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Kapitel 6

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Nachdem ich mir mit einer erfrischenden Dusche das Salz von der Haut gewaschen hatte, kam ich genau rechtzeitig zum Essen an. Gerd entkorkte die erste Flasche Wein und nickte mir fragend zu. Ich hielt den Becher hin und er schenkte mir ein.


Es gibt Begebenheiten im Leben, an die man sich auch nach langer Zeit noch genau erinnern kann. An jedes Detail, Gefühle, Stimmungen, Gerüche. Der erste Kuss, der erste Sex, der Geruch eines Weihnachtskuchens der Mutter. Dieser Abend auf dem Campingplatz an der französischen Atlantikküste gehört zu diesen Begebenheiten, an die ich mich erinnere. Wie eine Narbe auf der Seele.

Dabei kann ich wirklich nicht sagen, dass ich das für wünschenswert halte. Wir aßen, tranken unseren Wein, räumten den Tisch ab, spülten kurz das wenige Geschirr am nahegelegenen Waschhaus und versammelten uns dann wieder zum Doppelkopfspielen am Tisch.


Wir spielten, tranken weiter Wein und hatten eine Menge Spaß. Gegen zehn Uhr meldeten sich unsere spießigen deutschen Nachbarn, mit der Bitte um Ruhe. Gerd nannte sie, wegen ihrer alternativen Garderobe und ihrer Vorliebe für Getreide in allen Variationen, die „Müeslifresser“.


Unsere Stimmung war so gut an diesem Abend, sodass wir uns durch die beiden nicht stören ließen. Kurzerhand trugen wir den Tisch und die Stühle neben das Waschhaus und setzten dort unser Spiel fort.

Es gab viele lustige Kommentare unserer anderen Nachbarn, oder auch von anderen Campinggästen, die vorbeikamen und uns dort sitzen sahen. Ruud kam ebenfalls vorbei und versprach, später zurückzukehren. Je mehr Wein wir tranken, desto besser wurde die Stimmung, und es wurde eine Runde Doppelkopf nach der nächsten gespielt.


Längst war die Sonne untergegangen. Es war eine wunderbare Vollmondnacht. Man hätte womöglich die Beleuchtung durch die funzeligen Außenlampen des Waschhauses nicht benötigt, so hell schien der Mond an diesem Abend. Die Gesichter der Frauen wirkten gelöst und entspannt.

Sonja hatte eine Glückssträhne. Sie gewann mehrere Spiele in Folge. Gerd verlor hingegen ständig. Aber gegen seine sonstige Gewohnheit, suchte er nicht die Schuld bei seinem Mitspieler. Sonja strahlte und sah in dem Zwielicht von Mond und Außenlampe noch hübscher aus als sonst.

Gerade legte sie wieder mit einem schrillen Schrei eine Karte auf den Stapel und gewann das Spiel. Wir hatten zusammen gespielt und klatschten uns über dem Tisch ab. In dem Moment kam Ruud vorbei und machte eine Bemerkung über die Batterie leerer Weinflaschen, die sich neben unserem Tisch angesammelt hatte.


„Ja, du hast Recht, ordentlich Bölkstoff wurde vernichtet. Wenn du auch einen Wein magst, hol dir ein Glas oder einen Becher“, sagte ich. Er griente und ging sofort los.


„Wir haben echt schon ganz schön gepichelt“, sagte Simona und schielte in ihren Becher.

„Das ist mal wieder einer dieser Abende an dem man endlos trinken könnte ohne richtig betrunken zu werden“, sagte Sonja. Ich nickte beipflichtend, obwohl ich eigentlich schon heftig betrunken war.

„Ach ja“, meinte Gerd schelmisch, „Du lallst ja schon etwas“.


„Ich?“ fragte Sonja. „Ich lalle doch nicht“, sagte sie entrüstet, „Ich kann noch völlig gerade reden!“

„Und kannst du auch noch gerade gehen?“, frotzelte Gerd weiter.


„Klar! Ich kann noch grade laufen. Ich beweise es dir!“


Sie stand auf, stellte ihren Wein beiseite und balancierte auf einer imaginären Linie entlang. „Siehste, ganz gerade“, sagte sie triumphierend. Tatsächlich schaffte sie die Übung ohne zu schwanken.

„Sonja, ich hätte nie gedacht, dass du für den Gerd auf dem Strich gehen würdest“, prustete Simona heraus.


„Was?“ Sonja schien empört. „Ich geh für niemanden auf den Strich!“ Sie hatte aufgehört zu balancieren.


„Ich sagte nicht ´auf den Strich`, sondern ´auf dem Strich`. Du hast nicht richtig zugehört“, sagte Simona mit einem verschmitzten Grinsen.


„Ooh, du bist doof, doof, doof “. Sie stürzte auf Simona zu und würgte von hinten ihren Hals.


„Nicht von hinten“, gulpste Simona mit zusammengezogenen Schultern, „Wenn du mich schon töten willst, dann will ich dir dabei in die Augen sehen, Kleines!“ Die beiden Frauen rangelten lachend weiter.

„Nenn mich nicht ‚Kleines‘!“


Wir Männer hatten dem ganzen Spiel amüsiert zugeschaut. Vor allem Gerd, der ja mit seiner Bemerkung alles ausgelöst hatte. Mir wurde bewusst, dass er flirtete. Er flirtete mit Sonja. Sehr subtil, aber er tat es. Das gefiel mir natürlich nicht. Aber ich hatte mir ja eine neue Strategie zurechtgelegt. Dazu gehörte es, sich nun nicht auf ihre Seite zu schlagen. Das hätte sie erwartet.


„Komm Gerd, wenn sich die beiden gegenseitig umbringen, haben wir den Wein für uns alleine“, sagte ich. Er schmunzelte und griff zum Flaschenöffner. Ich reichte ihm die Flasche.


In dem Moment kam Ruud mit einem Glas und einer eigenen Flasche Wein auf uns zu.


„Oh, ich sehe, ich komme ja richtig“, sagte er belustigt. Gerd schenkte aus der frisch geöffneten Flasche erst unserem Gast ein, und dann uns.


„Prost“.

„Prost“. Wir hoben die Gläser und stießen an.


„Und wir?“ Simona und Sonja fühlten sich übergangen und protestierten. „Wollen die Herren nicht mit uns trinken? Aha, komm Sonja, wir können auch alleine trinken“, scherzte Simona.

Sie zog ihre Freundin am Arm.


„Typisch Frauen, gerade wollten sie sich an den Hals gehen und jetzt verbrüdern sie sich wieder gegen uns“, flachste Gerd und blickte zu ihnen hoch.


„Ok, wenn ihr das so seht, dann trinken wir unseren eigenen Wein!“ Sonja und Simona wandten sich ab und wollten gerade zum Zelt gehen, als aus dem Halbdunkel eine weibliche Gestalt auf sie zutrat. Es war die junge deutsche Architektin, die wir schon des Öfteren am Strand getroffen hatten. Sie machte einen angespannten Eindruck. Sie sprach die beiden Frauen an. Keiner von uns Männern konnte hören, was sie sagte. Wir scherzten weiter, und hatten den beiden Frauen viel Spaß mit ihrem Wein gewünscht.


Aus dem Augenwinkel sah ich Sonja wieder zurückkommen und sie stellte sich mit den Worten „Es wird ein kleines Mädchen vermisst!“ an unseren Tisch. „Wir sollen suchen helfen. Die Eltern sind völlig aufgelöst. Wir kennen sie vom Sehen, dort hinter dem Waschhaus steht ihr Wohnwagen.“ Sie zeigte in die Richtung. Ihr Gesichtsausdruck war sehr besorgt, voller Anteilnahme.

Simona und die junge Architektin traten hinzu, und die junge Frau begann kurz zu skizzieren, um was es ging. Sie berichtete, dass die Kleine mit ihren Eltern Beeren sammeln war, und dann noch einmal kurz wegging, um noch ein paar Beeren zu sammeln, die sie am Wegrand gesehen hatte. Das war schon gute drei Stunden her. Die Eltern hätten bereits erfolglos nach ihrem Kind gesucht.

Jetzt hoffte der Vater, dass wir mit mehr Suchern mehr Erfolg haben würden.


Wir schauten uns alle fassungslos an. Ruud und Gerd hielten ihre Gläser in der Hand und man sah ihnen an, dass sie noch nicht in dieser neuen Situation angekommen waren. Keine Warnsignale. Plötzlich.


„Ja sicher suchen wir“, sagte ich spontan, „Aber ist es nicht besser die Polizei zu holen?“ Die Zunge war bleischwer.


Diese plötzlich auf mich einstürmenden Neuigkeiten kämpften sich träge durch den Alkoholschleier. Was war passiert? Ein Kind wurde vermisst, wir sollten helfen zu suchen. Von einer Sekunde zur nächsten waren wir in eine Situation geraten, die man schon in Filmen verfolgt hatte. Menschen, die nach jemand suchen. Die Szenen, die sich in den nächsten Stunden abspielen sollten, habe ich nie vergessen.


Die Polizei war wohl schon informiert, aber sie sagten, sie würden noch einige Stunden benötigen, bis die Hundestaffel hier sein würde. Bis dahin wollte der Vater noch einmal suchen gehen, in der Hoffnung seine Tochter irgendwo, womöglich unverletzt, zu finden.


Ich schmeckte den Alkohol auf meiner Zunge. Er schmeckte plötzlich nach Furcht. Wieder versuchte ich, mir die Situation zu vergegenwärtigen. Ich war zu betrunken. Wie sollte das denn gehen? Eine Horde Betrunkener torkelt durch den Wald und sucht nach einem kleinen Mädchen. Wir alle waren eigentlich nicht in der Lage, so eine Aufgabe zu bewältigen.


Sonja kam zu mir. „Micha, stell dir das mal vor. Die Kleine ist einfach verschwunden. Und was ist, wenn sie nicht verletzt ist? Wenn sie jemand entführt hat?“


Ihre Worte drangen wie durch Watte zu mir. Sie schien mit einem Schlag nüchtern geworden zu sein. Vor nicht einmal fünf Minuten hatte sie auf einer imaginären Linie balanciert, um ihre Nüchternheit zu beweisen und nun schien sie total nüchtern zu sein.


Ich fühlte mich dagegen sehr betrunken und verspürte das Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf.

Nein, ich fühlte mich nicht in der Lage, in den Wald zu gehen und ein Kind zu suchen. Was für eine Situation. In meinem Kopf fuhren die Gedanken genauso schnell Karussell wie der Wein konträr mein Gehirn benebelte. Was würde Sonja dann denken? Sie würde mich für einen elenden Feigling halten. Reiß dich zusammen, sagte ich zu mir. Reiß dich zusammen!


Simona und Gerd packten unsere Sachen zusammen und trugen sie zum Zelt herüber. Sonja und ich warteten auf sie, und dann gingen wir gemeinsam zum Vorzelt der Eltern. Wir hielten uns im Hintergrund. Der Vater berichtete gerade in Kurzform über die Geschehnisse. Er machte einen gefassten Eindruck auf mich. Wir kamen dazu, als er die Anwesenden informierte, dass seine Tochter Nora hieß, und sie einen roten Sandeimer dabei gehabt habe, als sie losging.

Nora. So hieß die Kleine.

Nora.


Ich beobachtete den Vater und versuchte zu ergründen, wie ich mich wohl in so einer Situation verhalten würde. Wie verhält sich jemand, dessen Kind verschwunden ist? Angst. Bestürzung. Fassungslosigkeit. Wie groß war noch der Platz für Zuversicht und Hoffnung?

Kann man in so einer Situation eine Messlatte für ein Verhalten anlegen? Wäre er vor Verzweiflung nicht in der Lage gewesen, zu sprechen, dann hätte man das verstanden. Dieser Mann hier machte eher den Eindruck auf mich, als funktioniere er und würde gerade generalstabsmäßig einen Schlachtplan mit seinen Untergebenen besprechen. Er wolle uns zu der Stelle führen, wo sie nachmittags Beeren gesammelt hatten. Dort sollten wir im Abstand von fünfzig Metern den Wald absuchen. Er sprach ruhig und bedacht, fast teilnahmslos. Es hätte sich auch um ein verletztes Tier handeln können, auf dessen Suche wir uns nun begeben sollten.


Im Nachhinein denke ich, dass er einfach nur versucht hat sein Bestes zu geben, um seine Tochter zu finden und die maßlose Furcht in seiner Kehle zu unterdrücken.


Wir zogen los, um Nora zu suchen.


Intelligenz ist die Fähigkeit seine Umgebung zu akzeptieren. Dieses Zitat des Amerikaners William Faulkner schoss mir in den Kopf. Warum weiß ich auch nicht. Absurd. Wer weiß, was der Verstand alles für Wege gehen konnte.

Unsere Umgebung war traumhaft, eine laue Nacht, der harzige Duft von Pinien, der Vollmond tauchte das gesamte Land in ein mildes, silbernes Licht.

Doch unsere Mission war alptraumhaft. Eine Mission, in die wir gespült worden waren durch Ereignisse, die außerhalb unserer Macht lagen. Uns blieb nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren.


Sonja, ging neben mir her. Sie war still, den Blick auf den Boden gerichtet. Unsere Gruppe bestand aus zehn Personen. Ich rechnete aus, dass wir damit einen halben Kilometer des Waldes, zu dem wir gerade über einen breiten Weg geführt wurden, absuchen konnten.


„Wer weiß, ob wir an der richtigen Stelle suchen?“, fragte Sonja. Ihre blauen Augen wirkten im Mondlicht eisblau. Traurigkeit. Mitfühlen.


„Stimmt, aber irgendwo müssen wir anfangen, oder?“ Ich konnte noch klar artikuliert reden, Gottseidank. Dabei hatte ich das Gefühl, meine Zunge sei schwer wie Blei.


„Ist das nicht schlimm? Man kann nur hoffen, dass wir sie finden und sie verletzt ist. Stell dir mal vor, es ist nicht so.“ Sie machte eine Pause. „Vielleicht ist sie schon tot.“


„Sonja, mal nicht den Teufel an die Wand“, sagte ich, um sie zu beschwichtigen. Kurze Sätze reden, dachte ich. Der Alkohol. Gedanken immer noch wie in Watte gepackt. Weil ich mich ihr gegenüber nicht als Pessimist outen, sondern selbstsicher auftreten wollte, wiegelte ich ihre Gedanken ab.


„Wir finden sie“, sagte ich. Davon war ich aber nicht überzeugt. Man kennt ja ungute Vorahnungen, die sich einstellen, ohne dass man sie erklären kann. So eine böse Vorahnung hatte ich in diesem Moment.

Erklär mal eine Vorahnung.


„Wir werden sie finden und sie wird gesund sein.“ Die Worte kamen wirklich nicht aus Überzeugung, aber Sonja gab sich erst einmal damit zufrieden. Vielleicht wollte ich mich damit auch nur selber überzeugen. Ich wusste es nicht.


Mittlerweile hatten wir zu den anderen aufgeschlossen und Noras Vater teilte die Suchenden ein. Es sollte immer ein Mann neben einer Frau gehen, falls es zu unvorhergesehenen Ereignissen kommen würde. Es ging auf, wir waren fünf Frauen und fünf Männer.


Wir vier hatten nebeneinanderliegende Suchgebiete. Einige hatten Taschenlampen dabei, von uns hatte nur Gerd seine Lampe mit.


„Wenn ihr etwas seht, dann ruft mich, ich komme dann mit der Lampe und wir haben mehr Licht“, sagte er zu Simona und Sonja.


Bevor wir unsere Positionen einnahmen, und in den Pinienwald hineingingen, raunte er mir noch zu, dass er kein gutes Gefühl hätte bei der Sache. Da waren wir einer Meinung.


Der Weg, der uns in den Wald geführt hatte, ging erst vom Campingplatz weg, dann in einem Bogen wieder grob in die Richtung des Strandes. Wir liefen also jetzt parallel zum Meer, dass in einigen Hundert Metern Entfernung lag. Als wir in den Pinienwald eintraten, war es plötzlich dunkel. Die Baumkronen der Pinien hielten viel Mondlicht ab. Ich blieb einen Moment lang stehen und versuchte, mich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Wie sollte man hier etwas sehen? Es hätte jemand neben mir stehen können, den hätte ich nicht bemerkt. Ich blickte mich um, wollte einen der andren ausmachen. Ich sah niemand. In einiger Entfernung war der zuckende Lichtkegel einer Taschenlampe auszumachen. Das war wohl Gerds Lampe. Das Leuchten kam von weiter aus dem Wald. Also ging auch ich los.


Nach ein paar Schritten stolperte ich über eine Wurzel oder über einen querliegenden Ast. Mein Mund machte aus Überraschung ein komisches Geräusch, ich hielt inne. Doch ich hörte nur meinen eigenen, keuchenden Atem. Nichts sonst. Schatten schienen nach mir zu greifen. Bloß keine Panik bekommen, dachte ich mir. Ich musste weiter gehen. Aber waren wir vielleicht in Gefahr? Gingen wir hier ein Risiko ein, das wir gar nicht kalkulieren konnten? Ich hatte einem potentiellen Angreifer nichts entgegen zu setzen. Hier hätten mir auch meine Kampfkünste nichts geholfen. Also suchte ich mir einen Stock, und nach unendlich langem Suchen fand ich einen, den ich dann als Taststock nutzte. Mein Atem beruhigte sich. Ich bekam von irgendwoher Sicherheit. Woher auch immer. Langsam gewöhnten sich auch meine Augen an die Lichtverhältnisse. Womöglich durch das konzentrierte Suchen.

Wenn man richtig hinsah, dann konnte man in den Lichtinseln einige Details wahrnehmen. Diese Inseln, die durch das Mondlicht, das durch die Kronen schien, waren hier und da auf dem Boden auszumachen. Wurzeln, querliegende Äste, Vertiefungen im Boden, in die ich sonst gestolpert wäre. Ich tastete mich von Insel zu Insel weiter. Dagegen spielte mir die Phantasie in den dunklen Stellen oft einen Streich. War das da ein Arm? Oder das da eine Gestalt, die sich duckt?

Was, wenn ja? Was war, wenn ich einem der Kidnapper begegnen würde? Gab es mehrere? Oder nur einen? Schlich der sich vielleicht gerade in meinen Rücken? Pure Angst. Diese Angst trieb meinen Puls in die Höhe. Ich umfasste meinen Stock und sah mich um. Immer wieder. Doch ich sah niemanden. Ich stellte mir vor, wie ich einem Angreifer meinen Stock über die Rübe klopfte. So blöd wie der Gedanke war, er schien mir Sicherheit zu geben. Ich stand eine Weile da und saugte diese Sicherheit in mich auf.

Vielleicht hatte Sonja Recht und die Kleine war entführt worden. Sah der Vater von Nora nach Geld aus? Würde eine Familie mit Geld auf diesen Campingplatz fahren? Eher nicht. Daher verwarf ich die Entführungstheorie und stellte mich auf ein viel übleres Szenario ein. Jemand, der auf kleine Kinder steht. Ein Vergewaltiger? Ein Pädophiler?


Sollte er kommen, ich würde ihm den Knüppel über den Kopf ziehen, dem Schwein. Ich machte einen Schlagtest an einer der Pinien. Der Knüppel hielt es aus. Also würde er auch dem Schädel eines Unholdes trotzen. Augenblicklich war ich ruhiger, stellte mir aber auch gleichzeitig entsetzt die Frage, was ich hier treibe. Es war wohl der Alkohol, der mir immer noch zusetzte. Das wäre vielleicht auch für jeden unbeteiligten Zuschauer eine gute Ausrede gewesen. Doch wem sollte ich hier schon begegnen? Mittlerweile war der Gedanke an einen Gegner, der mich von hinten angreifen würde, verblasst. Ich ging weiter.


Ich beschwor keine weiteren Unheilszenen hervor und begann nach dem Mädchen zu suchen. Noch sprach nichts dagegen, sie lebend zu finden.


Von links und rechts hörte ich ihren Namen rufen. „Nora“ rief auch ich, erst leise, dann lauter. Das laute Rufen schuf Sicherheit. Es sagte: Hier bin ich und ich suche dich.

Und jeder soll es wissen, wir suchen dich.


Die Dunkelheit war bald kein Hindernis mehr, im Gegenteil. Der Mond stand noch höher am Himmel und beleuchtete das Szenario perfekt. Die Bäume schienen weiter auseinander zu stehen, oder ich hatte mich an das alles gewöhnt. Zehn Menschen liefen rufend durch einen Pinienwald an der Atlantikküste. Sie waren auf der Suche nach einem kleinen Mädchen. Eine persönliche Hölle an einem Ort, den viele Menschen als einen der schönsten Plätze an der französischen Atlantikküste bezeichneten.


Ich rief immer wieder den Namen des Mädchens. Nora. Wieder und immer wieder. Ich schwang den Stock über den Kopf und sprang ungelenk über die auf dem Boden liegenden Pinienäste. Ich weiß nicht, wie viele blutige Striemen ich während des Suchens abbekam.


Immer wieder kam jedoch die Angst zurück, hinter dem nächsten Baum könnte jemand lauern. Also sprang ich hinter die Bäume und schrie. Nachdem ich das einige Male gemacht hatte, kam ich mir wieder fürchterlich albern vor. Ich war immer noch betrunken. Sonst hätte ich solch einen Quatsch nicht gemacht. Ich schielte herüber und versuchte Sonja zwischen all den Bäumen auszumachen. Wenn sie mich gesehen hätte, würde sie mich sicher für bekloppt halten. Also. Kein Baumanschreien mehr.


Keine Sonja, ich sah niemanden mehr. Da fiel mir ein, wir hatten keine Signale ausgemacht, falls jemand Nora finden würde. Womöglich hatte sie schon jemand gefunden und ich war der Einzige, der hier noch wie Rambo für Arme im Wald herumhampelte. Jetzt kam ich mir plötzlich allein und verloren vor in dem Wald. Ich fing wieder an, zu rufen. Darum ging es hier. Wir wollten das Kind finden. Das Rufen gab mir die Sicherheit zurück.


Mehr Mondlicht, mehr Sicherheit, Bäume mit mehr Abstand, weniger Hindernisse auf dem Boden, weniger Angst. Behände stieg ich jetzt über die umgestürzten Bäume und Wurzeln, den Stock mit beiden Händen gepackt. Nach einer Weile, sah ich weiter links wieder die Lampe aufleuchten, nicht weit entfernt. Also suchte er auch noch. Das gab mir die Bestätigung, ich suchte also nicht alleine. Aber wieso war er so nah? Klar, wir hatten ja keine Orientierung hier im Wald. Wahrscheinlich liefen wir zickzack und bemerkten es nicht einmal. Hatte Gerd die Chance genutzt und hatte sich Sonja genähert? Das würde erklären, warum der Lichtkegel so nah war. Der Gedanke bereitete mir keine Freude.


Der Blick glitt weiter über den Boden und mit der Zeit konnte man immer mehr differenzieren. Das fahle Mondlicht half Dinge zu erkennen. Ich konnte sogar verschiedene Baumarten ausmachen, sah in jede Senke, ob sich dort jemand verbarg oder ob dort ein kleines Mädchen ohnmächtig vor Schmerzen lag. Sie hätte sich ein Bein brechen können. Und hätte sehr wahrscheinlich unheimliche Angst. Aber da half ja das Rufen. Ein Kind hätte sicher keine Angst gehabt und sich bemerkbar gemacht, wenn jemanden seinen Namen rief.


Der Wald schien endlos. Wir waren sicher bereits eine Stunde unterwegs. Der Mond zog weiter seine Bahn und ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Gerds Lampe war ebenfalls nicht mehr zu sehen. Vielleicht waren die Batterien leer. Es war auch kein Rufen mehr zu hören.


Ich stand still, lauschte atemlos in die Nacht. Nichts war zu hören. Ich breitete die Arme aus und drehte mich im Kreis. Die Bäume wirbelten. Der Mond wirbelte. Meine Gedanken wirbelten. Wer hatte hier die Karten ausgeteilt? Wer hatte das As im Ärmel? Ich hielt inne. Der Alkohol lies meinen Kopf weiter kreisen. Auch als ich schon lange stand. Du musst weiter, sagte ich mir. Komm zu dir.

Wir waren planlos in diesen Wald hineingegangen. Keine Absprache, wie lange wir suchen wollten und wo wir uns treffen wollten. Weiter ging es. Es blieb mir nichts anderes übrig. Minutenlang ging ich fast tastend weiter, immer auf der Hut etwas zu hören.


Plötzlich lichtete sich der Wald und vor mir lag ein Weg. Ich schaute in beide Richtungen und sah mit Abstand im Wald wieder die vertraute Lampe leuchten.


Ich starrte in die Richtung und bemerkte jemand in gut zwanzig Metern Entfernung aus dem Wald kommen. Es musste Sonja sein. Sie war alleine. Kein Gerd in ihrer Nähe. Gut. Umsonst gegrübelt. Ich rief sie. Seltsam einen anderen Namen zu rufen, als den des Kindes. Die Einsamkeit hatte ein Ende. Wir liefen aufeinander zu und sie fiel mir in die Arme.


„Micha, das war so schrecklich, ich habe solche Angst gehabt.“

Ich hielt den Knüppel hoch und sagte „Frag mich mal.“ Es machte mir nichts aus. Sie konnte wissen, dass auch ich Angst gehabt hatte.


„Schlimm, nichts gefunden. Wo soll sie denn sein?“ Wir fuhren herum. Simona stand nur einem Meter neben uns.


„Mann, schleich dich doch mal an!“ sagte ich. Mein Herz klopfte wild.


„Bin kein Mann. Bin nur müde und immer noch halb besoffen und frustig!“, entgegnete sie, „Wir sollten zurückgehen. Noras Vater hatte eine Stunde gesagt. Die haben wir nun gesucht. Und es dauert noch eine, bis wir wieder zurück sind.“

„Hat er das gesagt?“ fragte ich. Sonja hatte es auch nicht gehört, aber Simona versicherte uns, dass es so gesagt worden war. Gerd gesellte sich in dem Moment zu uns. Er schaltete seine Lampe aus.


„Was für eine Aktion“, sagte er, „Ich wusste teilweise nicht mehr, wo ich war.“


„Na sag mal, mir ging‘s nicht anders“, sagte Simona.


„Das ist doch nicht das Schlimmste. Wir rennen hier halbbesoffen durch den Wald und suchen ein kleines Kind. Und das liegt womöglich irgendwo und kann sich nicht bemerkbar machen. Das ist schlimm. Und für die Eltern ist es schlimm. Der Vater kam mir eben vor wie ein Zombie. Der Arme. Hat einer von euch die Mutter gesehen?“ Sonja sah mich an, doch war die Frage an alle gerichtet.


Keiner von uns hatte sie gesehen.


Ich sagte: „Ich habe bei der Sache kein gutes Gefühl. Ich denke, wir suchen an der völlig falschen Stelle. Denkt ihr, dass ein Kind so weit weg läuft, wenn es nur Beeren holen wollte?“


Wir schauten einander an und schwiegen.


Ich wusste nicht, wieso ich das plötzlich mit solcher Klarheit sagen konnte. Vielleicht lag es an der vergeblichen Suche. Oder ich wurde langsam nüchtern und konnte wieder klarer denken. Wir waren mitten in einem Albtraum. Wer konnte sich eine solche Situation ausdenken, wenn er es nicht selber erlebt hatte?


„Wer weiß denn, wie wir gehen müssen?“ fragte Simona, „Wir können wieder durch den Wald tapsen. Dann treffen wir bestimmt wieder auf den anderen Weg.“


„Ich denke, dass wir weiter vorne irgendwo rechts abbiegen können. Das hier sind alles alte Nazi-Wege. Die haben das schachbrettartig angelegt“, schlug Gerd vor.


Ich musste ihm in dem Punkt zustimmen. Wir setzten uns stumm in Bewegung und trafen nach einigen Metern auf die junge Architektin, die aus dem Wald kam. Wir brauchten nichts zu sagen, aus ihrem Gesicht sprach dieselbe Furcht wie aus unseren.


„Wir denken, dass wir hier völlig falsch suchen“, sagte Sonja.


„Das mag sein, aber wir mussten doch das Gebiet einteilen, um genau so etwas auszuschließen.“


Aus ihren Worten sprach der klare Architektenverstand. Oder einfach nur weniger Alkohol. Was auch immer.


„Was denkst du denn?“ fragte ich sie. „Ich meine, denkst du, sie lebt noch?“ Ich duzte sie einfach.


Mich interessierte, wie so ein Mensch, der so analytisch als Architektin arbeiten muss, über diese Ausnahmesituation denkt.


Sie schaute mich lange an.


Stille.


Mondlicht. Tastende Blicke. Nachdenken.


Sie riss den Blick von mir los. „Ja, das denke ich. Also lasst uns keine Zeit verlieren und zurückgehen“. Schon stapfte sie los.


Sonja blickte mich an und ich wusste, dass sie sich fragte, warum ich der Architektin diese Frage gestellt hatte. Ich wollte es einfach wissen. Menschen in Ausnahmesituationen sollten sich doch im Klaren über ihre Rolle sein. Und ehrlich miteinander reden. Schließlich hing von unserem Tun womöglich ein Leben ab.


Gerd hatte Recht gehabt, nach ein paar Metern gab es eine Abbiegung nach rechts, der wir dann folgten. Weiter wortlos. Der fahle Mond stand immer noch am Himmel, als stummer Zeuge der Stille, die die kleine Gruppe von Menschen umgab. Hätte man von einem Satelliten aus die Szenerie beobachten können, dann hätte man kleine Gruppen von Menschen sehen können, die sich alle auf einen Punkt zu bewegten. Dieser Punkt war der Wohnwagen von Noras Eltern. Nach einer viel zu langen Zeit, erreichten wir wieder unsere Ausgangsposition, um dort zu erfahren, dass wir alle erfolglos gewesen waren. Noras Eltern warteten auf die Polizei.


Noras Vater hatte beschlossen, dass wir uns alle an der Rezeption des Platzes treffen sollten. Dort würden die Einsatzkräfte der Polizei ankommen und auch die Hunde. Er selbst wollte an den Strand gehen und dort suchen. Ihn begleiteten einige Camper, die vorher nicht zur Gruppe der Suchenden gehört hatten. Mittlerweile war es vielen auf dem Platz bekannt, dass ein kleines, deutsches Mädchen vermisst wurde.


Wir gingen zu unserem Platz, um etwas zu trinken. Dort stand der Tisch auf dem noch verstreut die Karten lagen. Wie gerne hätten wir die Uhr zurückgedreht, um die Umstände ungeschehen zu machen. Simona wischte mit einer schnellen Bewegung die Karten zusammen und steckte sie in die Hülle. Als hätte sie die Gedanken der anderen erraten.


„Ich habe ja schon mal darüber nachgedacht, wie das wohl ist, wenn man nach einer vermissten Person sucht. Nun sind wir mitten drin in einer solchen Suche, und ich muss sagen, es ist völlig anders, als ich es mir vorgestellt habe“, sagte Simona und hielt das Päckchen mit den Karten in der Hand.


„Wie hast du es dir denn vorgestellt?“ fragte ich. Ich hockte neben dem Tisch, wollte mich nicht setzen und wusste nicht, warum.


„Anders. Emotionsloser. Man ist so in die Situation hineingeworfen und kann nicht weg. Das stellt man sich so nicht vor. Das habe ich mir nicht so vorgestellt, meine ich“, antwortete sie.


„So was kann man sich nicht vorstellen. Das geht nicht“, entgegnete Gerd, „Dazu sind die Menschen viel zu stumpf.“


„Stumpf? Wieso stumpf?“ fragte Sonja. Sie schaute Gerd fragend an, beinah ein wenig verächtlich.


„Weil man sich keine Gedanken um solche Situationen macht, wenn man es nicht muss. Die Menschen vermeiden es doch, sich mit Schmerzhaftem auseinander zu setzen. Würde man das tun, dann wäre man masochistisch. Außerdem ist das auch nicht gesund für die Psyche.“

Er lag halb ausgestreckt in dem Campingstuhl. Ich dachte kurz nach, ob ich auch so cool dasitzen könnte. Wohl nicht, ich hockte immer noch auf dem Boden. Meine Knie schmerzten, doch änderte ich die Position nicht. Solange nicht, bis meine Füße kribbelten vor Blutmangel.


„Ich bin aber nicht masochistisch veranlagt, gewiss nicht“, sagte Simona.


„Man weiß, dass es wehtut, obwohl es einen persönlich nichts angeht. Es tut hier weh“, sagte Sonja und zeigte auf ihr Herz. Keine Anmaßung, keine eingebildete Wichtigkeit. Untergeordnet. Trauer.


Da war sie wieder, meine emotionale Sonja. Aber genau diese Emotionalität liebte ich ja so an ihr. Ihre Menschlichkeit. Es war klar. Gerds Rationalität stand ihrem Weltbild konträr gegenüber. Womöglich machte ihn das für sie attraktiv. Ich beobachtete die beiden, wie sie sich gegenübersaßen und ihre Weltanschauungen aufeinander prallten.


Brauchte es Masochismus, um sich gedanklich in Situationen zu versetzen, die uns Menschen an unsere Grenzen führen konnten? Jeder hatte sicher schon mal einen Kriegsfilm gesehen, in dem Menschen starben. Das gehörte zum Krieg dazu, da wird gestorben. Krieg ist hässlich, da erwartet keiner Menschlichkeit. Wir waren nicht im Krieg, wir waren im Urlaub. Zumindest waren wir es bis vor einigen Stunden gewesen. Und wir waren jetzt in einer Grenzsituation, in der unser Mitfühlen als Menschen und unsere Tatkraft gefordert waren.


So wie man es im Krieg lernt, wie schmerzhaft und dreckig der Krieg ist, wurde es uns jetzt beigebracht, wie es ist, wenn man völlig Fremden dabei hilft, ein vermisstes Kind zu suchen. Man denkt nicht nach, man handelt. War es daher müßig, es sich vorzustellen, weil man es sich nicht vorstellen konnte? Das Denken kommt erst später, dachte ich. Aber verhielten wir uns richtig? Gab es Regeln? Interessante Frage.


„Gibt es Regeln?“ fragte ich in die Runde, „Ich meine, gibt es Regeln, wie man sich verhalten soll, in so einer Situation?“


„Was meinst du?“ fragte Simona. Alle schauten mich an.


„Ich meine, verhalten wir uns richtig. Tun wir, was zu tun ist?“, erklärte ich meine Gedanken.


„Ich denke, wir tun alles, was man von uns erwartet hat. Was sollte man mehr tun? Wir haben gefeiert, wir haben Karten gespielt, wir haben getrunken, wir waren oder wir sind betrunken, man hat uns völlig überrascht und wir haben das Kind gesucht. Was hätte man mehr tun können? Wir haben es nicht gefunden, aber das liegt nicht in unserer Macht“, sagte Sonja mit mehreren Pausen dazwischen.

„Und wir sind emotional sehr beteiligt und das alles geht uns mächtig an die Nieren. Ich kann das natürlich nur für mich sagen. Ist so.“


Sie saß mit zusammengekniffenen Knien auf ihrem Campingstuhl, die Arme auf die Schenkel gelegt, hielt ihre Hände darüber gefaltet. Die Fußspitzen zeigten zueinander. In ihren Augen waren Tränen zu sehen. Sie bemerkte es und wischte sie sich mit einer Hand weg. Simona stand auf und kam zu ihr herüber und nahm sie in den Arm. Sonjas Gesicht verschwand hinter ihren Locken und sie begrub ihre Tränen in Simonas Schulter.


Gerd schaute zu mir herüber und hielt mir die Flasche Cola hin. Ich nahm sie und trank einen großen Schluck. Das Gespräch war beendet. Für jetzt. Ich stand auf und ging zum Toilettenhaus herüber. Der Gang war sicherer, nicht mehr schwankend wie zu Beginn der Suche. Nüchtern war ich noch nicht. Ich schaltete kein Licht an. Das Mondlicht reichte aus, um das Innere des Hauses zu beleuchten. Ich stand sicher eine ziemliche Weile dort und schaute aus dem Fenster. Sonja. Sie trat im Moment in meinen Gedanken hinter Nora zurück.


Nora. War die Kleine noch am Leben? Ich konnte es für mich beantworten: ja, und man konnte sich um jemanden ängstigen, den man noch nicht einmal kannte. Ja, das konnte man.

Ich ging zurück mit dem Vorsatz, meine negativen Gedanken vertreiben zu wollen. Nora war noch am Leben und wir mussten sie nur finden.




Noras Tod

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