Читать книгу Das Geheimnis von Montrésor - Michael Stolle - Страница 6
ОглавлениеEin Zeuge zu viel
Henri de Beauvoir trat heftig gegen den Körper seines schwer verletzten Adoptivvaters und immer schneller rollte der schreiende Graf, bis er in die reißenden Gewässer der Loire fiel und von den Fluten erbarmungslos mitgerissen wurde. Jean-Baptiste de Roquemoulin war für immer verschwunden.
Es war sein Triumph, denn hier stand er – Henri – der neue Graf von Roquemoulin. Er war reich, er war frei. Er hatte es geschafft – er hatte sich dieses ältlichen, ewig nörgelnden Liebhabers entledigt, des Mannes, der dumm und blind genug gewesen war, ihn zu adoptieren.
Noch immer das herrliche Gefühl seines Triumphs in seinen pulsierenden Adern spürend, wandte sich Henri um, um zu seinem Pferd zurückzulaufen. Aber als sein Blick die Hügelkuppe streifte, setzte sein Herzschlag beinahe aus. Oben, auf dem Hang, warteten drei Reiter. Sie mussten ihn schon seit einiger Zeit beobachtet haben. Fieberhaft suchte er nach einer Waffe und fluchte; er hatte Pistole und Schwert bei seinem Pferd dort oben auf dem Pfad gelassen.
Es blieb ihm keine andere Wahl, als den drei Reitern unbewaffnet zu begegnen und sich dem Unvermeidlichen zu stellen.
Einer der drei Reiter stieg ab und noch während Henri den Hang wieder hochkletterte, kam der Mann mit gezücktem Schwert auf ihn zu gerannt, doch seltsamerweise fing er an, ihm zuzuwinken.
Hölle und Verdammnis, was soll ich jetzt nur tun? Henri ging fieberhaft alle Möglichkeiten durch, die ihm einfielen. Die Person kam näher und nun erkannte er, dass diese Person, in Wirklichkeit kein Mann, sondern eine Frau war. Es war Marina, seine Geliebte, und eine Welle der Erleichterung überkam ihn.
Marina stürzte in seine Arme. »Henri, endlich bist du diesen dummen Mann losgeworden! Ich wusste, dass es heute passieren würde, ich habe es in den Sternen gelesen.«
Henri befreite sich aus ihrer stürmischen Umarmung und zeigte auf die beiden Reiter, die wie Marmorstatuen auf ihren Pferden sitzen geblieben waren. »Wer sind sie? Warum bist du nicht allein gekommen?«
Marina lächelte ihn an, aber Henri war sich nicht sicher, ob er dieses Lächeln mochte.
»Das sind mein Vater und mein Bruder«, bemerkte sie lässig.
Henri musterte die beiden Männer. Sie hatten die gleiche stolze Haltung und er konnte eine Familienähnlichkeit erkennen. Beide hatten ebenfalls Haare vom dunkelsten und glänzendsten Schwarz, das er je gesehen hatte. Die Haut von Marinas Bruder war etwas dunkler getönt als ihre, aber auch er war stolz und schön.
»Soll ich jetzt sagen, dass ich mich freue, sie kennenzulernen?«, knurrte Henri, ‚Warum bist du nicht allein gekommen?«
»Ja, das solltest du«, erwiderte Marina und ihre Augen blitzten triumphierend. »Ich nehme an, dass es eine kleine Überraschung für dich sein mag, aber du bist dabei, deinen zukünftigen Schwiegervater und Schwager kennenzulernen!«
Henry wusste nicht, ob er lachen oder vor Wut explodieren sollte. »Bist du verrückt? Ich bin Henri de Beauvoir, Comte de Roquemoulin, meine Vorfahren haben Jerusalem zusammen mit den Königen von Frankreich erobert, meine Familie hat königliches Blut in ihren Adern, ich werde niemals eine Schlampe wie dich heiraten!«, rief er aufgebracht.
Als Antwort verpasste Marina ihm eine harte Ohrfeige, wobei sich ihre Nägel in sein Fleisch bohrten und blutige Spuren hinterließen.
Henri taumelte unter dem unerwarteten Angriff und dann sah er, dass ihr Bruder eine Armbrust auf ihn richtete. Das Gesicht ihres Bruders vermittelte eine klare Botschaft: Nur zu gerne würde er diesen wütenden Fremden, der gerade seine Schwester und ihren Stamm beleidigt hatte, töten.
»Du bist ein Nichts, ein Niemand!«, schrie sie ihn an. »Ich bin diejenige, die von königlichem Blut ist, mein Vater ist der König unseres Stammes. Du hast mir meine Jungfräulichkeit genommen und nach unseren Regeln musst du mich entweder heiraten oder du stirbst. Mein Sohn wird nicht unehelich geboren werden. Du hast die Wahl.«
Henri kochte vor Wut, aber bevor er etwas sagen oder ihren Angriff auch nur erwidern konnte, hörte er das Zischen des ersten Pfeils. Er traf sein Pferd, das sich vor Angst und Schmerz aufbäumte, bevor es den Halt auf dem glitschigen Pfad verlor und den Hang hinunter in die Loire stürzte. Dabei schrie das Pferd vor Schmerz fast wie ein Mensch und die schrecklichen Schreie kamen als Echo zurück. Es klang entsetzlich, als ob das Leiden des Pferdes ewig andauern würde.
Henri gefror das Blut in den Adern. Dann hörte er zum ersten Mal die erstaunlich melodiöse Stimme von Marinas Bruder. »Denk lieber nach, bevor du noch einmal sprichst. Ich verstehe nicht, warum sie dich heiraten will, sie sagt, dass sie ihr Schicksal in den Sternen gelesen hat. Aber wenn du meine Schwester oder unseren Stamm beleidigst oder auch nur bedrängst, schwöre ich hiermit, dich zu töten, und dein Tod wird ein schrecklicher sein.«
Henri sah den jungen Mann abschätzend an. Aber diese Drohung ängstigte ihn nicht, im Gegenteil, sie erregte ihn. Mal sehen, wer dieses Spiel gewinnen wird, dachte Henri. Wenn ich Richelieu schlagen kann, werde ich auch diesmal gewinnen. Ich werde euch alle dazu bringen, euch meinem Willen zu beugen.
Er schaute Marina und ihren Bruder trotzig an und antwortete: »Ich schätze, ich habe keine andere Wahl, als zu akzeptieren. Wenn ich das Erbe von Roquemoulin erfolgreich angetreten habe, werde ich eure Schwester heiraten. Aber wenn ihr mich jetzt tötet, gewinnt niemand, ich verliere mein Leben und Marina ihren zukünftigen Ehemann.«
»Hältst du uns für zurückgebliebene Trottel?«
Zum ersten Mal schaltete sich Marinas Vater in das Gespräch ein. »Du wirst sie hier und jetzt heiraten oder du gehst mit deinem leichtgläubigen Grafen da unten ins Wasser.«
Henri schluckte, sein Mund war plötzlich trocken. Was konnte er tun, außer zu akzeptieren? »Wie, jetzt?«, schaffte er es zu antworten.
»Steig auf das Pferd des Grafen und wir werden es dir zeigen!«, antwortete seine Braut triumphierend.
Der Tag, an dem ich dich töte, du Schlampe, wird der schönste Tag meines Lebens sein, dachte Henri. Wütend presste er seine Lippen zusammen.
Sie ritten über die Hügel mit grünen Feldern zu dem Ort, an dem die Zigeuner ihr Lager errichtet hatten. Er erblickte ein paar Zelte neben einigen klapprigen Wagen, daneben graste eine kleine Herde schmuddeliger Ziegen.
Henri wurde in ein Zelt geführt, wo man ihn warten ließ. Marina verschwand zusammen mit ihrem Vater, aber ihr Bruder hielt Wache, seine Armbrust stets präsent, seine Augen seltsam traurig, aber zugleich stolz und herausfordernd. Nur wenige Minuten später wurde Henri in ein größeres Zelt geführt.
Ein goldenes Kreuz stand auf einem Tisch, der mit einem kostbaren seidenen Teppich bedeckt war. Eine Ikone der Heiligen Jungfrau und ihres Kindes wurde neben das Kreuz gestellt. Das Bild musste sehr alt zu sein, denn der goldene Rahmen war vom Alter gezeichnet und das Bild selbst vom Schmutz und Rauch unzähliger Talglichter geschwärzt.
Neben dem Kreuz wartete bereits ein dicker Priester mit einem markanten Leberfleck auf seinem wackeligen Kinn und bevor Henri überhaupt begriffen hatte, was hier vor sich ging, hatte die Hochzeitszeremonie bereits begonnen.
Ich bin in einem Albtraum gelandet, das kann nicht wahr sein, dachte er und rieb seine Augen.
Und doch – schon trat seine Braut an seine Seite mit einem silbernen Kranz in ihrem leuchtend schwarzen Haar. Marina strahlte vor Freude. Und natürlich standen dort auch Mitglieder ihrer Familie, seine neuen Verwandten, die ihn höhnisch angrinsten. Henri war sich bewusst, dass sie ihn als fette Beute betrachteten, die seine neue Frau an Land gezogen hatte.
Widerwillig verfolgte Henri den Gottesdienst. Niemals hätte er sich vorstellen können, sich in einer solchen Situation wiederzufinden, mit einer Frau von niedrigster Geburt an seiner Seite. Er war ebenso wütend wie angewidert. Um nicht verrückt zu werden, wiederholte Henri in seinen Gedanken wie ein Mantra: Lass sie überzeugt sein, dass sie mich in der Falle haben, ich werde einen Ausweg finden!
Ein Dokument wurde zur Unterschrift vorgelegt und Henri erkannte, dass seine Braut mit drei Kreuzen unterschrieben hatte – natürlich konnte sie weder lesen noch schreiben. Er überlegte kurz, mit einem falschen Namen zu unterschreiben, aber das war ein erhebliches Risiko, denn zumindest der dicke Priester konnte sicherlich seine Unterschrift entziffern. Henri entschied sich, einfach zu unterschreiben – war es denn wirklich so wichtig? Das Ganze war eine Farce.
Der Priester strahlte ihn an, sichtlich zufrieden, dass alles gut geklappt hatte. Er schloss die Zeremonie mit den letzten Gelübden und den Worten: »Bis dass der Tod euch scheidet.«
Henri zuckte zusammen, das war der Fingerzeig, auf den er gewartet hatte.
Ja, der Tod wird die Antwort sein, Marina Darling, du wirst es bereuen, mich jemals herausgefordert zu haben, dachte Henri und fühlte, wie seine Energie zurückkehrte.
Wie es der Brauch verlangte, teilte er den Kelch mit dunkelrotem Wein mit seiner Braut und küsste sie pflichtbewusst. Aber seine Gedanken überschlugen sich: Ich werde dafür sorgen, dass der Tod uns schnell trennen wird. Marina hatte soeben ihr Schicksal besiegelt.
Arrogant und wieder selbstbewusst wandte er sich an seine neue Frau.
»Jetzt, wo wir verheiratet sind, musst du mir helfen, eine gute Entschuldigung für meine Abwesenheit zu erfinden. Ich vermute, dass die Knechte des Grafen bald nach uns suchen werden, wenn wir nicht zurückkehren. Ich muss sofort zurückkehren und so aussehen, als hätte ich einen schlimmen Unfall erlitten. Du musst mir dabei helfen. Wenn ich es richtig anstelle, werde ich der Erbe des Grafen. Es geht um ein Vermögen.«
Seine neue Familie nickte zustimmend – das war die Sprache, die sie verstanden.
Sie ritten zurück zum Pfad in der Nähe des Flusses und Henri ging noch einmal im Geiste durch, welche Geschichte er am besten der Dienerschaft des Grafen auftischen konnte. Praktischerweise hatten Marinas scharfe Nägel Kratzspuren auf seinem Gesicht hinterlassen, samt Spuren von getrocknetem Blut an seinem Kragen. Wieder einmal würde er also in die Rolle des armen Unfallopfers schlüpfen. Eigentlich, dachte Henri, ist die ganze Welt nichts anderes als eine riesige Bühne für eine schlechte Komödie.
Als Henri – in der Gestalt des einsamen und geschundenen Reiters sichtlich erschöpft das Anwesen von Roquemoulin betrat, war das ganze Schloss bereits in Aufruhr.
Besorgnis, danach blanke Angst, hatte sich breitgemacht, nachdem die beiden Reiter nicht zur erwarteten Zeit zurückgekehrt waren. Suchtrupps waren organisiert worden, aber ohne Erfolg. Später verbreitete sich die schreckliche Nachricht wie ein Lauffeuer, dass Henri de Beauvoir allein zurückgekehrt war, ein gebrochener Mann, Zeuge eines schrecklichen Unfalls, der dem Grafen widerfahren war. Obwohl die Sonne schon tief stand, wurden die Stallknechte sofort zur Unglücksstelle geschickt – Henri hatte Sie mit letzter Kraft und brechender Stimme aufgefordert, dass keine Mühe gescheut werden dürfe, nach dem Grafen zu suchen und dass man die Hoffnung niemals aufgeben werde, ihn lebend wiederzufinden.
Erst spät am Abend kehrten die Pferdeknechte zurück, die Augen müde und brennend von den rauchenden Fackeln. Sie legten Zeugnis von dem Unfall ab – die strauchelnden Pferde hatten tiefe Spuren im schlammigen Pfaden und im Gestrüpp hinterlassen – aber vom Grafen selbst war keine Spur am Flussufer gefunden worden.
Denn die Leiche des unglücklichen Grafen sollte nie geborgen werden.
Erst Wochen später und Hunderte von Meilen entfernt entdeckte ein Fischer die aufgedunsenen und entstellten Überreste dessen, was vermutlich einst ein wohlhabender Mann gewesen war. Dem Herrn für einen solchen fetten Fund dankend, schnitt er die halb verwesten Finger ab, um die kostbaren goldenen Ringe zu bergen, und versteckte die verwesende Leiche im Schilf. Der Fischer wusste aus leidvoller Erfahrung, dass er sich nur Ärger einhandeln würde, wenn er Meldung erstattete. Glücklich sah er sich die Ringe näher an: Sie waren schwer und ein Vermögen wert, weit mehr als alles, was er in seinem ganzen Leben je durch die Fischerei hätte verdienen können. Nicht einmal seiner stets nörgelnden Frau würde er diesen Fund zeigen, er würde einfach verschwinden. Sollte sie doch sehen, wie sie mit den sechs Kindern zurechtkam.
***
Es hatte nie einen Zweifel daran gegeben, dass Henri ein exzellenter Schauspieler war, aber diesmal spielte er seine Rolle zur Perfektion. Auch wenn den meisten Bediensteten die enge Verbindung des Grafen zu diesem arroganten Adligen, der sich wie ein Kuckuck ins Nest gesetzt hatte, ein Dorn im Auge gewesen war, jetzt waren sie von seiner stillen und edlen Trauer beeindruckt.
Henri gab dem Gutsverwalter unter Tränen den Befehl, sofort die Behörden und auch den Notar der Familie über den Unfall zu informieren. Sollte der Graf weiterhin vermisst werden, würde der Notar die Familie informieren und die Erben ermitteln müssen. Der Verwalter, der Henri immer mit Argwohn beäugt hatte, war angenehm überrascht. Er war eigentlich davon überzeugt gewesen, dass Henri versuchen würde, die Position des Grafen sofort an sich zu reißen. Selbst hier in der Provinz hatte es sich herumgesprochen, dass Henri keinen einzigen Sou besaß und vom Grafen ausgehalten wurde.
Irgendwie schien es dann nur natürlich, dass der persönliche Kammerdiener des Grafen nun auch Henri bediente und ihn damit indirekt als den neuen Herrn anerkannte. Während er sich immer wieder geräuschvoll die Nase schnäuzte, hatte der Kammerdiener Mühe, seine Tränen zurückzuhalten. Der verschollene Graf war ein guter Herr gewesen – zu gut und zu naiv, würden einige unten im Dienstbotentrakt murmeln.
Schweigend ertrug Henri die entnervende Zurschaustellung von Hingabe des alten Kammerdieners. Alberner, alter Narr, dachte Henri, bald wirst du auch nach meiner Pfeife tanzen, dann gibt es keine tränenreichen Szenen mehr.
Das warme Gefühl des Triumphs machte sich in Henri breit. Er war sich jetzt sicher, dass er in der Lage sein würde, jede Herausforderung zu meistern, die sich ihm bieten würde. Dies galt auch für Marina, er konnte sie einfach nicht seine Frau nennen, oder ihren Zigeunerstamm. »Ich bin ein Genie!«, flüsterte er und kostete die Worte aus. »Mein Plan war einfach perfekt. Schon bald wird die Welt wissen, dass ich der neue Comte de Roquemoulin bin. Ich werde ein reicher Mann sein, ein Mann, mit dem man rechnen muss. Liebster Cousin Pierre und auch du alte Krähe Richelieu, nehmt euch in Acht!«, und er brach in ein wildes Gelächter aus.
Henris Gedanken kehrten zu Marina zurück: Sie war schön, in ihrer Wildheit begehrenswert, aber sie war zu einem Ärgernis geworden. Was sollte er mit ihr machen? Plötzlich blitzte eine neue, wundervoll bösartige Idee auf. Marina und ihr Clan sind niemandem außer mir bekannt, dachte er – was für eine großartige Waffe kann daraus werden!
Er lächelte zufrieden. Der Graf von Roquemoulin zu werden war eine Leistung, aber das reichte nicht. Seine Bestimmung war es, der Marquis de Beauvoir zu werden. Selbst in den schwierigsten Momenten, hatte Henri nie einen Zweifel an seiner Bestimmung gehegt.
Das Schicksal hatte ihm eine neue Waffe in die Hand gespielt – er würde seine niedrig geborene, aber äußerst attraktive Frau benutzen, um Pierre de Beauvoir eine Falle zu stellen und ihn zu vernichten. Erst wenn diese Aufgabe erfüllt war, würde er sich der Frage zuwenden, wie er Marina loswerden konnte. Sie würde noch für die Anmaßung, ihn zu einer Hochzeit gezwungen zu haben, büßen müssen.
»Du wirst für deine Arroganz und Unverschämtheit noch teuer bezahlen, Marina Darling«, flüsterte er.
Bald schon schlief er tief und fest. Es war der zufriedene Schlaf, der jedem nach einem Tag harter, aber lohnender Arbeit gegönnt ist. Aber in seinen Träumen tauchte weder der unglückliche Jean Baptiste de Roquemoulin, noch seine neue Frau auf – er sah und küsste das Gesicht von Marinas unnahbarem und doch so gut aussehendem Bruder.
***
Der alte Notar, der der Familie seit Jahrzehnten pflichtbewusst gedient hatte, erschien schon am nächsten Tag, trauernd, aber auch nervös. Er wurde in die stickige Bibliothek geführt, die Jean Baptiste de Roquemoulin so selten benutzte hatte.
Henri spielte seine Rolle wieder einmal fehlerlos. Mit dem Respekt, der seinem Amt gebührte, und mit der richtigen Mischung aus Kummer und Trauer empfing er den Notar bescheiden und bat ihn demütig um Hilfe und Beistand in dieser schrecklichen Stunde der Bedrängnis.
»Ich weiß, dass es der letzte Wille meines geliebten Jean Baptiste war, mich zu adoptieren, aber da ich nicht weiß, ob sein Wunsch in Erfüllung gegangen ist, ist es nun meine traurige Pflicht, mich auf eine Zukunft ohne den Menschen vorzubereiten, der mir so viel bedeutet hat.« Henris Stimme brach meisterhaft und er wischte sich eine imaginäre Träne aus seinem linken Auge. »Maître, darf ich Sie daher förmlich bitten, die gesetzlichen Erben zu ermitteln und ihre Vorladung vorzubereiten, sobald – und ich darf mir das gar nicht vorstellen, der geliebte Graf von den Behörden als tot erklärt werden sollte?«
Der Notar war sichtlich erschüttert. Er war allerdings angenehm überrascht, nicht nur von Henris aufrichtiger Trauer, sondern auch von seiner vornehmen Zurückhaltung. Als er das letzte Mal Roquemoulin verlassen hatte, war er der Überzeugung gewesen, dass der Graf völlig verrückt geworden sein musste. Instinktiv hatte er Henri als adligen Abenteurer und Tunichtgut eingeschätzt. Er war auch erstaunt festzustellen, dass Henri sich nicht bewusst zu sein schien, dass die Adoption bereits abgeschlossen war.
Der Notar räusperte sich. »Die nächste Verwandte des Grafen ist Ihre Gnaden, die Herzogin von Limoges«, sagte er in seiner langsamen und präzisen Diktion.
Henri musste sich beherrschen, er wurde von einem fast unbändigen Drang gepackt, sich auf den Boden zu werfen und sich vor Lachen zu wälzen – das war einfach zu schön, um wahr zu sein! Das Leben konnte die wildesten Fantasien immer noch übertreffen. Wie gerne würde er die Szene miterleben, wenn die Herzogin die Nachricht erhielt, dass er ihr das fette Erbe weggeschnappt hatte.
Den Wutanfall zu genießen, sobald sie realisierte, dass sie es verpasst hatte, eines der größten Vermögen zu erben, das Frankreich zu bieten hatte – und dass dieses Erbe nun an ihren abgelegten Liebhaber ging.
Schnell verbarg er sein Gesicht hinter einem Taschentuch. Der Notar deutete sein zuckendes Gesicht als ein weiteres Zeichen tiefer und echter Trauer.
»Aber was die Situation Eurer Lordschaft angeht«, fuhr der Notar fort, »so freut es mich, Ihnen mitteilen zu können, dass der Prozess der Adoption Eurer ehrenwerten Person auf Wunsch des verstorbenen Grafen«, er korrigierte sich schnell, »ich meine des Grafen de Roquemoulin, der leider als vermisst gemeldet wurde, bereits abgeschlossen wurde. Die von mir als Notar gesiegelten Dokumente sind bereits vor einigen Wochen an den Grafen übergeben worden. Eigentlich hatte ich erwartet, dass diese Tatsache bekannt ist.«
Er beobachtete Henri aufmerksam, aber einmal mehr gelang es Henri, perfekt zu reagieren. Seine Miene zeigte erst tiefe Trauer, dann ein plötzliches Erfassen der Bedeutung der letzten Worte des Notars, echte Überraschung und schließlich demütige Dankbarkeit.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll«, sagte Henri nach einer längeren Pause. »Ich weiß, dass dies der Wunsch des Grafen war. Vielleicht wollte er mich zu meinem Geburtstag überraschen, es wäre ein wahrhaft edles Geschenk gewesen.« Er wandte sein Gesicht ab und fuhr mit gebrochener Stimme fort: »Aber wie soll ich jemals meine Dankbarkeit ausdrücken, jetzt, wo mein liebster, väterlicher Freund nicht mehr hier ist …« Den letzten Satz beendete er nur noch im Flüsterton. Von seinen Gefühlen überwältigt, verbarg er wieder sein Gesicht.
Der Notar gab ein paar tröstende Laute von sich, da er nicht wusste, wie er antworten sollte. Er missbilligte die skandalösen Motive hinter dieser Adoption immer noch, aber Henri war der unbestrittene und alleinige Erbe eines immensen Vermögens geworden und der Notar hatte nicht die Absicht, gute Geschäfte wegen Fragen anstößiger Moral zu verderben.
Henri gelang es mit sichtlicher Mühe, seine Fassung wiederzuerlangen. Er schüttelte die Hand des Notars, um ihm für sein Mitgefühl zu danken. Dann räusperte er sich. »In diesem Fall schlage ich vor, den Verwalter des Anwesens zu rufen. Solange der Graf verschwunden bleibt, muss ich die Verwaltung des Anwesens übernehmen. Jean-Baptiste würde dies von mir erwarten. Daher halte ich es für besser, wenn Sie dem Verwalter persönlich mitteilen, dass ich in Zukunft als Henri de Roquemoulin angesprochen werden sollte.«
Der Notar nickte, die Bitte schien wohlbegründet genug zu sein. Der Verwalter wurde gerufen und er erschien schnell. Als er vom Notar informierte wurde, dass Henri nun laut Gesetz der Sohn des verschwundenen Grafen und damit präsumtiver Erbe war, presste er die Lippen zusammen, verbeugte sich jedoch höflich vor Henri. »Darf ich Ihnen gratulieren? Wünschen Sie, dass ich Sie ab sofort als Graf de Roquemoulin anspreche?«
Henri lehnte sofort bescheiden ab. »Natürlich nicht! Wir alle sehnen uns so sehr danach, unseren geliebten Graf wohlbehalten zurückzusehen, es ist viel zu früh, die Hoffnung aufzugeben. Ich habe vor, heute Nachmittag weitere Suchtrupps, diesmal unten an den Ufern der Loire zu organisieren. Lasst uns alle zum Herrn beten, dass wir den Graf finden. Ich kann mir dieses Schloss gar nicht ohne ihn vorstellen. Ich wollte nur, dass Sie über die letzten Neuigkeiten informiert sind. Ich habe heute erst erfahren, dass unser geliebter Graf mich adoptiert hat. Ich bin immer noch überwältigt von dem Ausmaß seines Vertrauens und seiner Herzensgüte.«
Der Verwalter schaffte es, sein Gesicht ausdruckslos zu halten. Er war weniger leichtgläubig als der Notar. Es gehörte zu seiner täglichen Routine, von seinen Untergebenen belogen zu werden und er glaubte daher kein einziges Wort von Henris fassungsloser Überraschung und war auch nicht beeindruckt von dieser Zurschaustellung von falscher Bescheidenheit. Aber er hatte eine gute Position – die er gerne behalten wollte – daher tat er so, als würde er Henris Worte für bare Münze nehmen und verbeugte sich noch einmal respektvoll – wenn möglich, noch tiefer als zuvor.
Höflich, aber bestimmt lehnte der Notar Henris Einladung ab, zum Mittagessen zu bleiben. Er verließ das Anwesen mit gemischten Gefühlen. Widerwillig musste er zugeben, dass Henri einen viel günstigeren Eindruck auf ihn gemacht hatte als beim letzten Mal – aber irgendwie sagte ihm sein sechster Sinn, dass etwas nicht stimmte, und er verließ das Schloss immer noch verwundert über das plötzliche Verschwinden des Grafen – und besorgt. Aber sobald er in seiner Kutsche saß, zuckte er mit den Schultern – im Endeffekt es gab nichts, was er tun konnte, außer zu versuchen, so viel Geld wie möglich aus der Verwaltung dieses Erbes zu gewinnen.
Henri war zufrieden mit den Ergebnissen der morgendlichen Treffen. Er entließ den Verwalter, wissend, dass dieser die Nachricht in Windeseile verbreiten würde. Wie zu erwarten gewesen war, brummte das Schloss zur Mittagszeit wie ein Bienenstock und die Dienerschaft verbeugte sich noch tiefer als zuvor.
Henri gab vor, keine Veränderung zu bemerken und beteiligte sich pflichtbewusst an dem nutzlosen Suchtrupp, den er mit viel Aufwand organisiert hatte. Unermüdlich trieb er die Stallknechte an, weiterzusuchen, bis sie vor Erschöpfung von ihren Pferden fielen.
Während der Suche, inmitten seiner Lakaien und Stallknechte, bemerkte Henri von Zeit zu Zeit einige Zigeuner, die wie Schatten am Horizont erschienen und vorsichtig Abstand hielten. Es dauerte nicht lange, bis seine Männer sie ebenfalls bemerkten und die üblichen abfälligen Bemerkungen fallen ließen – Zigeuner waren bei der Landbevölkerung verhasst. Ein Stallknecht schlug sogar vor, die Hunde auf sie zu hetzen. »Lasst uns diesen dreckigen Abschaum vom Gelände jagen, sie belästigen unsere Frauen und stehlen – das ist alles, was sie können«, brummte er unter dem Beifall seiner Stallburschen.
Doch Henri erinnerte ihn daran, dass der Graf von Roquemoulin eine solche Aktion niemals akzeptiert hätte, und der Knecht gab Ruhe. Aber die Anwesenheit der Zigeuner erinnerte Henri schmerzlich daran, dass er unter ständiger Aufsicht stand.
Zurück im Schloss – seinem Schloss – ließ er sich auf sein Bett fallen, zufrieden mit der Arbeit des Tages. Henri fühlte sich beschwingt, obwohl er von der körperlichen Anstrengung des Reitens und Suchens völlig erschöpft war. Was für eine Glückseligkeit, sich seiner Müdigkeit hinzugeben und die Maske des trauernden Sohnes fallen lassen zu können.
Henri musste tief geschlafen haben, denn er bemerkte nicht, dass jemand sein Zimmer betreten hatte, bis es zu spät war. Eine starke, muskulöse Hand bedeckte seinen Mund mit einem eisernen Griff und drückte ihn tief in sein Bett. Henri öffnete seine Augen und erkannte das attraktive Gesicht von Marinas Bruder, das nur Zentimeter über seinem eigenen schwebte.
»Ich habe dir ein Geschenk für heute Abend mitgebracht«, flüsterte der Zigeuner und lockerte seinen Griff ganz leicht, nur um ihn wieder fest zu schließen, als Henri versuchte, seinen Mund zu öffnen.
Was ist mit dir, du könntest mein Geschenk für heute Nacht sein … schoss es Henri durch den Kopf, seine Erregung durch das Gefühl von Gefahr nur noch verstärkt.
»Halte die Klappe, wenn du noch etwas Luft in deinen Lungen behalten willst, schau dir zuerst dein Geschenk an«, befahl der Zigeuner mit rauer Stimme.
Henri entdeckte Marinas Silhouette im Mondlicht nahe an seinem Bett. Langsam drehte sie sich zu ihm und begann sich zu entkleiden, lockte ihn mit jeder Bewegung und reizte ihn mit jedem Teil ihrer Kleidung, die sie langsam auszog. Sie gab ihrem Bruder ein Zeichen sich zurückzuziehen und er hörte ihre heisere Stimme dicht an seinem Ohr. »Es ist an der Zeit, unsere Ehe zu vollziehen und deinen Sohn zu zeugen«, flüsterte sie ihm ins Ohr, dann strich sie mit dem Ärmel ihrer offenen Bluse über seine nackte Brust.
Henris Müdigkeit war längst verflogen, und die Fremdartigkeit der Situation ließ ihn vor Erregung zittern. Der Triumph und das Hochgefühl nach seinem erfolgreichen Mord, die seltsame Konstellation, die exotische Schönheit Marinas und – das musste er sich eingestehen – das Wissen, dass ihr attraktiver Bruder vermutlich ihr Liebesspiel beobachtete, wirkten wie ein Katalysator.
»Hast du mir nicht gesagt, dass du bereits schwanger seist?«, flüsterte er zurück. »Aber ich habe nichts dagegen, es noch einmal zu versuchen.«
Marina lachte leise und triumphierend, sein Nachthemd flog achtlos auf den Boden und Henri fand sich nackt auf dem Bett liegend wieder.
Henri streckte sich genüsslich, wissend, dass Marina und vielleicht auch ihr Bruder seine Erregung sehen konnten. Er zog Marina an sich und unermüdlich trieb er sie an den Rand des Wahnsinns, während er ihr Stöhnen und Schreien mit seiner Faust unterdrückte. Im Vorzimmer wartete sein Kammerdiener und das geheime Liebesspiel musste in absoluter Stille stattfinden. Aber dieses Wissen steigerte nur den Nervenkitzel und gab dem Ganzen eine zusätzliche Würze.
Als sie endlich fertig waren, lag sie in seinen Armen, schlaff und erschöpft, ihr dunkles Haar kitzelte seine Brust. Plötzlich tauchte ihr Bruder aus dem dunklen Schatten auf und machte ihr leise Zeichen, dass sie gehen mussten. Sein Gesicht machte deutlich, dass er verärgert war.
»Wir kommen wieder«, flüsterte Marina Henri zu, »und du kannst wählen, ob es wieder um Liebe geht – oder um Krieg.« Die beiden verließen den Raum durch das Fenster, wie sie ihn betreten hatten; Gott allein wusste, wie sie es geschafft hatten, unbemerkt die steilen Schlossmauern hinaufzuklettern.
Henri streckte sich wie ein zufriedener Kater in seinem Bett. Was für ein perfektes Ende für einen wunderbaren Tag, dachte er träge. Vielleicht dachte Marina, dass sie ihn nach ihrer Pfeife tanzen lassen, ihn zu einem Sklaven ihrer wilden Schönheit machen könnte. Aber wie so viele seiner früheren Liebhaberinnen würde auch sie auf die harte Tour lernen müssen, dass für Henri de Beauvoir Gehirn und Körper zwei völlig verschiedene Angelegenheiten waren und er niemals zulassen würde, dass sein Gehirn von den Launen oder Wünschen seines Körpers beherrscht wurde.
Henri konnte sich an keinen Liebhaber erinnern – weder männlich noch weiblich – der ihn nicht nach kurzer Zeit gelangweilt hatte. Er würde sie dazu bringen, nach seiner Pfeife zu tanzen, schwor sich Henri, bevor ein tiefer Schlummer ihn forttrug. Aber in der Zwischenzeit würde er genießen, was sie zu bieten hatte.