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Formenwandel
ОглавлениеDie venezianischen Seefahrer nannten im Mittelalter den Ostrand ihres heimischen Meeres „Levante“: das Land, wo die Sonne aufgeht. Im weiteren Sinn bezeichnet der Begriff alle Länder, die im Osten an das Mittelmeer grenzen, von der Türkei bis Ägypten und unter Einschluss Zyperns. Präziser versteht man unter Levante das Gebiet der heutigen Nationalstaaten Libanon, Syrien und Israel, teilweise noch Jordanien. Dieses Gebiet kann räumlich, grob von West nach Ost, in eine Abfolge von Landschaften gegliedert werden: Mit jedem Kilometer, den man sich vom Mittelmeer entfernt, nimmt die im Jahresmittel fallende Niederschlagsmenge kontinuierlich ab, der Anteil von völlig trockenen, jeder Bodennutzung unzugänglichen Flächen zu. Geographen sprechen vom „Formenwandel“: Ein relativ feuchtes, maritimes Klima geht allmählich in ein trocken-kontinentales über, mit entsprechenden Folgen für Böden und Wasserhaushalt.1
Entfernung ist aber nicht der einzige Faktor, der den Formenwandel bestimmt: Ebenso wichtig ist die Topographie, die den Durchzug feuchter Luftmassen fördern oder hemmen kann. Größere Höhenzüge sind immer auch Wetterscheiden. In der Levante wirken gleich mehrere grob in Nord-Süd-Richtung verlaufende Bergketten als Barrieren, an denen sich vom Mittelmeer ostwärts ziehende, feuchte Luftmassen abregnen können: im Norden das Nurgebirge, der antike Amanus, mit Höhen von über 2000 Metern und dahinter der Kurd Daǧi mit immerhin noch 1500 Metern Höhe; weiter südlich der Ǧabal alʾAqraʿ (1700 Meter) und der Ǧabal al-Anṣārīya (1500 Meter) und östlich davon der Ǧabal az-Zawīya (900 Meter); noch weiter südlich die jeweils alpine Höhen erreichenden Bergmassive des Libanon (3000 Meter) und Antilibanon-Hermon (2800 Meter) und, östlich daran angrenzend, die Palmyraketten mit bis zu 1400 Meter Höhe; schließlich in Israel das Hochland von Galiläa (700 Meter), in Jordanien der Ǧabal ʿAǧlūn (1300 Meter) und, weiter im Binnenland, an der Grenze zwischen Syrien und Jordanien, der Ǧabal ad-Durūz (1800 Meter) als Teil des Ḥaurān-Massivs. Im Osten gehen die Bergketten in das Mulden- und Tafelland der Syrischen Wüste über, das, vor allem im Süden, von zahlreichen Wadis durchzogen, ansonsten aber weitgehend eben ist.
Der Formenwandel schafft vier deutlich voneinander abzugrenzende Landschaften: erstens die mediterrane Küstenebene mit den dahinter liegenden Bergmassiven; zweitens die unmittelbar dahinter liegenden Ackerfluren des Altsiedellandes mit einer Niederschlagsmenge von über 400 Millimetern pro Jahr; drittens das Jungsiedelland am Steppenrand, wo meist weniger als 400 Millimeter Niederschlag im Jahresmittel fallen; und viertens die Wüstensteppe und Wüste mit in der Regel unter 250 Millimetern Niederschlag. Der Küstenstreifen, zu dem im Libanon selbst noch der größte Teil der Bekaa-Ebene und in Palästina das Westjordanland gehören, ist mancherorts, je nach topographischen Bedingungen, nur wenige Kilometer tief. Während im Altsiedelland entlang der Linie Aleppo–Hama–Homs–Damaskus Regenfeldbau ohne künstliche Bewässerungsmaßnahmen mit dem Anbau von Wintergetreide und genügsamen Sommerfrüchten möglich ist, setzt Landwirtschaft im Neusiedelland zum Teil aufwendige Bewässerungssysteme voraus, die aber schon seit der Antike in Gebrauch sind. In der Ghūṭat Dimašq etwa, einer großen Bewässerungsoase westlich, südlich und östlich von Damaskus, gibt es ein über Jahrhunderte ausgebautes und gepflegtes Netz von Wasserkanälen, das sich vorwiegend aus zwei Flüssen speist. In anderen Landstrichen wird Sickerwasser, das im Bergland auf wasserundurchlässige Bodenschichten trifft, über ein System von Stollen und Brunnenschächten, sogenannte Qanate, aufgefangen und in das zu bewässernde Gebiet geleitet.
Das Relief, das den Formenwandel in der Levante beherrscht, ist erdgeschichtlich jung. Die großen Gebirge sind alle das Ergebnis starker Krustenbewegungen im späten Plio- und im frühen Pleistozän, vor ca. 3 bis 2,5 Millionen Jahren. Entlang der Levante-Küste stoßen die eurasische und die arabische Lithosphärenplatte aneinander, mit der Folge, dass die gesamte westliche Levante eine Zone erhöhter seismischer und – vor allem in Südsyrien – auch vulkanischer Aktivität ist. Zusammen mit den Aufwölbungen der Höhenrücken entstanden die tiefen Einkerbungen der küstenparallelen Täler: des Jordangrabens im Süden und der Bekaa-Ebene sowie des Orontes-Tals im Norden. Wegen des geringen Alters der Oberflächenformen haben Wind und Wetter dem Relief bisher wenig anhaben können: Die Gebirgszüge vor allem des Libanon und Antilibanon-Hermon haben sich bis in die Gegenwart ein schroffes, alpines Gepräge bewahrt. Nur die Flusstäler und Wadis sind Zeugen des Wirkens exogener Kräfte auf das Relief.
In das allgemeine Bild des Formenwandels von West nach Ost kerben sich vielfältige lokale Besonderheiten ein. Geographen sprechen von „Singularitäten“, die den Raum weiter differenzieren: An der Südflanke der mächtigen, das anatolisch-iranische Hochland bildenden Gebirgsketten von Taurus und Zagros ist es deutlich feuchter als weiter südlich, sodass hier bis tief ins Binnenland, auch noch im nördlichen und nordöstlichen Irak, Regenfeldkulturen gedeihen. Mitten im Tafelland der Syrischen Wüste schaffen die Flusssysteme von Euphrat und Tigris Bewässerungsoasen, die immens fruchtbar sind und ganzjährig hohe Ernteerträge garantieren. Unter Berücksichtigung solcher Faktoren unterscheidet Eugen Wirth in seiner geographischen Landeskunde Syriens sieben Großlandschaften mit je eigenem Nutzungspotenzial für die Menschen: (1.) den mediterranen syrischen Westen, zu dem auch der heutige Nationalstaat Libanon zählt; (2.) die Ackerfluren des nordsyrischen Tafellands um die Großstädte Aleppo, Hama und Homs mit Getreidewirtschaft und Baumkulturen; (3.) die Bergländer und Bewässerungsoasen Mittelsyriens um Damaskus mit ihrem Nebeneinander von Regenfeldbau, Bewässerungskulturen und Nomadenland bis in die jüngste Vergangenheit; (4.) das vulkanische Hochland des Ḥaurān in Südsyrien mit seinen fruchtbaren Basaltböden; (5.) die weiten, erst vor relativ kurzer Zeit systematisch besiedelten Ebenen Nordostsyriens, in denen Bauern mit Viehzüchternomaden lange koexistierten, und (6.) die Wüstensteppe des Ostens und Südostens, die durch den Flusslauf des Euphrat und seine Nebenflüsse Nahr al-Balīh und Nahr al-Ḫābūr unterbrochen werden. Deren Täler bilden als Teile des mesopotamischen Flussoasensytems wieder eine (7.) Großlandschaft ganz eigenen Charakters.
Die Landschaften Syriens (nach E. Wirth, Syrien, 1971)