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Fernhandel und soziale Organisation im Alten Orient
ОглавлениеTrotz ihrer relativen machtpolitischen Bedeutungslosigkeit spielte die Levante immer eine Schlüsselrolle für den Gütertransfer zwischen den großen Mächten. Hier befanden sich wichtige Rohstoffquellen: Stein und Holz waren im Bergland Syriens verfügbar und wurden in Mesopotamien wie Ägypten dringend gebraucht. Außerdem war Syrien Drehscheibe für den Handel mit Metallerzen, die zum großen Teil aus Kleinasien und von der Insel Zypern bezogen wurden. Mindestens seit dem späten Neolithikum verknüpfte ein dichtes Netz von Handelswegen die Levante mit Mesopotamien, von wo erste Anstöße zur Urbanisierung bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. die Region am oberen Euphrat und am Ḫābūr erreichten.6 Die Städte der levantinischen Küste, vor allem das nachmals phönizische Byblos, unterhielten einen regen Austausch mit Ägypten, das hier eine ähnliche Rolle spielte wie Mesopotamien für Innersyrien.7
Güteraustausch hatte für die urbanen Gesellschaften der Bronzezeit eine vitale Funktion: Kein Tempelbau in Ägypten, der ohne Holz aus dem Libanon ausgekommen wäre; kein Relief für einen mesopotamischen König, das sich ohne aus Syrien oder dem Iran importierten Stein hätte herstellen lassen. Rohstoffe und Fertigerzeugnisse waren schon im 3. Jahrtausend so mobil, wie es Menschen waren. Um Dinge aus der Ferne heranschaffen zu können, musste man sie sich entweder mit Gewalt aneignen oder tauschen. Dennoch handelte es sich bei dem Güteraustausch zwischen den altorientalischen Gesellschaften um keinen „Handel“ im eigentlichen Sinn, gab es für Erze, Holz, Stein, Salz und Getreide keinen „Markt“, über den sich Preise und Tauschbedingungen hätten „aushandeln“ lassen.
Güteraustausch über große Entfernungen war das Geschäft von Fachleuten. Der akkadische Begriff für „Fernhändler“, der in den Texten von kārum Kaniš benutzt wird, lautet tamkāru (Plural: tamkārum). Bei den so bezeichneten Händlern handelte es sich um keine homogene Gruppe: Einige von ihnen arbeiteten als „Transporteure“ der von Assur nach Kaniš (und zurück) beförderten Waren, andere waren in Kaniš und wiederum andere in Assur ansässig. Von den tamkārum mit Wohnsitz in Kaniš lassen sich wieder zwei Typen offenbar unterschiedlichen Ranges differenzieren: Die einen pflegten als „Spediteure“ direkten Kontakt mit den Transporteuren und kümmerten sich um die Abwicklung des Handels, die anderen waren im Hintergrund tätig und bedienten sich der Spediteure als Agenten. Drei Typen von Dokumenten beleuchten diese recht komplexe Organisation: erstens Verträge, die zwischen den Transporteuren und den Spediteuren in Kaniš geschlossen wurden; zweitens Briefe der Residenten in Kaniš an ihre Handelspartner in Assur, aus denen die Identität des Transporteurs und der Inhalt der Warensendung hervorgehen; und drittens Briefe der Händler in Assur an ihre Kollegen in Kaniš, in denen Art und Höhe der Bezahlung, Transportkosten und Abgaben spezifiziert werden.8
Gehandelt wurden immer dieselben Waren. Assyrien exportierte Textilien und – das für die Bronzeherstellung unverzichtbare – Zinn; aus kārum Kaniš erhielten die Assyrer dafür Edelmetalle: Silber und, in geringerem Umfang, Gold. Das Zinn kam ursprünglich aus der iranischen Hochebene, die Textilien aus Babylonien und Assyrien. Für einen Großteil der Güter fungierten die Assyrer also lediglich als Zwischenhändler. Silber und Gold waren, vor der Erfindung gemünzten Geldes, Metalle, die gehortet und als Zahlungsmittel verwendet wurden. Vermutlich war ein namhafter Teil der Bevölkerung Assyriens direkt oder indirekt an der Textilproduktion und am Fernhandel beteiligt. Den Transport bewältigten Eselkarawanen, die im Jahresrhythmus aus Assur aufbrachen, am Tigris zunächst bis Apum (Tell Leilan) reisten, um dann dem Ḫābūr bis Abrum an der Einmündung in den Euphrat zu folgen; am Euphrat bewegten sich die Karawanen nordwärts bis zum heutigen Elbistan; von hier legte man über „sieben Flüsse“ und „sieben Berge“, das kappadokische Bergland überquerend, die restlichen, sehr beschwerlichen 300 Kilometer bis Kaniš zurück. Insgesamt bewältigten die Karawanen am Tag rund 25 Kilometer; für die knapp 1000 Kilometer lange Strecke benötigten sie, Halte an Zwischenetappen eingerechnet, etwa 50 Tage.9
Die Esel, die beidseitig mit Satteltaschen beladen waren und pro Tier bis zu 90 Kilogramm Waren tragen konnten, wurden am Ziel, in Kaniš, zu Geld gemacht. Die Gewinnspanne bei den Transaktionen war immens: Einen Schekel Silber tauschte man in Assur gegen 13 bis 16 Schekel Zinn; in Kaniš erhielten die Händler für 6–8 Schekel Zinn einen Schekel Silber – sie konnten also einen Gewinn von 100 Prozent verbuchen. Selbst wenn man die Kosten abrechnet, die durch den Transport und diverse Abgaben entstanden, war der Anatolien-Handel für die Assyrer ein profitables Geschäft. Doch wessen Geschäft genau? Unstrittig ist, dass die tamkārum, die in unterschiedlichen Funktionen und auf verschiedenen Hierarchieebenen den Warenverkehr mit Kappadokien organisierten, einen Teil der Überschüsse in ihre eigene Tasche wirtschaften konnten.10
Allerdings war zumindest der überwiegende Teil der mit dem Fernhandel befassten Personen in „offizieller“ Mission tätig. Die meisten tamkārum standen unmittelbar in Diensten des assyrischen Königs, als Funktionäre der zentralen Institution, des „Palasts“. Die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, die jedes moderne Wirtschaftsleben beherrscht, gab es in den Stadtgesellschaften des Alten Orients ebenso wenig wie einen „Staat“ im heutigen Sinne. An seiner Stelle agierten Großhaushalte – sumerisch e („Haus“) –, an deren Spitze in der Vorstellung der frühmesopotamischen Gesellschaften Gottheiten standen. Mangels einer besseren Terminologie übersetzen wir e mit „Tempel“; doch reichten die politischen und gesellschaftlichen Funktionen dieser Institutionen weit über das hinaus, was wir mit dem von lateinisch templum abgeleiteten Begriff verbinden: Die „Häuser“ waren zugleich Residenz der Gottheit, politische Schaltzentrale und ökonomischer Mittelpunkt der Stadt. Mit fortschreitender Differenzierung der Stadtgesellschaften gelang es Einzelpersonen, erhebliche soziale Autorität und wirtschaftliche Potenz zu bündeln. Die Häuser solcher Männer, die sumerisch Ensi („Herr des Ackerlands“) und später Lugal („großer Mann“) genannt wurden, erlangten ähnliche Bedeutung wie die „Tempel“. Die Forschung bezeichnet diese Institutionen, die wie die „Tempel“ mit umfangreichen Magazinen und Archiven ausgestattet waren, anachronistisch als „Paläste“. Wesentlich treffender ist der sumerische Begriff e-gal, „großes Haus“, denn tatsächlich zeichneten sich die „Paläste“ vor anderen Haushalten vor allem durch ihre kolossalen Ausmaße aus.
In den großen Institutionen, die zunächst nebeneinander koexistierten, wurden die Überschüsse, die das landwirtschaftlich immens produktive Umland mit seinen Bewässerungsfluren erwirtschaftete, gesammelt, gelagert und verwaltet. Von hier aus wurden die in der Stadt ansässigen Spezialisten, die für den „Tempel“ oder „Palast“ arbeiteten, mit täglichen Getreiderationen versorgt. Die Stadt der mesopotamischen Frühzeit war eine klassische „Konsumentenstadt“, wie sie der Soziologe Max Weber beschrieben hat: Die Konsumentenstadt altorientalischen Typs lebt von einem patrimonialen Großhaushalt, der über Ressourcen verfügen kann, die von außen in die Stadt kommen.11 Diese Ressourcen werden in der Stadt unter Empfangsberechtigte, die in den Diensten des Großhaushalts stehen, verteilt – „redistribuiert“. Die Forschung spricht deshalb von einer „redistributiven“ Ökonomie, in der Güter ihren Besitzer wechseln, ohne dass ein „Markt“ eingeschaltet wird.12
Selbstverständlich kennen auch moderne Ökonomien Redistribution: Der gesamte staatliche Sektor, der sich aus Steuern und Abgaben finanziert, funktioniert nach diesem Prinzip. Nur haben sich die Größenordnungen verschoben: In heutigen europäischen Staaten liegt die Staatsquote, der Anteil des Staates an der Volkswirtschaft, bei rund 50 Prozent; in altorientalischen Gesellschaften durchlief der größte Teil aller Güter, die nicht direkt von ihren Produzenten konsumiert wurden, eine der großen Institutionen. Wie hoch genau dieser Anteil war – und wie er sich über die Jahrhunderte entwickelte –, ist in der Forschung umstritten. Während Marxisten und sogenannte „Primitivisten“ die großen Institutionen für nahezu allmächtig und das Wirken von Marktprinzipien allenfalls in Nischen für möglich halten, sind „Modernisten“ optimistischer, was die Anwendbarkeit moderner volkswirtschaftlicher Theorien auf altorientalische Gesellschaften angeht.13
Wie immer man die quantitative Bedeutung großer Institutionen im Alten Orient bewertet: Nur durch Redistribution ließen sich die wirtschaftlichen Akteure innerhalb einer Gesellschaft in einen ökonomischen Kreislauf integrieren. Nur durch das Wirken der großen Institutionen konnten die Stadtgesellschaften überhaupt funktionieren. Doch spielten „große Häuser“ nicht nur nach innen eine wirtschaftliche Schlüsselrolle; sie waren auch die Hauptakteure im Güteraustausch über große Distanzen hinweg. Die professionellen Fernhändler der altassyrischen Zeit, so groß auch ihr privates Engagement im Fernhandel gewesen sein mag, waren in allererster Linie immer Funktionäre des Palastes. Der Status eines tamkāru verschaffte seinem Inhaber eine „offizielle“ Rolle als Repräsentant des Stadtherrn von Assur. Wie die Preise zustande kamen, zu denen Waren in Kaniš ihren Besitzer wechselten, erschließt sich aus den Quellen nicht präzise. Sicherlich bildeten Entfernungen und die Verfügbarkeit bzw. Nichtverfügbarkeit von Ressourcen an den Schauplätzen des Austauschs wichtige Gradmesser. Dennoch waren die Preise nicht Gegenstand freier Aushandlung auf dem „Markt“. Ausschlaggebend scheint das regulierende Eingreifen politischer Autoritäten gewesen zu sein, die Preise nach Kriterien festsetzten, auf die Marktkräfte keinen Einfluss hatten. Der Wirtschaftsanthropologe Karl Polanyi spricht deshalb idealtypisch zuspitzend, aber in der Sache durchaus zutreffend, von „verwaltetem Handel“.14
Im verwalteten Handel spielten selbstverständlich ökonomische Interessen aller beteiligten Akteure – der Machteliten in den Städten wie der professionellen Händler – eine Rolle. Sie begegnen uns aber nicht in den Texten, die den Handel dokumentieren. Dort erscheint der Güterauschtausch eingelassen in ein ganzes Geflecht sozialer Beziehungen, das die Herrscher der großen und kleinen Staaten im Nahen Osten der Bronzezeit miteinander verband. Wie die Mitglieder einer Familie gebärdeten sich diese großen Männer je nach Status und Machtfülle als „Brüder“, „Väter“ und „Söhne“. Auf entsprechender Vertrauensbasis pflegten sie Umgang miteinander. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, und auch in der imaginierten Großfamilie bronzezeitlicher Potentaten waren materielle wie immaterielle Zuwendungen der Kitt, der politische Allianzen zusammenhielt und freundschaftliches Wohlverhalten belohnte. Jede Leistung erhielt in dieser Vorstellungswelt die Gestalt einer Gabe, ganz gleich, ob es sich in der modernen Rückschau um Tribute, Handelsgüter oder die Protektion eines weniger Mächtigen durch einen Mächtigeren handelt. Nach dem gängigen Gerechtigkeitsideal erforderte jede Gabe eine mindestens gleichwertige, eine „reziproke“ Gegengabe.15
Das ungeschriebene Regelwerk reziproken Gabentauschs ist, neben dem administrativen Eingreifen politischer Autoritäten, der zweite Parameter, der den bronzezeitlichen Warenverkehr von modernem, marktorientiertem Handel absetzt. Nichts ist in diesem von den großen Institutionen beherrschten System so, wie es vordergründig scheint: Die durchaus realen ökonomischen Interessen von Akteuren wie den tamkāru sind kein Indiz für das Vorwalten marktwirtschaftlicher Kräfte; umgekehrt ist die Dominanz der großen Institutionen keineswegs so total, dass sie ein Monopol ausüben würden, schon gar kein staatliches, denn die Idee des Staates ist ja streng genommen noch gar nicht geboren. Es wird offenbar, dass die Wirtschaft kein autonomes Teilsystem der Gesellschaft ist, auf das allein das Handeln von Menschen bezogen sein kann. Die Menschen der Bronzezeit treffen durchaus Entscheidungen auf der Basis von Kosten-Nutzen-Kalkülen; ihre Handlungsoptionen sind aber auch von vielen anderen Faktoren konditioniert, die jenseits aller ökonomischen Ratio liegen, Vorstellungen von Gerechtigkeit, Solidarität und Loyalität, die überhaupt erst den Zusammenhalt ihrer Welt sichern. Wieder hat Karl Polanyi den für das Verständnis dieser fernen Wirklichkeit entscheidenden Begriff geprägt: Er spricht vom „Eingebettetsein“ (embeddedness) der Wirtschaft in andere Bereiche des sozialen Handelns.16