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Kapitel 3
ОглавлениеMitten in der Nacht bemerkte ich den Wind, der über die Zeltplanen strich. Das erste Mal seit Tagen kam Wind auf. Mit dem Gedanken an hohe Wellen, schlief ich voller Vorfreude wieder ein. Der folgende Morgen war wohltuend frisch, wenn man Temperaturen um 20° Grad für einen Morgen als erfrischend ansehen mochte. Ich packte meine Duschsachen zusammen, nahm eine belebende Dusche und war zurück am Zelt bevor einer der anderen seine Augen geöffnet hatte.
Also beschloss ich einkaufen zu gehen. Der kleine Supermarkt auf dem Platz war morgens immer zum Bersten voll. Wenn man nicht früh genug war, konnte schon mal das Brot ausverkauft sein. Deshalb war ich guter Dinge in Bezug auf unser morgendliches Frühstücksflute. Wie erwartet war es noch leer. Ich steckte 2 Flutes in die kleine Plastiktasche, die so typisch für die französischen Bäckereien war. Im Laden waren unerwarteter Weise nur ein paar Leute. Unter ihnen war einer der niederländischen Nachbarn mit einem kleinen Jungen. Ich warf ihnen ein freundlichen Gruß auf Niederländisch zu: „goedemoorgen“. Der Mann war überrascht und grüßte mit freundlichem Strahlen zurück.
„Hoe gaat het met je?“ fragte er. „Het gaat goet met mij“ antwortete ich unter Aufbringung aller meiner Niederländisch-Kenntnisse. „Ik kann noor en beetje nederlands spraaten“, entschuldigte ich mich. Der Holländer lächelte immer noch. „Hoe heet je?“
„Mij naam is Michael“, stellte ich mich vor. „Ik bin de Ruud“, sagte er. Wir zahlten flugs unsere Einkäufe. Ruud musste seinen Sohn von den Süßigkeiten wegziehen, nicht ohne ihm ein süßes Versprechen für den nächsten Tag geben zu müssen.
Unser Gespräch war unbemerkt belauscht worden. Der Neuankömmling vom Vortag hatte die Nacht am Strand verbracht und war nun auf der Suche nach einer Unterkunft und etwas zu essen. Er deckte sich mit etwas Essbarem ein und ging hinter den beiden Männern und dem Kind her. Ein Zelt besaß er nicht, deshalb war er darauf angewiesen, sich einen Platz für die nächste Nacht zu besorgen, wenn er nicht noch eine Nacht am Strand verbringen wollte.
Ruud, sein Sohn und ich schlenderten mit unseren Einkäufen zurück. Unter den Pinien, die das Morgenlicht lustig auf den Weg und die vielen Zelte sprenkelten, war es erträglicher, als in der jetzt schon prallen Sonne. Ein sorgenfreier Morgen. Wir scherzten noch eine Weile. Ruud versuchte auf Deutsch zu erzählen, wo er her kam, ich verbesserte gelegentlich seine Aussprache. Er sprach besser Deutsch als ich Holländisch. Dann wünschten wir uns noch einen guten Tag und jeder bog zu seinem Stellplatz ab.
Meine Freunde waren immer noch nicht wach, kein Laut drang aus den Zelten. Ich legte die Einkäufe leise auf dem Campingtisch ab und überlegte. Eine Runde über den Platz würde ich noch drehen, danach müssten sich die Langschläfer aus den Schlafsäcken pellen. Ich trat wieder zwischen unseren Zelten zurück auf den Weg und ging in die Richtung, aus der wir eben zu dritt gekommen waren. Ein Mann in meinem Alter, Mitte Dreißig oder vielleicht auch jünger, kam mir entgegen. Er trug einen Trekkingrucksack und sah aus, als sei er seit Tagen unterwegs, abgerissen, etwas dreckig. Er sprach mich an.
„Hallo“, sagte er in akzentfreiem Deutsch, „Habt ihr vielleicht einen Schlafplatz frei?“
„Nein“, erwiderte ich, „wir sind komplett belegt. Tut mir leid. Da müssen Sie weitersuchen.“
„Ok, ich bin nicht so schlimm, wie ich aussehe“, scherzte er ohne ein Lächeln in den Augen, „Dann werde ich mal weiter fragen. Ich wollte ja nur mal fragen.“
Er drehte sich um, ging wortlos weiter. Komischer Kerl, dachte ich und vergaß ihn auch direkt wieder. Mein Weg führte mich zum Strand, wo die Rettungsschwimmer auch ihren Tag begannen. Einige standen auf der Veranda des Gebäudes und hielten eine Teambesprechung ab. Ein anderer holte gerade ein sechsrädriges Strandfahrzeug aus der kleinen Garage und kam den Weg vom Strand hoch gefahren. Sand flog gegen meine Beine als er an mir vorbeifuhr. Cool sah der junge Kerl aus, wie er auf dem Gefährt den Weg hinaufbrauste. Ein Hauch von Bay Watch am französischen Atlantik.
Der Ozean hatte sein Bild verändert. Der aufgekommene Wind zauberte weiße Gipfel auf die Wellen, die in dichter Folge auf den Strand zurollten. Die beiden Sandbänke, die in den letzten Tagen immer aus dem Wasser ragten, waren jetzt überspült. Man konnte von dort wo ich stand sehen, dass viel Sand von den Wellen bewegt wurde, das Türkis war einem Braunton gewichen. Die gefährlichen Unterströmungen gab es jedoch scheinbar noch nicht. Die Flagge, die hektisch an der Spitze des Mastes wehte, erlaubte das Schwimmen. Draußen auf dem Meer waren schon einige Surfer zu sehen. Ich beobachtete noch eine Weile ihr Spiel mit dem Wind und ging dann zum Zeltplatz. Jetzt waren die Freunde alle wach, sogar der Tisch war gedeckt.
„Guten Morgen, na ihr Langschläfer, auch wach?“, grüßte ich.
„Hallo Micha, guten Morgen, warum sollten wir denn nicht lange schlafen. Ist doch Urlaub.“ Sonja dehnte die ‚As’ in den Wörtern lange und schlafen
„Ihr werdet es nicht glauben, es gibt richtige Wellen“, berichtete ich aufgeregt, „Ich war grade am Strand. Es sind auch schon Surfer draußen.“
Die beiden Frauen bekamen große Augen. „Echt?“, fragte Simona.
„Ja, der Wind kam heute Nacht auf. Bin kurz wach geworden und dann wieder eingeschlafen.“
Sonja setzte sich sofort an den Tisch. „Lasst uns frühstücken, dann gehen wir sofort zum Strand. Die letzten richtigen Wellen habe ich in San Francisco erlebt. Hier die waren ja für den Kindergarten bisher.“
Ich griff nach einem Flute, brach es in der Mitte durch und reichte eine Hälfte Simona.
„Ist der Gerd noch duschen?“ fragte ich.
„Nein, der Herr Gerd möchte heute Morgen Salami essen“, sagte Simona und rollte mit den Augen, „Er ist noch mal einkaufen gegangen.“ An ihrem Tonfall konnte man ihre Missbilligung erkennen.
Simona kannte ich einige Zeit länger als Sonja. Wir hatten uns auch auf einer Party kennengelernt. Ich schaute sie an und versuchte zu ergründen, was sie genau dachte. Nachdem wir uns den Abend über auf der Party gut unterhalten hatten, waren wir öfter mal Kaffeetrinken gewesen, meist auch zusammen mit anderen. Als ich dann aber mal eine Einladung zum Weintrinken bei ihr daheim erhielt, hatte ich den Eindruck, dass sie vielleicht etwas mehr wollte. Ich nahm die Einladung unter einem Vorwand nicht an und zog mich auch von dem gemeinsamen Kaffeetrinken zurück. Ich habe es nie erfahren, ob von ihrer Seite da mehr erhofft war, als ich bereit war zu geben. Jetzt saß sie dort und packte die Lebensmittel in die Kühlbox.
„Als hätten wir nicht genug zu essen. Unsere Vorräte sollten wir erst mal aufessen. Bei der Hitze verdirbt doch alles schnell.“
„Wenn Ihn dann morgen die Fettaugen auf der Salami angrinsen, dann weiß er Bescheid.“ frotzelt ich.
„Lasst ihn doch, wenn er Salami mag, dann soll er sie doch kaufen.“ verteidigte ihn Sonja.
„Jaja, verteidige den Gourmet auch noch“, nörgelte Simona, „Dem seine komischen Vorlieben kann ich eh nicht nachvollziehen.“
In der Tat hatte Gerd einige Eigenarten bezüglich seiner bevorzugten Speisen. Seine feine Nase konnte in allen Speisen versteckte Inhaltsstoffe lokalisieren. Behauptete er jedenfalls. Butter roch für ihn nach Schwein, da konnte man ihm noch so eindringlich erläutern, dass Butter ein Streichfett aus der Milch von Kühen ist. Über 83 Prozent der Inhaltsstoffe sind Fett, 16 Prozent sind Wasser. Irgendwie wollte da kein Schwein mehr reinpassen. Selbst ein Milchbauer persönlich hätte ihn nicht von seiner Behauptung abbringen können. Gerd war ein Sturkopf, der selbst dann noch seine Meinung vertrat, wenn man ihm das Gegenteil bewiesen hatte. Er war auch nicht sehr beliebt. Seine wenigen Freunde hatten sich mit seinen Eigenarten arrangiert. Irgendwie war ich froh, in dieser Beziehung nicht alleine da zu stehen. Ich akzeptierte ihn, aber als Freund hätte ich ihn nicht bezeichnet. Wenigstens was den Musikgeschmack anging, wiesen wir Schnittmengen auf.
Gerd schob sich gerade in diesem Moment hinter seinem Auto hervor, er sah sehr mürrisch aus.
„Die sind ja so was von begriffsstutzig in dem Laden“, stöhnte er, „bis die mal kapiert hatten, dass ich keine Wurst vom Schwein, sondern vom Rind haben wollte. Ich habe immer ‚porc non’ gesagt, aber die verstand mich nicht. Dann stellte sich heraus, es gab nur noch Salami vom Pferd gab. Die habe ich dann genommen.“
Ich konnte mir ein lang gezogenes Wiehergeräusch nicht verkneifen und wurde deshalb von Sonja mit einem bösen Seitenblick bestraft.
„Wenn du das besser kannst, dann gehst du das nächste Mal!“
„Deine Pferdesalami darfst du auch gerne alleine essen, ich würde nie ein Tier essen, was ich zum Freund haben könnte“, konterte ich.
„Ist ja interessant.“ Er schien noch etwas sagen zu wollen. „Wie viele Pferde zählen denn zu deinen Freunden?“
Er nestelte an dem Papier herum in dem die Salami eingepackt war, zog sie schließlich umständlich heraus.
Zur damaligen Zeit steckte der Tierschutz noch in den Kinderschuhen. Tiere waren eine Sache, die es auszubeuten galt. Es galt sogar als Zeichen des Wohlstandes, Fleisch zu essen. Vegetarier waren noch skurrile Gestalten, die die meisten Menschen für völlig verhuscht und abgedreht hielten. Veganer gab es vielleicht eine Handvoll.
„Du verstehst schon sehr wohl, was ich meine. Ein Pferd zählt nicht zu den Standardfleischlieferanten wie Rinder und Schweine.“ Gerd ignorierte meinen Einwand. Lässig wedelte er mit seinem Messer über dem Tisch herum.
„Möchte sonst jemand probieren?“ Er hielt die Pferdesalami demonstrativ über den Tisch. Weder Sonja noch Simona wollten.
„Da muss ich dem Micha Recht geben. Ein Pferd ist ein Pferd. Was er sagen will ist, dass er es sich nicht vorstellen kann, ein Tier zu essen, was er lieb haben könnte.“
Ich zog verwundert meine Augenbrauen hoch. Eine Parteinahme zu meinen Gunsten hätte ich nicht erwartet.
„Und eine Kuh kann man nicht lieb haben? Sentimentaler Quatsch. Es ist doch schade, dass Pferde zum Abdecker kommen und man daraus Seife macht. Sie schmecken ganz hervorragend. Bei uns daheim hole ich mir auch dann und wann auf dem Markt Pferdewurst. Ihr solltet es mal kosten.“
„Würdest du denn auch einen Hund essen?“, fragte Simona provokant.
„Wieso denn nicht? Wenn er gut zubereitet ist.“ Er schnitt seine Wurst penibel in gleichgroße Scheiben, die er dann auf seinem akkurat aufgeschnittenen Brot verteilte.
„Gerd, du bist eklig!“ Sonja schaute angewidert und verächtlich in seine Richtung.
„Wieso?“, fragte er und biss genüsslich in sein Flute.
„Darum, du bist ein gefühlloser Klotz.“ Sonja fühlte sich sichtlich unwohl. Ein Mann, der so herzlos redete, war ihr zuwider.
„Wieso bin ich denn ein gefühlloser Klotz? Nur weil ich denke, dass man bei Lebensmitteln nicht sentimental sein soll? Bei einem Schwein und einem Rind sagt keiner etwas. Bei einem Pferd und einem Hund schreien alle los. Das kann ich nicht verstehen. Tier ist Tier.“
Nach einem kurzen Zögern biss er erneut genüsslich in sein Brot.
„Da kommen wir anscheinend nicht auf einen Nenner“, resümierte Simona, „Sind wir denn einer Meinung, wenn es um den Strand geht?“ Sie legte ihr Messer auf das Holzbrettchen vor sich.
„Da müssen wir aber aufpassen, die armen Sandkörner könnten leiden, wenn wir darüber laufen“, versuchte Gerd zu scherzen. Das misslang ihm gänzlich. Simona verzog nur ihr Gesicht zu einem mitleidigen Grinsen.
„Och Gerd, versuch doch Leute nicht zu verarschen, die eine andere Meinung haben, als du“, platzte es aus mir heraus, „Aber du hast ja eh die Weisheit mit Löffeln gefressen. Das denkst du zumindest!“ Das Messer in der Hand hielt ich fest umschlossen.
„Ich verarsche doch niemanden und du musst nicht beleidigend werden. Ich habe dich auch nicht beleidigt.“
Schärfe lag in seinen Worten. Gerd war gebürtiger Siebenbürgen-Deutscher und bemühte sich, um ein sehr korrektes Hochdeutsch. Wenn er sich angegriffen fühlte, dann wurde seine Ausdrucksweise noch klarer und schärfer.
„Nicht mich alleine. Jeden hier.“ Um Gottes Willen dachte ich, hoffentlich denken die Frauen jetzt nicht, ich wollte hier Fronten gegen Gerd schaffen. Das war ein Ding zwischen ihm und mir. Unsere Rivalität trat mal wieder offen zutage, und ich wollte auch nicht zurückstecken.
„Wieso das denn?“ Gerd tat so, als würde ihn das alles nicht wirklich tangieren.
Ich nickte bekräftigend, während ich ihn anschaute. „Genau das ist es. Du merkst es noch nicht einmal, wenn du auf Leute herab siehst. Deine Arroganz ist anmaßend.“
„Ich bin nicht arrogant, ich habe nur Recht.“
Er sah mich noch nicht einmal an dabei. Sein Brot genoss mehr Interesse. Doch ich ließ mich nicht davon beeindrucken.
„Siehst du, du lieferst auch noch sofort den Beweis.“
„Hört jetzt bitte auf, ihr zwei!“
Simona schien richtig genervt. Sie stand auf, trat einen Schritt in Richtung Auto zurück. Sie hielt die Lehne ihres Campingstuhles fest umschlossen. Abstand halten zu den beiden Streithähnen.
„Solche Situationen hat es schon genug zwischen euch gegeben. Wann gebt ihr es denn endlich auf eure Schwanzlänge zu messen? Ihr nervt gewaltig!“
Gerd schaute sie mit einer Mischung aus Staunen und Ungläubigkeit an. Um die sofortige Antwort war er nicht verlegen.
„Schwanzlänge? Es geht hier nicht um die Schwanzlänge. Es geht hier um meine Sichtweise der Dinge. Ihr könnt doch nicht bestimmen, was ich zu denken habe. Ich sage ja nicht, dass ihr meiner Meinung sein müsst.“
Sonja schaute die ganze Zeit gedankenversunken vor sich hin. Harmonie unter Freunden war für sie sehr wichtig. Streitigkeiten passten nicht. Gerd und Michael waren keine Freunde, aber sie würde es sich wünschen, wenn beide mehr Respekt und Verständnis für den anderen aufbringen würden. Traurig blickte sie mich an. Ihr Blick tat weh. Vielleicht reagierte ich auf Gerd auch nur so empfindlich, weil ich Sonja klar machen wollte, wie er wirklich war. Wenn ich aufrichtig zu mir selbst war, dann entsprach das der Wahrheit. Ich hielt ihrem Blick nicht mehr länger Stand.
„Ok, Leute, ich möchte jetzt an den Strand gehen“, sagte ich, „Ich spüle noch unsere Sachen. Wer weiß wo das Spülmittel ist?“ Irgendwie musste ich mich aus dieser Situation befreien.
„Schau mal in unserem Zelt nach. Ich habe es gestern Abend dort hingelegt.“
Ich sammelte das Geschirr in der Spülschüssel zusammen, suchte mir das Spülmittel aus dem Zelt der Frauen und ging. Die Diskussion mit Gerd setzte sich in meinen Gedanken fort. Dabei ging es natürlich nicht um seine kulinarischen Vorlieben, sondern um mein Misstrauen ihm gegenüber. Die Situation war irgendwie verfahren. Gerds Verhalten Sonja gegenüber war indifferent. Mal war ich sicher, dass er versuchte, sie für sich zu gewinnen. Dann wieder war er kalt ihr gegenüber. Wenn ich Sonjas Verhalten richtig deutete, dann war sie schon interessiert und fand Gerd durchaus anziehend. Gerd war allerdings auch für sie undurchschaubar.
Wenn ich ihn richtig durchschaute, dann bezweckte er genau das mit seinem Verhalten. Was auch immer. Ich beschloss, genau in dem Augenblick, als ich dort stand und spülte, eifersüchtig zu sein. Der Gedanke manifestierte sich. Er manifestierte sich direkt in einem Plan. Ich würde alles daran setzen, Sonja wieder für mich zu gewinnen. Dabei war ich mir sehr sicher, Gerd für meinen Plan und gegen seine eigenen Absichten einsetzen zu können.