen und die Abteilung für Tötungsdelikte alarmiert hast.“
Und so sitzen wir drei Telefonate später tatsächlich im Auto und fahren durchs Elmsteiner Tal in Richtung Johanniskreuz. Eine Traumstrecke für mich und meinen Mini. Zumindest wenn man sich auf das Fahren konzentrieren kann. Ich konzentriere mich auf das Navigationssystem, das wir dieses Mal nicht mit einer Adresse gefüttert haben. Jede Menge Zahlen haben wir eingetippt. Zahlen für Längen- und Breitengrade, so ist das eben, wenn sich ein Toter dazu entschließt, irgendwo in der Botanik zu liegen und nicht in einem Gebäude mit Straße und Hausnummer.
Apropos Toter, nun fällt mir ein, dass ich gerade zum ersten Mal zu einem Tatort unterwegs bin, an dem noch nicht alle grausamen Überreste schon weggeräumt wurden. Und schlagartig wird mir schlecht. Als würde die kochende Magensäure, die mir aufstößt, nicht reichen, kommt mir nun auch noch der Geschmack von Kräuterbonbons in den Mund. Eine Macke, die ich einem Pathologen namens Hansi zu verdanken habe.
Nun holpern wir einen Feldweg entlang, was meinem tiefer gelegten Dienstwagen gar nicht gut tut. Laut Navi müssen wir drei, also Timo, ich und der Mini uns diese Folter noch mehrere Kilometer gefallen lassen.
Nach schier endlos erscheinenden Minuten steht ein aufgeregter, zwergenähnlicher Mann auf dem Weg und winkt hektisch.
„Sie kinne do nidd dorsch fahre“, sagt er in einem Dialekt, den ich nicht recht zuordnen kann, „do isch ei Verbreche bassiert, die Boolente missd ah ball do soi.“
Nun hab ich es verstanden, der ist kein Pfälzer, aber versucht die Sprache zu sprechen.
„Hören Sie“, sag ich deshalb, „zum Ersten können Sie gerne mit uns reden und brauchen nicht mit Gewalt zu babbele. Zum Zweiten sind wir die Polende. Darf ich vorstellen: Oberkommissar Schlempert und das ist mein Kollege Gebauer.“
„Dann kommen Se mit“, spricht er nun deutlich verständlicher, „dorde driwwe auf demm Trekkingblatz licht se, die Leich odder besser gsachd, was ebe ibbrig iss.“
Also ich fasse mal zusammen: Da steht nun mir gegenüber ein circa eins fünfundfünfzig großer Mann in grüner Waldkleidung mit blondem Haar und gleichfarbigem Rauschebart, einem Fahrradhelm auf dem Kopf und einer Wäscheklammer am rechten Hosenbein. Dazu versucht er krampfhaft pfälzisch zu reden, obwohl er es nicht kann. Dazu riecht er nach teurem Parfüm und behauptet, eine Leiche entdeckt zu haben. Das kann ja heiter werden.
Wir folgen ihm querfeldein in den Wald zum Trekkingplatz.
Diese Plätze wurden vor ein paar Jahren überall im Pfälzer Wald eingerichtet, um wildes Campieren zu vermeiden. In der Regel befinden sie sich an einem Bachlauf oder einer Quelle, haben eine eingeebnete Fläche, um Zelte aufzubauen, Bäume, um Hängematten aufzuhängen und eine Grube, um seine Notdurft zu entsorgen, also quasi ein Apartment für Rumpelstilzchen. So passt nun auch unser Leichenfinder ins Bild.
Was wir aber vorfinden, ähnelt nicht im Geringsten einem Trekkingplatz, eher einem Kriegsschauplatz oder der Mondoberfläche. Also, um es kurz zu machen, dort wo der Platz sein sollte, befindet sich nur noch ein Krater. Gut zwei Meter tief und fünf bis sechs Meter im Durchmesser. Etwa so zehn Meter weiter liegen am Fuße eines Baumes tatsächlich die Überreste eines menschlichen Körpers.
Schön ist der Anblick wirklich nicht, weshalb ich mir gleich mal über die Füße kotze. Bevor ich nun den Tatort noch mehr kontaminiere, geh ich mal schnell zum Auto, nehme eine Rolle von dem Absperrband, auf dem steht »Polizeiliches Sperrgebiet Zutritt verboten« und beginne damit, den Wald weiträumig abzusperren. Dabei nehme ich zur Kenntnis, dass nun nach und nach die Kollegen aus den alarmierten Abteilungen eintreffen.
Nachdem ich meine Runde mit dem Absperrband abgeschlossen habe, sehe ich meinen Freund, den Spurensicherer Martin Schneider, mit seinem Köfferchen den Weg entlang laufen.
„So eine Sauerei“, kommt er mir schimpfend entgegen, was mich auch gleich betroffen macht. Sicher ist das eine Anspielung auf meinen Mageninhalt, der so nahe bei der Leiche liegt.
„Können die ihre Opfer nicht einfach erstechen und das Messer stecken lassen?“, motzt er weiter. „Aber nein, da muss man Sprengstoff unter einer Feuerstelle vergraben, damit überall Innereien liegen. Zwei meiner Männer haben schon den Tatort vollgekotzt.“
Das beruhigt mich nun ungemein. Zum einen passiert so etwas auch Spurensicherern und zum anderen fällt somit mein Flecken nicht mehr auf und nun erfährt niemand von meinem Malheur.
„Das heißt, mit deinem Brechfleck sind es nun drei, die mir den Tatort kontaminieren.“
„Scheiße, wer hat gepetzt?“, sag ich nun, als ich endlich mal zu Wort komme.
„Da braucht niemand zu petzen, sowas erkenne ich schon an dem ganzen vegetarischen Kram. Das Zeug isst doch nur du“, hat er mich ertappt. Endlich streckt er mir seine Hand entgegen: „Grüße dich mein Freund, ich hoff, dass es dir außer deinen Magenbeschwerden gut geht. Nun musst du mich leider entschuldigen, ich muss wieder dort rüber bevor mir noch einer hinkotzt.“
Gut, dort rüber brauch ich nun wirklich nicht mehr und schau mich deshalb mal um. Es hat sich eine stattliche Anzahl Einsatzfahrzeuge eingefunden. Aus einem eben angekommenen Mercedes steigt gerade ein mir bekannter Altpunker aus. Irokesenschnitt, Nasenring, zwölf Piercings in der linken Augenbraue und einen Doktortitel, das ist der Pathologe Hansi vom Städtischen Klinikum in Karlsruhe.
Ich nicke ihm freundlich zu, was er mit einem: „Na Dieter, magst du ein Bonbon“, beantwortet.
„Du mich auch“, rufe ich zurück und strafe ihn mit Nichtbeachtung.
Was mir nun aber noch auffällt, ist, dass unser Leichenfinder gerade mit zwei Beamten in einen Kleinbus steigt. Na, dessen Aussage will ich mir doch auf keinen Fall entgehen lassen.
Am kleinen Tischchen hinten im Bus sitzen die beiden Kollegen, der eine groß, schlank, mit kurzem Borstenhaarschnitt und die andere eher klein, athletisch, mit langem schwarzem Haar und einem leicht exotischen Aussehen. Gegenüber sitzt der langbärtige Mann, bei dem ich weder Herkunft noch Alter einzuschätzen vermag.
Um die Beamten nicht zu stören, setze ich mich auf den Beifahrersitz, um durch das Abgrenzungsgitter das Geschehen zu beobachten.
Der Polizist kommentiert meine Aktion mit einem: „He he he!“
Die Polizistin ist da mit einem: „Ach Gottle, der Chef“, doch deutlich respektvoller.
„Ah Chef, sorry“, sagt nun der Beamte entschuldigend.
„Lasst euch nicht stören“, sag ich auffordernd, damit nun endlich das Aufnehmen der Aussage beginnen kann.
„Name und Adresse bitte“, sagt meine Kollegin, die bereit ist, alles was gesagt wird, auch in den Laptop vor ihr einzutippen.
„Korbinian. Korbinian Jansen“, beginnt der Bartträger zu sprechen, während die gezwirbelten Enden seines Schnauzbartes lustig wackeln, „isch wohn im Karlstal in dere alde Kutschermühle, eigendlisch geherd des zu Trippstadt. Also wohn isch in Trippstadt in de Kutschermühl äns.“
„Kutschermühle eins“, wiederholt die junge Dame mit dem prächtigen Haar, „Beruf?“
„Jo, isch bin hald Schdroßeplaner.“
„Sie sind was?“
„Schdroßeplaner bin isch. Straßenbauingenieur in gehobener Beamtenposition, nennd sich des richdisch.“
„Herr Jansen“, schaltet sich nun der Polizist ein, „können Sie mir bitte erklären, weshalb Sie krampfhaft versuchen, pfälzisch zu reden, obwohl Sie sich sichtlich schwertun damit.“
„Weil isch do dehäm bin, des isch mei geliebte Wahlheimat. Wissens wie än Transvestit im falsche Kerper gebore is, so war isch am falsche Ort gebore. Un jetzt, wo isch endlisch am rechte Fleck bin, loss isch mers ah nid nemme, so zu babbele, wie sichs do geherd.“
Somit ist dieses Rätsel schon einmal gelöst.
„Dann erzählen Sie mal, wie es zu Ihrer grausigen Entdeckung kam, Herr Jansen“, übernimmt nun der Mann mit dem Stoppelhaar die Befragung.
„Ja, des war so, wie jeden Freidach noch de Aweid hab isch mein Drahtesel gschnabbd und bin do rauf geradelt. Jeden Freidach, wos nur geht, bin isch üwwer Nacht hier und genies mei Pfälzer Wald. Jeden Freidach sitz isch do am Feuer und lausch de Nadur. Un so wars ach heud gepland, also bin isch noch de Aweid do herruf geradelt un dann heb isch des do gfunne.“
„Ist Ihnen denn noch etwas aufgefallen?“
„Ah jezd, wo Ses sachen Herr Bolezischd, ajo, äh verdel Schdunn bevor isch do war had es gerumst im Wald. Des werd die Exblosion gewehse sei.“
„Das sollte es gewesen sein“, sagt mein Kollege nun abschließend.
Für ihn vielleicht, allerdings für mich nicht, weshalb ich mich nun nach hinten begebe.
„Herr Jansen“, übernehme ich nun das Ruder, „wenn Sie hier jeden Freitag verbringen, sind Sie denn da immer alleine hier?“
„Ei nänä, do sinn ach öffder annere do, des isch jo än öffendlicher Platz, nid wahr?“
„Okay, und wer übernachtet hier dann so mit Ihnen?“
„Och des is ganz verschiede. Mo Radfahrer, so wie isch, mo Reider mid ihre Pfärdscher, annermol sinns Wannersleid oder Druidekoleche von meim Keltenkult.“
„Keltenkult?“, entfährt es mir verwundert.
„Jo, ehwe Leid wie isch. Mehr mache nix Schlimmes un beschäffdigen uns hald mit alde Brauchtümer und vehl Kräuterkunde.“
Da kann man doch alt werden wie eine Kuh und man lernt doch immer noch dazu. Druiden? Also sitzt vor mir ein Miraculix der Neuzeit?
Egal, ich habe Wichtigeres zu fragen: „Haben Sie eine Ahnung, wer das Opfer sein könnte?“
„Na, Sie hänn sischer ach gsehe, dass mar vunn dere Leich nimmi viel erkenne kann, isch wäss nid wer des gewässt sei kinnd.“
Da hat er schon recht, der Herr Jansen, auch ich konnte nicht einmal sehen, ob dort ein Männlein oder ein Weiblein liegt.
„Haben Sie eine Idee, wie wir herausfinden können, wer dort liegt?“, frage ich deshalb.
„www.trekking-pfalz.de“, sagt der Kautz nun wie aus der Pistole geschossen, „dort sollte sich jeder Nutzer von so einem Platz anmelden. Dort haben Sie sehr gute Chancen zu erfahren, wer für heute gebucht hatte.“
Nachdem ich mich artig für diese Informationen bedankt habe, druckt die junge Kollegin in Uniform das Protokoll der Befragung aus, das Korbinian Jansen auch gleich unterschreibt.
Nachdem er den Kleinbus verlassen hat, verteile ich die Aufgaben. „Herr Kollege“, spreche ich zuerst den Beamten an, „gehen Sie doch bitte noch einmal zum Tatort und fragen Sie nach, ob bei dem Leichnam irgendwelche Papiere gefunden wurden, die auf seine Identität hinweisen. Sie“, sag ich, während ich meinen Blick zu der Kollegin wende, „Sie möchte ich bitten, über den Webseitenbetreiber herauszufinden, wer alles eine Übernachtung gebucht hatte, Frau, äh Frau ähm Frau Kollegin.“
„Kalt“, kommt knapp von ihr zurück, was ich als Frechheit empfinde.
„Hören Sie, junge Frau“, gebe ich deshalb patzig zurück, „Sie können es gerne mir überlassen, ob eine Spur heiß oder kalt ist. Ich erwarte, dass Sie tun, was ich sage“, worauf sie schlagartig sämtliche Gesichtsfarbe verliert, um dann feuerrot anzulaufen.
Auf jeden Fall hat es ihr nun die Sprache verschlagen und mir ein deutliches Plus an Autorität gebracht.
„Entschuldigen Sie bitte, Chef“, schaltet sich nun wieder der Kollege ein. Während ich noch in Erwägung ziehe, ihn nun auch in seine Schranken zu verweisen, spricht er vorsichtig weiter: „Hier handelt es sich um ein bedauerliches Missverständnis. Mein Name ist Helmut Glaser und das hier ist Yasmin Kalt. Sie verstehen? Sie wollte nicht Ihre Arbeit kritisieren oder kommentieren, Sie wollte sich nur vorstellen.“
Nun nickt die junge Frau heftig und mit Bedauern sehe ich, dass ihr Tränen über das Gesicht laufen.
„Bitte entschuldigen Sie, Frau Kalt. Das tut mir nun unheimlich leid“, sag ich, weil mir das unheimlich leid tut.
„Nichts für ungut Chef“, erwidert sie, „ist ja auch ein saudummer Name.“
Nun erkenne ich in ihren tränennassen Augen, wie blutjung sie eigentlich ist. Vielleicht fünfundzwanzig, sicher frisch von der Polizeischule. Ich reiche ihr ein Papiertaschentuch und verlasse gemeinsam mit Helmut Glaser das Fahrzeug.
Nach diesem peinlichen Zwischenfall steht mir der Sinn nach frischer Luft.
Glaser stapft durch den Wald, um die von mir angeforderten Informationen abzufragen und im Bus höre ich Yasmin Kalt emsig auf der Tastatur hämmern. Ich lehne mich derzeit an meinen Mini und atme tief durch.
Nach wenigen Minuten kommt Helmut Glaser gemeinsam mit Timo wieder zurück. Aus ihren Gesten glaub ich zu lesen, dass sich die beiden Männer schon angefreundet haben. Solche Dinge fallen sicher leichter, wenn man nicht gerade Dienststellenleiter ist.
„Ja, Dieter“, beginnt Timo zu berichten, „männlich, circa Mitte fünfzig, mehr lässt sich leider noch nicht sagen. Eine Identifizierung wird nur über einen Genabgleich möglich sein.“
„Was weiß man über den Tathergang?“, hake ich nach.
„Alles deutet darauf hin, dass unter der Feuerstelle eine größere Menge auf Schwarzpulver basierenden Sprengstoffs versteckt war, der durch das Entzünden des Lagerfeuers zur Detonation gebracht wurde.“
„Vielleicht ein Blindgänger aus Kriegszeiten, Timo?“
„Nein, unmöglich. Es war ein oder wahrscheinlich mehrere in Papier gepackte Sprengkörper. Also quasi sehr große Silvesterböller.“
Nun wird die Schiebetür am Einsatzkleinbus geöffnet und Frau Kalt steigt aus.
„Ich hab da was“, sagt sie und ich freue mich darüber, dass ihre Augen wieder strahlen, „für heute waren nur der Korbinian Jansen und ein Herr Peter Brechtel angemeldet.“
Da sich Jansen bekanntlich bester Gesundheit erfreut, sollten wir unsere Suche nun auf den Brechtel konzentrieren. „Gibt es eine Adresse?“, frage ich deshalb.
„Leider nur Clausen als Wohnort“, informiert mich die Kollegin.
„Sollen wir da gleich mal hinfahren?“, will Helmut Glaser wissen.
„Das übernehme ich“, entgegne ich ihm, „komm Timo, fahren wir.“
„Wie bitte? Sie?“, sagen die Kollegen Kalt und Glaser wie aus einem Mund.
„Klar ich, wieso?“, äußere ich ebenso erstaunt wie die beiden Beamten.
„Ich meine ja nur“, beginnt nun die junge Frau zu stottern, „Sie sind doch der Chef und diese Aufgabe, ich will ja nur sagen, dass der Heuler nie am Tatort war oder so. Dann noch eine unangenehme Botschaft überbringen. Dafür haben Sie meinen vollen Respekt.“
„Eins will ich dann doch mal klarstellen“, stelle ich nun klar, „ich bin nicht der Heuler und werde auch nicht anstreben, auch nur im Geringsten so zu sein, wie der Ex-Kollege Rüdiger Heuler.“
Nun blasen die beiden Uniformierten deutlich hörbar Atemluft durch die Zähne. Ich glaube dabei auch so etwas wie »Gott sei Dank« zu hören.
„Ähm Dieter, macht es dir etwas aus, alleine nach Clausen zu fahren?“, meldet sich nun Timo zu Wort. „Ich würde gerne noch hierbleiben und die Arbeit der Spurensicherung verfolgen.“
Etwas, das ich auf gar keinen Fall verfolgen möchte. Dass es mein junger Kollege will, finde ich jedoch lobenswert, weshalb ich ihm zustimmend zunicke.
„Ich würde gerne mit Ihnen fahren“, wirft nun Yasmin Kalt in die Runde, „eine bessere Gelegenheit, direkt vom Chef zu lernen, werde ich kaum bekommen.“
Diese Haltung der jungen Frau finde ich auch äußerst lobenswert, weshalb ich auch ihr nun zustimmend zunicke.
Nach schier unendlichen Minuten auf den holprigen Waldwegen biegen wir endlich auf die kurvige Landstraße ein. Eine Herausforderung, der ich nicht widerstehen kann. Eine Straße, bei der sich Kurve an Kurve und Kuppe an Kuppe reiht, dann ein junges attraktives Mädchen auf dem Beifahrersitz, da kommen pubertäre Gefühle auf. Nun heißt es: Feuer frei. Die dreihundertachtzig PS reißen an dem Mini, als würde uns eine Rakete antreiben. Wie ein Teenager freue ich mich über das kartähnliche Fahrverhalten des Minis, der nun beginnt, quer in jede Kurve hineinzurutschen. Die Kuppe vor uns beschließe ich ungebremst zu nehmen, was mich mit einem ordentlichen Sprung durch die Luft belohnt. So macht das Arbeiten Spaß.
Was sich aber auf keinen Fall spaßig anhört, ist die Stimme vom Beifahrersitz, die ganz plötzlich: „Anhalten, sofort anhalten“, schreit und das in einer Lautstärke, die durch Mark und Bein geht.
Wie befohlen werfe ich unvermittelt den Anker, was bedeutet, dass ich eine klassische Vollbremsung mache. Da ich, wie immer wenn ich flott unterwegs bin, sämtliche elektronischen Helfer abgeschaltet hab, steht nun der Mini am Ende von einer tiefschwarzen Bremsspur in einer übel riechenden Qualmwolke. In dieser ist die junge Frau verschwunden.
Nach einer kurzen Suche finde ich sie kreidebleich an einen Baum gelehnt. Hinter meinem Mini hält gerade ein Fahrzeug, dessen Beifahrer mit einem Feuerlöscher direkt mein komplettes Auto einsaut. In so einem Moment habe ich schon das Gefühl, dass mir alles über den Kopf wächst.
Was nun hilft, ist eins nach dem anderen abzuarbeiten und so gehe ich zuerst mal auf den freundlichen Helfer zu, der gerade seinen leer geblasenen Feuerlöscher in den Straßengraben wirft.
„Vielen herzlichen Dank für Ihre unnötige Hilfe“, sag ich mit einer gehörigen Portion Sarkasmus.
„Das habe ich doch gerne gemacht“, gibt er zurück und verschwindet beleidigt im Auto, das daraufhin mit quietschenden Reifen wieder davon fährt.
Als nächstes fahre ich mal den Mini zur Seite, bevor ihn noch jemand aus Versehen löscht.
Nun kann ich endlich zu meiner Kollegin zurück, die inzwischen wieder etwas Farbe ins Gesicht bekommen hat.
„Entschuldigen Sie, Chef, aber das ist alles noch so neu für mich. Ich weiß gar nicht, wie ich mich verhalten soll, dann diese Fahrweise, die unser Sicherheitstraining bei weitem übertrifft“, redet sie etwas wirr, „und dann noch andauernd das Frau Kalt, so hat mich noch nie jemand genannt, verstehen Sie? Ich bin einfach nur die Yasi, mehr möchte ich gar nicht sein.“
Oh du heiliger Bimbam, nun heißt es auch noch den Psychologen zu spielen. Okay, auch eine schöne Übung, meiner neuen Rolle als Chef gerecht zu werden.
„Hören Sie“, sag ich deshalb, „es tut mir alles leid. Das mit dem Missverständnis mit Ihrem Namen und auch meine rücksichtslose Fahrweise. Wissen Sie, ich bin mir auch noch sehr unsicher. Vor kurzem war ich noch Bestandteil eines Drei-Mann-Teams und nun bin ich Chef von einhundertachtunddreißig Beamten. Wollen wir beide einen Deal machen?“
„Einen Deal?“, fragt sie nun ganz verunsichert und schaut mich mit ihren dunkelbraunen Mandelaugen an.
„Ganz recht“, sag ich, „einen Deal. Sie helfen mir dabei, ein guter Chef zu werden und ich nenne Sie dafür Yasi. Wäre das zu machen?“
Nun werden die Augen wieder feucht. „Wirklich Chef? Das wäre großartig.“
„Wirklich Yasi und wenn Sie wollen, sagen Sie doch einfach Dieter zu mir.“ Upps, kaum ausgesprochen wird mir klar, dass ich nun weit über das Ziel hinausgeschossen bin. Der Dieter war ich in Landau, nun bin ich Oberkommissar.
„Aber nein, mein Chef, das würde ich mich doch nie trauen“, zieht mir das sympathische Mädchen den Kopf wieder aus der Schlinge, in die ich ihn selbst hineingelegt habe.
Nach einer weitaus gemäßigteren Fahrt erreichen wir Clausen, das deutlich größer zu sein scheint, als ich es erwartet hatte. Trotzdem versuche ich es mit dem erstbesten Passanten, den ich auf der Straße sehe.
„Entschuldigen Sie“, spreche ich ihn durch das herabgelassene Seitenfenster an, „können Sie mir sagen, wo hier in Clausen ein Peter Brechtel wohnt?“
„Der Brechtel Peter? Das kann Ihnen jeder Clausener sagen, wo der wohnt. Da fahren Sie dort den Kreuzberg hoch“, und zeigt dabei auf einen Berg in nordöstlicher Richtung, „bis es nicht mehr weiter geht. Wenn Sie unsicher sind, können Sie nach Gehör fahren, indem Sie dem Hühnergegacker, dem Schweinegrunzen und dem Ziegengemecker folgen oder Sie fahren einfach der Nase nach. Es ist das Haus mit dem Misthaufen vor der Eingangstür.“
So fahre ich dem Berg in nordöstlicher Richtung entgegen, bis ich vor dem kleinen Häuschen, mit dem Misthaufen vorne dran, den Mini abstelle. Eine Frau, circa Mitte fünfzig, ist gerade damit beschäftigt, den Hühnern Körner in den Hof zu streuen und dabei »putt putt putt« zu rufen. Aus einem Kübel bei der Eingangstreppe fressen gerade zwei Hausschweine zusammen mit einigen Ziegen. So oder so ähnlich hat es zu meiner Kindheit noch an vielen Häusern ausgesehen. Leider hat es zu der Zeit auch vor vielen Häusern so gerochen. Vor allem Schweinemist hat eine ganz besondere Note.
„Guten Tag“, spreche ich die Dame an, obwohl es eigentlich schon Abend ist, „können Sie mir sagen, ob das hier das Haus von Peter Brechtel ist und wenn ja, ob er denn auch zu sprechen wäre?“
„Wer will das wissen?“, fragt die Frau unvermittelt.
„Entschuldigen Sie bitte“, entschuldige ich mich, „mein Name ist Dieter Schlempert und das ist meine Kollegin Yasmin Kalt. Wir kommen vom Kommissariat in Neustadt an der Weinstraße.“
„Und was will der Dieter Schlempert mit seiner Kollegin Yasmin Kalt vom Kommissariat in Neustadt an der Weinstraße vom Peter Brechtel?“
„Liebe, gute Frau“, probiere ich es noch einmal mit Engelszungen, „würden Sie mir bitte sagen, in welchem Verhältnis Sie zu Peter Brechtel stehen? Von dieser Information ist es abhängig, wie viel meines Wissens ich mit Ihnen teilen kann.“ Oh Mann, gleich hab ich einen Knoten in der Zunge von der geschwollenen Ausdrucksweise.
„Verhältnis ist gut“, sagt sie freundlich lächelnd, „mein Verhältnis zu Peter verhält sich folgendermaßen: Ich bin die Mutter seiner sieben Kinder und seit über dreißig Jahren sein angetrautes Weib.“
Warum nicht gleich so? „Dann tut es mir aufrichtig leid Frau Brechtel, ich fürchte, dass wir schlechte Nachrichten für Sie haben“, versuche ich mich so einfühlsam wie nur möglich auszudrücken. „Wir haben Grund zur Annahme, dass Ihr Mann einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.“
Jetzt fängt die Frau auch noch an zu lachen und gibt dabei den Blick auf ihr tadelloses Gebiss frei.
„Mein Peter?“, lacht sie, „einem Gewaltverbrechen? Das glauben Sie doch selbst nicht beim Kommissariat in Neustadt an der Weinstraße. Mein Peter ist zäher als Juchtenleder. In unserer gesamten Ehe hatte er nicht einmal einen Schnupfen. Von diesem Dach da“, sie zeigt dabei zum Giebel des Wohnhauses, „ist er schon zwei Mal gefallen, ohne auch nur einen Kratzer davongetragen zu haben. Nein Dieter Schlempert und Kollegin Yasmin Kalt, da muss ich Sie enttäuschen. Meinen Mann müssen Sie schon in die Luft jagen, damit Sie ihm ein Ende setzen können.“
Der letzte Satz lässt Yasi und mir das Blut in den Adern gefrieren. Sollte diese schlaue und gewitzte Dame tatsächlich eine eiskalte Mörderin sein?
„Frau Brechtel, dass die Leiche, die wir gefunden haben, tatsächlich durch eine Sprengung gestorben ist, macht Sie nun verdächtig“, sag ich deshalb so dahin. Ob das ein cleverer Schachzug ist, weiß ich nicht. Dass sie nun ihr Hühnerfutter fallen lässt und ihre Gesichtszüge entgleisen, macht sie allerdings wieder weniger verdächtig, aber die Hühner satt.
„Jetzt machen Sie mir aber Angst“, sagt sie mit zittriger, fast schon weinerlicher Stimme, „schon als verliebter Teenager sagte ich, dass ihn nur Dynamit umbringen kann und jetzt kommen Sie daher und sagen so etwas, Dieter Schlempert vom Kommissariat in Neustadt an der Weinstraße.“
„Ich sagte, dass wir Grund zur Annahme haben, was bedeutet, dass wir es nicht wissen. Können Sie uns sagen, wo sich Herr Brechtel zu Zeit aufhält?“
„Der ist auf Tour“, sagt sie nun und scheint sich wieder etwas gefangen zu haben, „wenn er beruflich harte Wochen hinter sich hat, schnappt er sich freitags gerne mal ein paar Dosen Bier und verbringt die Nacht im Wald am Lagerfeuer. Therapie nennt er das. Nach dem Stress auf der Arbeit will er vermeiden, dass er seine Laune auf die Familie überträgt.“
Eine lobenswerte Einstellung, da muss ich auch mal darüber nachdenken.
„Kann es sein, dass er die Nacht auf einem Trekkingplatz verbringen wollte?“, schaltet sich nun Yasi ein, die sich sofort wie ein vorlautes Kind die Hand auf die Lippen presst.
Mit einem Lächeln nicke ich ihr zustimmend zu, um zu signalisieren, dass sie nichts Falsches getan hat.
„Ja, das hat er in letzter Zeit immer so gemacht“, antwortet die siebenfache Mutter, „früher blieb er einfach dort, wo es ihm gefallen hat. Dann wurde er von so einem fanatischen Umweltschützer einmal angezeigt wegen wildem Campierens. So hat er sich inzwischen entschieden, seine Touren an solchen Plätzen enden zu lassen.“
„Sie sagten, dass er angezeigt wurde?“, frag ich nach, „hat Ihr Mann Feinde?“
„Aber wo denken Sie hin, mein Peter ist der hilfsbereiteste und umgänglichste Mensch, den ich je getroffen habe. Klar hat er nicht nur Freunde, aber sicher niemand, der ihn aus dem Weg haben will. Schon gar nicht jemand, der ihm etwas antun würde.“
Ob meine Frau auch solche Worte für mich findet, wenn jemand nach mir fragt?
„Frau Brechtel“, wechsle ich nun mal das Thema, „auf solch einem Trekkingplatz ist heute ein Mensch durch eine Explosion ums Leben gekommen. Dabei kann es sich um Ihren Mann handeln. Um das festzustellen, müssten wie einen Genabgleich machen. Haare würden sich dazu gut eignen. Würden Sie uns bitte die Haarbürste Ihres Mannes zur Verfügung stellen?“
„Klar gebe ich Ihnen unsere Haarbürste, Kommissar Dieter Schlempert und Yasmin Kalt, aber ich bitte Sie, uns die Bürste wiederzubringen, damit sich meine Familie wieder die Haare bürsten kann.“
„Haben Sie nur diese eine?“, platzt es aus Yasi heraus.
„Haarbürste, Zahnbürste, Toilettenbürste, alles nur einmal vorhanden. Peter ist der Meinung, was mehrfach da ist, verliert an Wertschätzung und wird auch leichter verschlampt.“
Nachdem wir die Bürste eingetütet haben, fahren wir zurück in Richtung Neustadt zur Wache. Yasi informiert Martin Schneider telefonisch über die sichergestellte Haarprobe und redet die ganze Fahrt über wie ein Wasserfall. Ich bin am Überlegen, ob ich wieder aufs Gas treten sollte, um diesen Redefluss zu stoppen.
Ich lasse es sein und beende lieber in Harmonie den ersten Tag in meinem neuen Leben als Oberkommissar und Dienststellenleiter.