Читать книгу Das Geheimnis von Montrésor - Michael Stolle - Страница 8

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Montrésor

Der Himmel von Paris hing voller grauer Wolken, ein leichter Nieselregen ging nieder und verwandelte die Pflastersteine im Innenhof in eine gefährliche Rutschbahn. Es war ein deprimierender Tag, der Pierres bedrückte Stimmung perfekt widerspiegelte.

»Hör auf, Trübsal zu blasen!«, rief Armand seinem Freund zu, als er den Innenhof betrat. »Wir fahren nach Montrésor, um etwas Spaß zu haben, nicht um an einer Beerdigung teilzunehmen. Wo bleibt dein Sinn für Abenteuer?«

Pierre versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, aber es wirkte nicht besonders überzeugend.

Wie von Armands Vater vorgeschlagen, wollten sie zuerst an die Loire reisen und ein paar Wochen auf Pierres Schloss Montrésor verbringen, um dort nach dem Rechten zu schauen.

Pierre hatte bis zur letzten Minute gehofft, dass er Neuigkeiten von Marie erhalten würde. Wie gerne hätte er seine Pläne geändert, um Marie in Reims zu treffen. Aber obwohl sie ihm immer wieder in ihren Briefen beteuerte, wie sehr sie ihn liebte, traf keine Einladung von ihren Eltern ein. Jean litt mit seinem Herrn, wenn er zusehen musste, wie sein Herr die Briefe eifrig aufriss – nur um dann niedergeschlagen zu sein, nachdem er den Inhalt gelesen hatte.

So gab es denn keine Ausrede mehr, um die Abreise zu verzögern, und am frühen Morgen verließ die bunte Kavalkade aus Dienern, Lakaien, bewaffneten Musketieren und mehreren Kutschen den Hof des Palais de Beauvoir.

Pierres Stimmung hellte sich auf, sobald sie die Tore von Paris verlassen hatten und sich gen Süden aufmachten. Die Sonne war inzwischen herausgekommen und hatte nicht nur die Wolken am Himmel, sondern auch die vertrieben, die auf seiner Seele lasteten. Pierre entdeckte nun zum ersten Mal die liebliche Landschaft, die sich zwischen Paris und der Loire erstreckte, die im Volksmund der 'Garten Frankreichs' genannte wurde.

Gerne kehrten sie unterwegs in einem der zahlreichen Gasthäuser ein, wo sie von wohlbeleibten Gastwirten sofort auf das Unterwürfigste begrüßt wurden. Die beiden Freunde ließen sich mit köstlichem Essen verwöhnen, begleitet von den besten Weinen der Region.

Schließlich erreichten sie im Licht der untergehenden Sonne das markgräfliche Schloss Montrésor. Auf einem steilen Hügel, hoch oberhalb des Dorfes gelegen, hatte es den Dorfbewohnern seit Jahrhunderten Schutz und Zuflucht geboten. Die dunklen Zeiten der Kriege waren lange vorbei und Montrésor war im Laufe der Jahrhunderte immer wieder vergrößert und verschönert worden. Aber das Schloss saß immer noch hoch über dem Dorf wie eine stolze Glucke, die ihre Küken beschützt.

Im sanften Licht des Sonnenuntergangs leuchtete das Schloss wie eine Vision aus einem Märchen. Die verspielten Türme spiegelten sich in dem verwunschenen See, der einst der Schlossgraben gewesen war, und die Strahlen der untergehenden Sonne badeten das Schloss in warmen Farben. Eine Gruppe von Schwänen schwebte majestätisch über den See, das weißes Gefieder glänzte im Farbenspiel der Abendsonne.

Pierre saß still auf seinem Pferd und genoss den Anblick, aber sein Freund war nicht in romantischer Stimmung: »Ein nettes kleines Schloss, was du dein Eigen nennen darfst. Ich hoffe nur, dass die weibliche Dienerschaft mit der Schönheit des Gebäudes mithalten kann.«

Pierre musste lachen, Armand blieb Armand.

Ihre Ankunft war vorab angekündigt worden und eine ganze Armee von Dienern stand stramm, als ihre Kavalkade vorfuhr. Pierre betrat die hohe Eingangshalle mit dem imposanten Kamin und wurde ehrfurchtsvoll von seiner Dienerschaft begrüßt, nach Rang aufgereiht, die Gesichter voller Neugier und nervöser Erwartung.

Armands Vater hatte ihm eingeschärft, den Verwalter besonders kritisch unter die Lupe zu nehmen und Pierre studierte sein Gesicht, um ein Anzeichen von Nervosität zu erkennen. Doch der Verwalter sah ihn mit einem offenen Lächeln an, so als würde er sich aufrichtig freuen, seinen neuen Herrn begrüßen zu dürfen.

Pierre schätzte sein Alter auf circa vierzig Jahre. Er war von schlanker Statur, agil und trug seine langen, aber doch recht spärlichen Locken mit einem dunklen Band zusammengebunden. Die Kleidung des Verwalters war adrett und bescheiden, er war die perfekte Verkörperung eines langjährigen, treuen Dieners. Seine braunen Augen blinzelten etwas unbestimmt, offensichtlich brauchte er eine Brille.

Der Marquis de Saint Paul hatte Pierre mehrmals ermahnt, die Finanzen gründlich zu überprüfen, da durchaus zu erwarten war, dass nach so vielen Jahren der Vernachlässigung Gelder abgezweigt waren. Als Pierre das lächelnde Gesicht seines Verwalters sah, fühlte er sich erleichtert – wahrscheinlich war der Marquis doch zu misstrauisch gewesen. Er lächelte den Mann herzlich an und sagte: »Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, Sie kennenzulernen. Ich muss gestehen, dass ich in der Kunst der Verwaltung noch recht unerfahren bin und hoffe, dass Sie mir in den kommenden Wochen viel beibringen werden!«

Der Mann verbeugte sich tief und antwortete beflissen: »Es wird mir ein Vergnügen sein, Monsieur le Marquis in alle Aspekte dieses Anwesens einzuführen, so wie es mir eine Freude war, der Familie seit Jahrzehnten zu dienen. Monsieur kann sicher sein, dass seine Angelegenheiten in allerbester Ordnung sind.«

Pierre nickte und drehte seinen Kopf zu Armand, um zu sehen, ob sein Freund diesem Wortwechsel gefolgt war, doch er bemerkte, dass sein Freund – wie üblich – andere Prioritäten im Kopf hatte. Armand hatte das weibliche Personal aufmerksam gemustert und zu seiner großen Freude mehrere vielversprechende Kandidatinnen entdeckt. Offensichtlich wurde sein Interesse erwidert, da die Zofen an ihrer Kleidung herumnestelten und ihre Lippen befeuchteten.

Armand erwiderte die einladenden Blicke mit einem herausfordernden Zwinkern. Pierre konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen – es war so typisch für seinen Freund.

Pierre war sich jedoch nicht bewusst, dass sein Lächeln nun genau den gleichen Effekt auf seine weibliche Dienerschaft hatte. An diesem Abend gab es angeregte Diskussionen in den Quartieren der Dienerschaft, um zu entscheiden, wer attraktiver war: der schneidige junge Graf mit dem abenteuerlichen Funkeln in den Augen oder der neue gut aussehende Schlossherr.

»Ich könnte mir vorstellen, es mit beiden zu versuchen«, gestand ein Zimmermädchen ihrer besten Freundin und schloss gerade noch rechtzeitig den Mund, als die gestrenge Haushälterin die Küche betrat.

Sie war eine farblose Frau, eine magere, verschrumpelte Erscheinung, die den Haushalt mit eiserner Hand regierte. Sie war unter dem Vorwand in die Küche gekommen, die morgige Planung zu besprechen, hoffte aber insgeheim, mit der Köchin über die Neuankömmlinge tratschen zu können. Sie winkte die Zimmermädchen weg wie lästige Fliegen und die beiden flohen sofort; die Haushälterin war bekannt dafür, eine scharfzüngige Frau zu sein, die nicht lange fackelte.

Abends saßen Armand und Pierre am offenen Kaminfeuer. Obwohl die Tage sehr warm, fast heiß geworden waren, war das Schloss innen so kalt wie ein Grab und ein behagliches Feuer war angezündet worden. Armand beschrieb enthusiastisch eines der Zimmermädchen. »Sie hat wunderbare Augen, hast du das bemerkt? Und ihre Figur ist erstklassig, ein bisschen klein vielleicht, aber alles da, was man sich nur wünschen kann.«

»Unglaublich! Spricht hier derselbe Mann mit mir, der verliebt in Paris saß und ständig das Wort 'Julia' wiederholte?«, antwortete Pierre und ahmte Armands Seufzer nach, während er Julias Namen aussprach. »Was willst du eigentlich?«

Armand sah Pierre an, als käme er von einem anderen Planeten. »Natürlich weiß ich das. Es ist ganz einfach: Ich liebe und verehre Julia, aber muss ich jetzt wie ein Mönch leben, solange ich nicht einmal weiß, ob und wann ich sie wiedersehen werde? Wach auf, Pierre, wir sind nicht einmal achtzehn Jahre alt, warum sollen wir keusch wie Mönche leben, wenn wir nicht verheiratet, ja nicht einmal verlobt sind? Ich will das Leben genießen – ich habe genug Zeit in einem stickigen Kloster verplempert – und ich kann dir nur empfehlen, das Gleiche zu tun!«

Pierre schwieg, aber der Keim des Zweifels war gelegt, schließlich waren sie wirklich noch sehr jung … und er musste zugeben, dass das Zimmermädchen äußerst attraktiv war. Pierre beschloss, dass es an der Zeit war, diesen gefährlichen Gedankengang zu beenden, Armands Bemerkungen wurden höchst gefährlich. Pierre verschwand schnell in sein Zimmer und Jean wunderte sich, warum sein sonst so umgänglicher Herr heute Abend recht launisch und unruhig war.

Am nächsten Morgen traf Pierre seinen Freund zum Frühstück wieder und es brauchte nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass sein Freund eine sehr angenehme Nacht verbracht haben musste. Armand saß auf seinem Stuhl, die Beine lässig von sich gestreckt und schnurrte wie ein zufriedener Kater. Er trank eine große Tasse Milch, einige Tropfen der Milch blieben wie weiße Perlen auf seinem dunklen Schnurrbart hängen und vervollkommneten das Bild eines großen, zufriedenen Katers.

»Ich muss wohl nicht fragen, ob du gut geschlafen hast?«, grummelte Pierre.

»Nicht wirklich«, antwortete Armand, wobei seine Antwort etwas undeutlich war, da er sich gleichzeitig mit einem Stück Brioche bediente. »Aber wenn du möchtest, kann ich dir ein paar pikante Details erzählen«, bot er großzügig an.

Pierre warf ihm einen giftigen Blick zu, lehnte dieses großmütige Angebot aber dankend ab.

***

Regelmäßig ritten sie aus, denn Pierre wollte sein Anwesen kennenlernen. So auch heute. Sie passierten Dörfer und Weiler, saftige Wiesen, die im Schmuck des Frühsommers erblüht waren, überquerten Hügel und kleine Bäche mit klarem, sprudelndem Wasser, bis sie eine Pause einlegten, um im Schatten einer uralten Eiche ein Picknick zu machen.

Armand bemerkte, dass Pierre nicht zum ersten Male, von Zeit zu Zeit ein paar Zahlen auf ein zerknittertes Blatt Papier kritzelte. Seine Neugierde war geweckt und er beschloss, Pierre später zu fragen, was es damit auf sich hatte, was er dann aber wieder vergaß.

Die nächsten Tage vergingen mit der gleichen Routine von täglichen Ausritten, nur dass Pierre sich jeden Morgen seufzend mit seinem Verwalter zurückzog, um die dicken Rechnungsbücher durchzugehen. Er dankte innerlich seinem Cousin Charles, der ihn in Hertford in die Geheimnisse der Verwaltung und Buchhaltung eingewiesen hatte. Pierre täuschte aber weiterhin völlige Unerfahrenheit vor und ließ lieber seinen Verwalter reden – er musste aber zugeben, dass alle Unterlagen, die ihm vorgelegt wurden, adrett und makellos aussahen.

Nach einer Woche dieser ermüdenden Routine dachte Pierre, dass sein Kopf explodieren würde. Sein Verwalter hatte ihn mit Fakten und endlosen Listen bombardiert und Pierre fühlte sich, als wäre er zurück in die Klosterschule versetzt worden.

Sein Verwalter bot an, Pierre und Armand zu einem der Dörfer in der Nähe von Montrésor zu begleiten und dort Treffen mit seinen Pächtern zu arrangieren, aber Pierre antwortete erschöpft: »Ich denke, ich habe in den letzten Tagen genug gesehen und gelernt. Ich gönne Ihnen heute einen freien Tag. Ich möchte lieber einen Ausflug zum Fluss unternehmen, nur mit meinem Freund.«

Der Verwalter verbeugte sich ehrfürchtig und war insgeheim mehr als erleichtert, dass sein neuer Herr endlich dieser Übung überdrüssig wurde. Sie trennten sich also im besten Einvernehmen.

Schon bald verließen Pierre und Armand, nur begleitet von ihren Burschen, Montrésor und ritten hinunter ins Tal der Loire. Sie freuten sich auf einen unbeschwerten, freien Tag. Sie waren schon einige Zeit geritten, als sie eine ruhige Flussbiegung erreichten, die zum Baden einlud.

Das Wasser glitzerte einladend in der Sonne und die tief hängenden Äste mit dem zarten Grün der Weidenbäume boten angenehmen Schatten für ein Picknick. Die heiße Sonne hatte unerbittlich auf sie herabgebrannt und Armand hatte nur noch einen Wunsch: sich die verschwitzen Kleider vom Leib zu reißen und sich in das kühle Nass zu stürzen.

Nichts in der Welt konnte ihre Knechte jedoch dazu bringen, sich ihnen anzuschließen. Heimlich machten sie das Zeichen des Kreuzes, um das Böse abzuwehren – denn nur diejenigen, die verrückt oder vom Teufel besessen waren, würden in diesem kalten Wasser baden!

Aber Pierre und Armand genossen das wunderbare Gefühl des kühlen Nasses, das ihre Körper umspülte. Wie glückliche Kinder planschten sie am Ende und jagten sich gegenseitig durch den Fluss. Die Knechte tauschten wissende Blicken aus: Ihre Herrschaft war ganz bestimmt verrückt geworden.

»Das war einfach schön, auch wenn uns die Knechte für verrückt erklären.« Armand seufzte zufrieden und rekelte sich in der warmen Sonne, »aber was ist mit dir Pierre? Du siehst besorgt aus. Was hast du auf dem Herzen?«

Pierre war fasziniert. Er wunderte sich immer wieder darüber, wie sein Freund so oberflächlich erscheinen konnte und doch die ganze Zeit genau zu wissen schien, was er dachte. Ohne ihm direkt zu antworten, kramte Pierre in der Tasche seiner Reithose, die neben ihm lag. Er holte das zerknitterte Blatt Papier hervor und las laut vor: »Neun Höfe im Vergleich zu zwölf, sieben zu acht Höfen …«

Armand schaute seinen Freund an, als wäre er verrückt geworden.

Pierre lachte kurz auf, aber es war kein fröhliches Lachen.

»Ich kann dir versichern, mein Freund, dass ich noch alle Tassen im Schrank habe. Ich habe angefangen, mir die Anzahl der Bauernhöfe zu notieren, die wir jeden Tag zusammen besucht haben. Dann verglich ich diese Zahlen mit den Einnahmen und Zahlen, die ich in den offiziellen Unterlagen fand. Nichts stimmt überein. Entweder ist die Zahl der Pächter zu niedrig – oder in manchen Fällen stimmt die Zahl der Höfe, aber ihr Ertrag ist nur halb so hoch wie der in Hertford – und dabei hat diese Region hier ein noch besseres Klima und einen besseren Boden.« Er hielt inne und sah Armand an.

»Mein ach so nett lächelnder Verwalter ist also der größte Schurke, den man sich vorstellen kann. Er betrügt mich seit Jahren. Nun, was schlägst du vor, wie soll ich mit ihm umgehen?«

Armand schaute ihn voller Respekt an. »Du bist doch ein schlaues Kerlchen, wer hätte das gedacht, bei deinem Babygesicht und deinen unschuldigen blauen Augen!«

Dann wurde er ernst und runzelte die Brauen. »Ich fürchte, Pierre, du hast keine echte Wahl. Wenn du Milde walten lässt, werden sie dich verachten und in kürzester Zeit alle bestehlen. Du bist verpflichtet, streng zu sein, ihn öffentlich und nach dem Gesetz zu bestrafen, damit dein Anwesen nicht im Chaos versinkt und du als Herr anerkannt wirst.«

Pierre war blass geworden. »Ich wusste, dass du so antworten würdest, und ich weiß auch, dass ich keine andere Wahl habe. Aber was sieht das Gesetz in so einem Fall vor – ich habe wirklich keine Erfahrung?«

»Um Himmels willen, Pierre, ich bin auch kein Jurist, das sind diese schrecklichen Bücherwürmer mit dicken Brillen … aber nachdem, was mein Vater mir erzählt hat, wird dein Verwalter vermutlich zum Tod durch den Strang verurteilt werden. Da es sich um eine große Sache handelt, wird er keine Chance haben, deportiert oder auf die Galeeren geschickt zu werden. Du bist ein Marquis von Frankreich und die Richter werden das Gesetz daher ohne Gnade anwenden, vermutlich darfst du sogar selbst richten.«

Pierre sah ausgesprochen unglücklich aus, und sein Gesicht hatte eine leicht grünliche Färbung angenommen. »Muss er gefoltert werden?«, fragte er mit unsicherer Stimme.

Armand zuckte nur mit den Schultern, ging aber nicht weiter darauf ein. Aber, auch ohne weitere Worte war Pierre klar, dass er keine andere Möglichkeit hatte, als weiterzumachen – egal, was mit dem Verwalter passieren würde.

Sie ritten schweigend zurück und die Stallknechte waren erstaunt, dass die beiden jungen Männer, die gerade noch wie glückliche Kinder im Wasser gespielt und geplanscht hatten, plötzlich so ernüchtert wirkten – aber wer konnte schon verstehen, was in den Köpfen der Herrschaft vor sich ging?

Pierre verbrachte eine schreckliche Nacht, albtraumhafte Szenen vergangener Hinrichtungen, die er als Junge in Reims miterlebt hatte, verfolgten ihn bis in seine Träume. Er beschloss, dass er dieses Kapitel so schnell wie möglich beenden musste, so konnte es nicht weitergehen und er konnte sich nicht weiter verstellen.

Armand wählte sorgfältig vier der treuesten Musketiere seines Vaters aus und ließ sie in Pierres Arbeitszimmer warten. Jean wurde geschickt, den Verwalter zu suchen und ihm mitzuteilen, dass Monsieur le Marquis seine sofortige Anwesenheit verlangte.

Nur Minuten später eilte der Verwalter atemlos in den Raum, wie üblich mit einem Stoß sperriger Akten unter dem Arm. Pierre saß in seinem Sessel, das Gesicht blass und ernst. Der Verwalter sah die bewaffneten Soldaten und instinktiv wandte er sein Gesicht zur Tür.

Aber Jean blockierte den Ausgang mit seinem muskulösen Körper. Jean war nicht überrascht, dass es offensichtlich Probleme mit dem Verwalter gab. Das Anwesen war schon seit vielen Jahren verwahrlost gewesen. Dies war sicher von vielen als offene Einladung zum Stehlen angesehen worden: Eine offene Tür kann einen Heiligen in Versuchung führen, wie das Sprichwort in England besagt.

Zitternd sah der Verwalter Pierre an, der nun zu ihm sprach. Mit leiser, beherrschter Stimme nannte Pierre Zahlen, Dörfer, Namen, Ernteerträge – es klang alles wie trockene Buchhaltung, aber die Bedeutung wurde schnell klar. Das Spiel war aus! Dieser Jüngling mit dem unschuldigen Engelsgesicht hatte seine geschickten Unterschlagungen in nur vierzehn Tagen aufgedeckt.

Die Gedanken des Verwalters schweiften kurz in die Vergangenheit. Weder der habgierige Onkel, noch dessen Sohn, der arrogante Henri de Beauvoir, hatten sich jemals für die Bücher interessiert. Geblendet von ihrem hohen Rang hatten sie ein Gähnen unterdrückt, bis die Gier in ihre Augen trat, wenn sie endlich so viele goldene Münzen zusammenraffen konnten, wie sie nur in seinen Truhen finden konnten.

Dieser unbedarfte Jüngling hatte nicht nur alle wichtigen Zahlen behalten, sondern sich auch die Mühe gemacht, sie zu überprüfen. Der junge Marquis musste also wissen, dass im Laufe der letzten Jahre Tausende von goldenen Livres ihren Weg in seine Taschen gefunden hatten.

Die Gedanken des Verwalters jagten sich: Sollte er gestehen, auf die Knie fallen oder – besser – seine Unschuld beteuern -oder seinen jungen Herrn um Gnade bitten?

Doch ein Blick in diese blauen Augen, die ihn mit einem Male kalt wie Stahl und voller Verachtung anschauten, – sagte dem Verwalter, dass er sich die Mühe sparen konnte. Das Urteil war gefällt worden und Pierre de Beauvoir hatte beschlossen, es zu vollstrecken – und das Urteil lautete schuldig.

Die Musketiere ergriffen ihn und bogen grob und schmerzhaft seine Arme nach hinten. Sekunden später war er gefesselt und das Seil schnitt tief in sein Fleisch. Der Verwalter zuckte vor Schmerz zusammen.

Die vier Musketiere stellten sich auf und nahmen den Gefangenen in ihre Mitte. Sie marschierten aus dem Zimmer und die genagelten Stiefel hallten durch die große Halle, in der sich die anderen Bediensteten bereits versammelt hatten.

Mit offenen Mündern starrten die Diener auf den Verwalter, den Mann, der bis vor Kurzem noch ihr Vorgesetzter gewesen war. Jetzt war er ein Ausgestoßener. Als der Verwalter an einem der Stallknechte vorbeigeführt wurde, sah er, wie der junge Mann voller Verachtung auf den Boden spuckte.

Es ging weiter zu dem Turm, der das Gefängnis des Schlosses beherbergte. Instinktiv scheute der Gefangene, doch die schwere Eichentür mit ihren eisernen Beschlägen öffnete sich erbarmungslos unter lautem Quietschen und schon wurde er hineingezerrt, dann die enge, rutschige Treppe hinuntergestoßen, bis sie den unterirdischen Kerker erreicht hatten.

Er musste sich fast übergeben, als er die eigentümlichen Gerüche dieses furchterregenden Ortes einatmete. Es war eine beängstigende Mischung aus feuchtkalter, abgestandener Luft, Schimmel, verrottetem Stroh. Dazu kam der schwache, aber prägnante Geruch von getrocknetem Blut, Urin und Exkrementen, es war der Geruch der Angst.

Sein nervöser Blick durchstreifte den niedrigen Raum, in dem er jetzt stand. Es war ein Ort, der ihm vertraut war, aber es war einige Monate her, dass er seinen Fuß an diesen Ort gesetzt hatte.

Wann war er zuletzt in dieses Vorzimmer des Hades hinabgestiegen? Wie ein Blitz kamen die Erinnerungen zurück. Es war das Verhör eines Pächters gewesen, der versucht hatte, einen Teil seiner mageren Ernte zu verstecken. Die längst vergessenen Schreie des Mannes füllten plötzlich seine Ohren, er selbst hatte damals befohlen, die Daumenschrauben anzusetzen.

Der Verwalter kannte nur zu gut die Folterinstrumente, die säuberlich an der Wand hingen, allein der Gedanke daran ließ seinen Magen umdrehen und sein Blut gefrieren. Aber zu seinem Glück wurde ihm die Folterbank erspart und er wurde ohne zu zögern in eine der dunklen Gefängniszellen geworfen. Dort wurde er an die Wand aus roh behauenen Steinen gekettet, schwere Klammern aus geschmiedeten Eisen umschlossen schmerzhaft seine Gelenke. Er spürte einen letzten verachtungsvollen Tritt eines Stiefels, dann wurde die Gefängnistür geräuschvoll hinter ihm geschlossen und er saß allein in seiner dunklen Zelle. Das laute Geräusch der genagelten Stiefel hallte wie ein Echo durch die Gewölbe, als die Musketiere den Kerker verließen.

Der Verwalter zitterte. Nicht nur war es kalt wie im Grab in der Gefängniszelle, er zitterte auch vor Angst. Angewidert von dem Geruch, der von dem fauligen Stroh ausging, beschloss er, aufrecht stehen zu bleiben und sich lieber an die Wand zu lehnen. Doch bald forderten die Kälte und die Müdigkeit ihren Tribut und seine Beine gaben nach.

Die bleierne Stille wurde nur durch das Geräusch seines eigenen Atmens unterbrochen, das unnatürlich laut in der Grabesstille klang, bis plötzlich das leise Geräusch von kratzenden Pfötchen neue Schauer des Schreckens über seinen Rücken jagte. Schon sah er Augen in der Dunkelheit glühen, zwei, vier, es wurden mehr. Verzweifelt rüttelte er an seinen rostigen Ketten, um die Ratten zu verjagen und wie erwartet, huschten sie zurück in die Dunkelheit. Aber der Gefangene wusste – wie auch sie es wissen würden – früher oder später würde er ihnen gehören; es war nur eine Frage der Zeit.

Jetzt konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er war nun in der Hölle – und diese Nacht war nur der Anfang.

***

Inzwischen verbreiteten sich die Neuigkeiten in Windeseile im Schloss und im Dorf, mit dem Ergebnis, dass immer mehr Dorf und Schlossbewohner es wagten, sich mit allen möglichen Geschichten und Beschwerden zu melden – der Damm des Schweigens und stillen Leidens war gebrochen. Die Gehilfen des betrügerischen Verwalters bettelten derweil unter Tränen um Gnade und boten ihre Hilfe bei der Enthüllung von weiteren Unterschlagungen an.

Pierre war angewidert von ihrer Heuchelei und in seiner ersten Wut wollte er auch sie in den Kerker werfen lassen, aber sein Freund mahnte ihn:

»Ich verstehe ja, dass du sauer und enttäuscht bist. Aber das Schloss wurde jahrelang vernachlässigt, also haben sie ihre Fahne nach dem Wind gedreht. Lass sie etwas schmoren und gib ihnen die Gelegenheit zu gestehen und zu bereuen, du wirst sehen, das wird helfen, noch viel mehr aufzudecken.«

Und Armand hatte recht, mit erstaunlicher Geschwindigkeit kamen immer neue Betrügereien ans Licht, genauso wie Armand es vorausgesagt hatte.

Die Gehilfen versicherten unter Tränen, dass sie – abgesehen von etwas Wein oder Bier, vielleicht auch etwas Getreide, nie etwas abbekommen hatten. Bald stellte sich heraus, dass nicht nur eine schwindelerregende Menge von Geld, sondern auch alle Arten von Erzeugnissen, die seine Ländereien produzierten, ihren Weg in die bodenlosen Taschen seines ehemaligen Verwalters gefunden hatten.

»Armand, das ist unglaublich. Er ist jedes Jahr gieriger geworden! In den letzten Jahren hat diese Heuschrecke auch noch die Steuern erhöht und meine Pächter regelrecht ausbluten lassen. Im letzten Winter sind ein paar meiner Pächter verhungert, ich bin fassungslos.«

Das Abendessen mit Armand war daher eine ungewöhnlich schweigsame Angelegenheit. Es konnte nicht mehr den geringsten Zweifel geben, wie das Urteil über den Gefangenen ausfallen würde.

Zwei Tage später, nach einer weiteren Nacht mit quälenden Träumen, wurde Pierre von lauten Schreien geweckt. Verärgert rieb Pierre seine müden Augen, als Jean aufgeregt in sein Zimmer stürzte. »Monsieur le Marquis, bitte entschuldigen Sie den Lärm, aber es ist etwas Schreckliches passiert. Der Gefangene ist geflohen!«

»Aber ich habe doch angeordnet, dass er Tag und Nacht bewacht wird!«, rief Pierre und rang um Fassung. Er sprang aus dem Bett und zog sich an. In der Zwischenzeit war auch Armand von Jean geweckt worden und sofort eilten beide Freunde hinunter in den Kerker, um mit eigenen Augen zu sehen, was geschehen war.

Dort erwartete sie eine gespenstische Szene. Im flackernden Licht ihrer Fackeln erblickten sie die einsame Gestalt eines jungen Wächters. Er saß leblos auf seinem Stuhl, Rumpf und die Arme auf dem rauen Holztisch ausgestreckt, ein Becher mit verschüttetem Bier lag auf dem Boden.

Die Flammen der Fackeln flackerten unruhig im Luftzug und ihr tanzendes Licht schien den toten Körper zu erwecken, so als würde er zu ihnen sprechen wollen. Der junge Musketier, der die Fackel hielt, machte schnell ein Zeichen hinter seinem Rücken, um das Böse abzuwehren – Armand war versucht, dasselbe zu tun.

»Hat er gerade gezuckt?«, fragte Armand nervös.

Aber der Wächter war tot und bewegte sich nicht mehr. Seine erste Scheu überwindend, bückte sich Armand und schnappte sich den leeren Becher. Er schnupperte am Rest des Bieres.

»Da, riech mal«, sagte er zu seinem Freund.

»Kräuter«, Pierre roch an dem Becher und schaute seinen Freund nachdenklich an. »Ja eindeutig, er wurde vergiftet.«

Sie setzten die Suche fort und inspizierten die Gefängniszelle, wo die Ketten noch an der Wand baumelten, nichts deutete darauf hin, dass hier in der letzten Nacht noch ein Gefangener angekettet gewesen war.

Pierre schaute sich um, aber nirgendwo gab es Spuren eines Einbruchs oder von Gewalt. Der Gefangene war befreit worden, und zwar von einer Person, die im Besitz der passenden Schlüssel gewesen war.

»Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte Armand.

»Wir haben einen Verräter unter uns«, sagte Pierre und sprach das Offensichtliche aus. Er hatte Mühe, seinen Schock zu verdauen.

»Und … er hat nicht gezögert zu töten; sieh dir den armen Burschen an – er hat für ein Bier mit seinem Leben bezahlt …«

»Was auch bedeutet, dass er seinen Mörder gekannt und ihm vertraut haben muss.« Fügte Armand hinzu und trat an die tote Wache, um das verzerrte Gesicht mit einem Taschentuch zu bedecken.

»Ich bin doch etwas sprachlos, dein Vater hatte zwar erwähnt, dass ich mit vielen Problemen rechnen muss, aber vermutlich verbot ihm sein Feingefühl, zu erwähnen, dass auch Mord dazu gehören würde«, kommentierte Pierre sarkastisch.

Armand schnitt eine Grimasse. Was für ein schrecklicher Start in den Tag.

***

Einmal mehr war Pierre erstaunt, wie schnell sich Klatsch und Tratsch verbreiten konnten. Als sie zurück in die Halle kamen, hatten die Diener bereits von der Flucht des Verwalters und dem Mord an der Wache gehört. Er sah, wie einige der Dienstmädchen leise schluchzten, denn der junge Gefängniswärter hatte im Schloss gelebt und war allgemein sehr beliebt gewesen.

»Eine so liebe Seele«, schluchzte die Köchin, »immer gut gelaunt und voller Scherze – und wie gerne er meine Apfelpfannkuchen aß, er konnte nie genug bekommen …« Der Rest des Satzes ging in einer Flut von Tränen unter und Pierre zog sich hastig in sein Arbeitszimmer zurück, um mit Armand die nächsten Schritte zu besprechen.

Er fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen. Bis heute waren die Bewohner des Schlosses wie eine große Familie gewesen, aber der Verwalter hatte im Laufe der Jahre natürlich dafür gesorgt, dass viele seiner eigenen Verwandten im Schloss Arbeit finden konnten.

Als Pierre und Armand die Halle durchquerten, konnten sie bereits spüren, wie sich die Atmosphäre verändert hatte: Feindseligkeiten, stumme Vorwürfe und Spitzen wurden ausgetauscht. Kleine Gruppen von Bediensteten standen zusammen und beäugten die anderen mit Argwohn – bald würde das Zusammenleben unerträglich werden.

»Wie kann ich herausfinden, wer schuldig ist und wer nicht?«, murmelte Pierre, als sie allein im Arbeitszimmer waren, das immer noch mit den Stapeln von Rechnungsbüchern und Dokumenten überfüllt war.

»Lass die Gehilfen des Verwalters foltern«, schlug Armand ohne große Begeisterung vor.

»Das könnte ich einfach nicht.« Pierre sah seinen Freund an, als ob er verrückt geworden wäre. »Und ich bezweifle, dass sie die Wahrheit sagen würden. Ich bin sicher, ich würde alles gestehen, was man von mir hören will, sobald ein glühender Schürhaken auch nur in meine Nähe kommt. Ich tauge nicht zum Helden.«

»Vermutlich niemand, wenn du es schon so bildhaft beschreibst«, stimmte Armand zu. »Ich sollte dich aber vielleicht doch warnen, als Angehörige des Hochadels wird von uns beiden eigentlich erwartet, dass wir kleine Unannehmlichkeiten wie Folter aushalten. Aber zurück zu deiner Frage: Du wirst die Familie und Verwandten des Verwalters ausweisen müssen, du hast keine andere Wahl. Wenn du sie hierbehältst, wird das Leben für uns alle zur Hölle.«

Pierre wollte gerade antworten, als Jean ohne anzuklopfen in den Raum stürmte. Er sah schrecklich aus: Seine Haut hatte einen grünlichen, fast wächsernen Farbton angenommen.

»Jean, was ist los?«, rief Pierre erstaunt, doch Armand eilte Jean bereits zu Hilfe, denn Jean fing an, heftig zu würgen. Armand begriff sofort, aber alles, was Armand finden konnte, war ein großer Krug mit Wasser, den er gerade noch vor Jean schieben konnte, als Jean sich auch schon erbrach.

»Es tut mir sehr leid, Monsieur«, stammelte Jean und atmete gierig frische Luft ein.

»Ich hoffe, das wird keine Gewohnheit, ansonsten bist du entschuldigt«, antwortet Armand unwirsch, aber ohne seinen üblichen Schneid. Er spürte, dass sich eine weitere Katastrophe anbahnte; eine andere Erklärung für ein solches Verhalten konnte es nicht geben.

Jean gelang es mit Mühe, seine Fassung wiederzuerlangen. Dankbar trank er den Becher mit Wein, den Pierre ihm schnell reichte.

»Es ist einfach schrecklich, Monsieur le Marquis! Eines der Stubenmädchen war seit gestern Abend verschwunden. Sie haben sich nicht getraut, es uns zu sagen, weil sie dafür bekannt war, das Schloss heimlich zu verlassen und ihren Verlobten im Dorf zu treffen – zumindest nannte sie ihn so. Da sie immer pünktlich zum Dienst erschien und ein ausgezeichnetes Dienstmädchen war, drückte die Haushälterin ein Auge zu. Wir haben sie gefunden, aber ich bin mir nicht sicher, ob Monsieur sich das ansehen will. Es ist einfach grauenhaft.«

Pierre machte sich auf das Schlimmste gefasst; aber war es nicht seine Pflicht als Schlossherr, selbst nachzusehen?

Schweigend liefen sie die Treppe hinunter und verließen das Schloss, überquerten den gepflasterten Hof und gingen zu den Ställen, in denen es ungewöhnlich still war. Pierre hörte das schwache Schnauben der Pferde, aber es wurde von verzweifeltem Schluchzen und Wehklagen einer Frau übertönt, die immer wieder den Namen des toten Mädchens schluchzte.

»Ihre Mutter«, sagte Jean leise. »Sie hat ihre Tochter überall gesucht und sie dann endlich hier gefunden – ich glaube, sie wünscht sich, sie hätte es nicht getan.«

Mit sinkendem Herzen betrat Pierre die Ställe, auf das Schlimmste gefasst. Er brauchte etwas Zeit, um seine Augen an das schummrige Licht zu gewöhnen, denn die Fensterluken ließen nur spärliches Licht herein. Eine kleine Gruppe von seinen Dienern hatte sich unbeholfen um die weinende Mutter geschart und als ihr Herr sich näherte, wichen sie zurück und stellten sich respektvoll in der Nähe einer leeren Pferdebox auf.

Pierre war erstaunt, Zuversicht und Vertrauen in den Gesichtern zu entdecken – als ob sie überzeugt waren, dass seine bloße Anwesenheit ihre zerstörte Welt wieder in Ordnung bringen konnte.

Pierre und Armand betraten den leeren Stall und Jean zog die Mutter des Mädchens sanft weg. Sie gab nach und ließ sich von ihm wegführen, wobei sie ihr tränennasses Gesicht in seinem schützenden Arm vergrub und dort leise weiter schluchzte.

Pierre schluckte und zwang sich, die Leiche anzuschauen.

Der Mörder musste einen geradezu abartigen Sinn für Humor besitzen, denn er hatte das geblümte Sommerkleid des Mädchens ausgebreitet, als ob es nur darauf wartete, für einen Spaziergang angezogen zu werden. Auf diesem Kleid aber thronte der abgetrennte Kopf des Stubenmädchens, die Augen immer noch weit aufgerissen, so als sei sie vom Mörder überrascht worden. Al sei dies nicht genug, war auf dem Gesicht selbst mit geronnenem Blut ein breites Grinsen gemalt worden, die blutigen Haare wurden von einem Kranz Sommerblumen gekrönt.

Der Mörder hatte sich viel Mühe gegeben, sein Opfer zu verhöhnen, als ob die Tat an sich nicht schon schrecklich genug gewesen wäre. Der Anblick und dazu der Geruch des geronnenen Blutes waren einfach furchtbar. Pierre hörte ein würgendes Geräusch, aber dieses Mal war es Armand, der in die Ecke eilte und sich übergab.

Er hatte das Mädchen sofort erkannt – sie hatte vor Kurzem noch sein Bett geteilt.

***

Zwei Tage später hatte sich der Himmel in ein trauriges Grau gehüllt und Regen nieselte aus schweren Wolken herab. Alle Verwandten des Verwalters waren aufgefordert worden, sofort das Schloss zu verlassen. Sie hatten ihre wenigen Habseligkeiten bei sich, die meisten gingen zu Fuß, nur zwei Karren standen bereit. Sie alle waren sich bewusst, dass ihr neuer Schlossherr keine andere Wahl hatte – das Rad des Schicksals hatte sich gedreht und sie waren die Opfer.

Die Frauen schluchzten leise, zwei von ihnen waren schwanger, eine stand kurz vor der Entbindung. Pierre hatte jeder von ihnen eine Ziege geschenkt, um sie mit Milch zu versorgen und die hochschwangere Frau, war in die Knie gesunken und hatte dankbar seine Hand geküsst, während sie mit den Tränen kämpfte.

Pierre zog sich ins Schloss zurück und beobachtete vom Fenster seines Arbeitszimmers aus die armselige Gruppe, die sich langsam durch das Tor quälte. Einige der Dienstboten hatten sich neugierig versammelt, aber alle schwiegen betreten. Zu Pierres Überraschung schien niemand in der Stimmung zu sein, diejenigen zu verspotten, mit denen sie so viele Jahre unter einem Dach gelebt hatten.

War dies das Ende der Geschichte? Pierre seufzte. Leider schwante ihm nur zu gut, dass dieser Ärger noch lange nicht vorbei war.

Das Geheimnis von Montrésor

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