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§ 1 Annäherungen an den neuzeitlichen Religionsbegriff
1. Ein grundlegender Bedeutungswandel
Wenn wir heute den Begriff „Religion“ in einer sehr allgemeinen Bedeutung verwenden, unter den sich recht verschiedene Phänomene fassen lassen, so geht das auf einen Bedeutungswandel zurück, der sich sachlich vor allem im 17. Jahrhundert vollzogen hat. Der historische Grund für die Entstehung des neuzeitlichen Religionsbegriffs liegt vor allem in den teilweise unerbittlichen nachreformatorischen Aggressivitäten zwischen den Konfessionen. Unterschiedliche Wahrheitsansprüche standen sich gegenüber oder prallten weithin unversöhnlich aufeinander. Die konfessionellen Antagonismen gefährdeten den inneren und äußeren Frieden, was sich in besonders drastischer Ausprägung in den Konfessionskriegen zeigt, aber weit darüber hinausgeht. Die überkommene enge Verknüpfung von Religion und Wahrheit ließ sich nicht weiter festhalten. Vielmehr wurden an das Religionsverständnis neue Ansprüche gestellt, die den gegeneinander stehenden Wahrheitsansprüchen übergeordnet wurden. Der dafür verwendete, nun konfessionsübergreifend verstandene, zum Oberbegriff gewordene Religionsbegriff entspringt gleichsam dem Friedensbedürfnis gegenüber den von der nachreformatorischen Konfessionalisierung ausgegangenen Gefährdungen. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der allgemeine Religionsbegriff seinen Ursprung weniger in der Theologie als vielmehr in der modernen Staatsphilosophie (→ § 2,2 Hobbes) hat.
1.1 Religio – das vorneuzeitliche Religionsverständnis
Zur Unterscheidung vom neuzeitlichen Religionsbegriff verwenden wir für das bis dahin geltende Religionsverständnis den lateinischen Begriff religio. Der Blick in ein Wörterbuch instruiert über die beiden Hauptbedeutungen dieses Begriffs. Sie lassen sich einerseits auf „Bedenken, Gewissenhaftigkeit, Gottesfurcht“ und andererseits auf „Gottesdienst, Kultus, Heiligkeit“ konzentrieren. Darin deuten sich die beiden für unseren Zusammenhang bedeutungsvollen Dimensionen der Verwendung des Begriffs religio an:1
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1. Das Verständnis von religio war stets mit einem bestimmten Glaubensverständnis und dem damit verbundenen Wahrheits- und Legitimitätsanspruch verbunden. Es wurde zwischen ‚wahrer Religion‘ (religio vera) und ‚falscher Religion‘ (religio falsa) in Sinne einer Grenzziehung zwischen rechter und verkehrter Gottesverehrung unterschieden. In diesem Sinne steht religio für eine anzuerkennende Glaubensgewissheit (synonym gebraucht mit fides). Wenn Martin Luther schreibt: Extra Christum omnes religiones sunt idola2 (Jenseits von Christus sind alle religiones Götzendienst), so liegt der Akzent auf den Vollzügen der Gottesverehrung. Religio wird synonym zu cultus gebraucht. Aller Kult sei so lange zu verdammen, wie er sich nicht allein auf den Glauben an Christus stützt.3 – Kommen andere Glaubensgewissheiten in den Blick, so wurden als Oberbegriffe vor allem secta oder lex verwandt. Von den drei Religionen Judentum, Christentum und Islam wurde als den tres leges gesprochen – ein Sprachgebrauch, der bis in Gotthold E. Lessings Nathan der Weise nachgewirkt hat, wo es heißt: „Was für ein Glaube, was für ein Gesetz / Hat dir am meisten eingeleuchtet?“4
2. Mit religio wurde in institutionellem Gebrauch derjenige Stand bezeichnet, der seiner beruflichen Bestimmung nach die rechte Gottesverehrung repräsentierte, nämlich die Orden.
Noch für die Reformationszeit ist von diesen beiden Gebrauchsweisen von religio auszugehen. So stellt etwa Huldrych Zwingli seine grundlegenden Einsichten über den reformatorischen Glauben unter den Titel De vera et falsa religione commentarius (1525). Das gilt ebenso für die deutlich umfänglichere Dogmatik von Johannes Calvin mit dem Titel Institutio christianae religionis (Unterricht in der christlichen Religion; letzte Fassung 1559). Es geht allein um die (reine) Lehre ([sana] doctrina) zur rechten Verehrung Gottes nach dem christlichen Glauben, ohne dass Calvin dabei auf die Idee gekommen wäre, eine interkonfessionelle oder gar interreligiöse Dimension ins Auge zu fassen. Die älteste Verteidigungsschrift des christlichen Glaubens, die religio im Titel führt, stammt von Augustin (um 390): De vera religione.
Die Etymologie von religio lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Der Religionswissenschaftler Carsten Colpe schreibt: „Das lat. Wort religio wird schon von den Alten verschieden abgeleitet, z. B. von Cicero (De natura Deorum 2, 28, 72) von relegere‚ (wieder)zusammennehmen (was sich auf die Verehrung der Götter bezieht)‘; und von einem beim Grammatiker Gellius (4, 9, 1) zitierten Etymologen von der Nebenform religere ‚rücksichtlich beachten‘; dagegen von Servius (ad Verg. Aen. 8, 349), Lactantius (Inst. 4,28) und Augustinus (Retract. 1, 13,9) von religare ‚zurückbinden, an etwas befestigen‘. Moderne Etymologen neigen der letzteren Ableitung zu (Wurzel lig- ‚binden‘); religio bedeutet dann ursprünglich dasselbe wie obligatio, nämlich ‚Verbindlichmachung, Verpflichtung‘. Daneben wird aber auch die Ableitung von leg- ‚sich kümmern um‘ vertreten; dann wäre religio etwas Ähnliches wie diligentia ‚Achtsam-keit‘. “5 Andere Religionswissenschaftler verzichten ganz auf eine Herleitung des Begriffs, nicht nur weil sie sich nicht tatsächlich klären lässt. Sie weisen darauf hin, dass eine inhaltliche |12◄ ►13| Ableitung den problematischen Eindruck erwecken könne, der Begriff lasse sich auch in nichteuropäische Sprachen übersetzen, um dann zur Selbstbezeichnung entsprechender Inhalte empfohlen zu werden. Die Reichweite des Religionsbegriffs wird dann ausdrücklich auf die europäische Religionsgeschichte begrenzt.6
1.2 Die Entdeckung des Menschen – der Renaissance-Humanismus
Eine fundamentale Voraussetzung sowohl für die Neuzeit als auch für das neuzeitliche Religionsverständnis liegt in der Entdeckung der besonderen Herausgehobenheit und somit des von Gott ausgezeichneten Adels des Menschen, wie sie sich im Humanismus der Renaissance vollzogen hat. Die verschiedentlich vorgetragene Annahme, dass es bereits hier zu einer verallgemeinernden Neufassung des Religionsverständnisses gekommen sei, ist zwar nahe liegend, lässt sich aber nicht tatsächlich ausreichend belegen.7 Aber zweifellos kommt es im Humanismus zu Weichenstellungen, ohne die der allgemeine neuzeitliche Religionsbegriff nicht denkbar ist. Dies gilt vor allem für den mit Pathos vorgetragenen Aufbruch zu einem grundlegend neuen Selbstbewusstsein des Menschen.
Verstand sich der Mensch bisher als hineingestellt in eine fest gefügte, Gott gegebene Ordnung, so tritt er nun aus diesem Gefüge hervor und beansprucht die Freiheit zu eigener Gestaltung seiner Wirklichkeit. Es verbreitet sich ein Überdruss an den nur noch mühselig nachzuvollziehenden Entwicklungen der scholastischen Theologie des Spätmittelalters, die sich immer mehr in Detailfragen verlor oder eben ein spekulativ konstruiertes Wirklichkeitsverständnis propagierte, das sich nicht mehr mit den Erfahrungen der Menschen plausibel vermitteln ließ. Im Rahmen der zunehmenden Verrechtlichung der Kirche, die durch die Anzeichen des Humanismus dann noch beschleunigt wurde, verschärfte sich die Betonung der zu bewahrenden Tradition. Das führte zu einer rückwärtsgewandten Formalisierung der Autorität der Kirche, die sich einer rapide anwachsenden Kritik gegenübergestellt sah.
Gegen diese sich abstrahierende Autorität der Kirche kommt es im Rückgriff auf die Antike (deshalb Renaissance), wo die verstandesmäßige Durchdringung der den Menschen betreffenden Fragen an die Stelle der mythischen und symbolischen Erfassungsversuche der Weltwirklichkeit trat (Demokrit: „Der Mensch ein Kosmos im kleinen.“8), zu einer selbstbewussten Entdeckung des Menschen in seiner Gottebenbildlichkeit. Während in der Antike die hervorgehobene Anthropologie bis zur ausdrücklichen Kritik des Gottesglaubens reichte (→ § 4,2.1), gestaltete sich ihre Wiederentdeckung im Humanismus in einer teilweise massiven Kirchenkritik.
Im Humanismus wurde vor allem immer wieder der Vorwurf des Götzendienstes |13◄ ►14| erhoben. Petrarca, Boccaccio, Michelangelo, Raffael, Budé, Reuchlin oder Erasmus von Rotterdam heben gegenüber den Gängelungen von Seiten der Kirche die im Menschen liegenden Begabungen hervor. Dabei steht die über die Natur erhobene Freiheit im Zentrum, die den Menschen dazu befähigt und auch autorisiert, die Welt zu gestalten und zu beherrschen. – Das Epochejahr 1492 symbolisiert dabei sowohl den gefeierten Aufbruch (Entdeckung Amerikas, die Konstruktion des ersten Globus von Martin Behaim) als auch die Ambivalenz des für sich selbst in Anspruch genommenen Pathos (Beginn des Kolonialismus, Vertreibung der Juden aus Spanien).
Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494) war von der Idee durchdrungen, dass es eine fundamentale Übereinstimmung zwischen Philosophie und recht verstandener Glaubenslehre gebe. Er befand sich im permanenten Konflikt mit der Kirche, wurde aber kurz vor seinem Tod rehabilitiert.
In das Epochejahr 1492 fällt möglicherweise auch eine wirkungsgeschichtlich bedeutungsvolle Schrift (Datierung bleibt unsicher, wahrscheinlich allerdings erst posthum 1496) des italienischen Humanisten Giovanni Pico della Mirandola mit dem Titel De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) – „eines der edelsten Vermächtnisse“ der Renaissance.9 Diese Schrift soll als Exemplum der „dignitas-hominis“-Literatur ein Licht auf den Neuaufbruch des Humanismus werfen. Pico verstand sich zutiefst im Einklang mit dem christlichen Bekenntnis, wenn auch nicht mit der offiziellen Lehrmeinung der Kirche. Mit Hilfe des biblischen Motivs der Gottebenbildlichkeit sollte der Mensch auf seine eigenen Füße gestellt werden. Die traditionelle Kosmozentrik der Theologie soll in eine Anthropozentrik überführt werden. Dem Menschen werden bisher kaum geahnte Freiheiten zugesprochen und zwar von Gott selbst, der dem Menschen die Welt in seine Hände gelegt habe. Die traditionell dominierende Lehre der Sünde tritt in den Hintergrund. An ihre Stelle tritt der triumphierende Christus, durch den die menschliche Seele erhoben wird. Nicht die Stimmigkeit mit der überkommenen theologischen Lehre steht im Vordergrund, sondern die praktische Lebendigkeit des Glaubens. All dies sind Elemente, die später von der Aufklärungstheologie aufgenommen und weitergeführt werden. Lassen wir Pico selbst zu Worte kommen:
Also war er [Gott] zufrieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach ihn so an: ‚Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gestellt, damit du dich von dort aus bequemer umsehen kannst, was es auf der Welt gibt. Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevor-zugst.|14◄ ►15| Du kannst zum Niedrigeren, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.‘10
Gott hat dem Menschen alle Möglichkeiten gegeben, nun aber muss er selbst zusehen und daraus etwas machen. Er kann sich verfehlen, nicht nur bis zum Tier, sondern bis hin zur Pflanze, aber er kann sich eben auch erheben und unmittelbar neben Gott platzieren. Ein ungeheurer Optimismus spricht aus den Formulierungen:
Wenn du nämlich einen Menschen siehst, der seinem Bauch ergeben auf dem Boden kriecht, dann ist das ein Strauch, den du siehst, kein Mensch; wenn einen, der blind in den nichtigen Gaukeleien der Phantasie ... verfangen, durch verführerische Verlockungen betört und seinen Sinnen verfallen ist, so ist das ein Tier, das du siehst, kein Mensch. Wenn einen Philosophen, der in rechter Abwägung alles unterscheidet, kannst du ihn verehren: er ist ein himmlisches Lebewesen, kein irdisches. Wenn du aber einen reinen Betrachter siehst, der von seinem Körper nichts weiß, ins Innere seines Geistes zurückgezogen, so ist der kein irdisches, kein himmlisches Lebewesen; er ist ein erhabenes, mit menschlichem Fleisch umhülltes göttliches Wesen. (9)
Die Anstürme der Leidenschaft wollte Pico mit Hilfe der „Morallehre ... zügeln“ (15), um „die Streitlust des Löwen“ in uns zu besänftigen (19). Er weiß um die Ambivalenz der Vernunft, die sowohl zum Guten, aber auch auf verderbliche Wege leiten kann, und erhofft sich deshalb von der Moral einen haltbaren Frieden. Nicht die Philosophie vermag hier wirklich Ruhe zu bringen, weil auch von ihr der Wettstreit befördert wird, „sondern dies sei Aufgabe und Vorrecht ihrer Herrin, der heiligen Theologie“ (19). Gegen die ordnungspolitische Verwaltung des Glaubens von Seiten der zeitgenössischen Kirche stellt Pico in seiner Anthropologisierung der Theologie entschieden die humanisierende Seite des Glaubens heraus.
1.3 Ansätze zu einem neuen Verständnis
Es kann überall da von Ansätzen für ein tatsächlich neues Verständnis von religio gesprochen werden, wo sich die bisher charakteristische Bindung an eine bestimmte Wahrheit, einen bestimmten Glauben bzw. eine bestimmte Gottesverehrung zugunsten eines neutraleren, verschiedene Glaubensrichtungen übergreifenden Verständnisses zu lockern beginnt. Die ersten Belege, die in diese Richtung weisen, finden sich im 17. Jahrhundert. Es lässt sich kein klarer Schnitt ausmachen, sondern der Übergang vollzieht sich eher schleichend, auch wenn mit dem Grad der Veränderung die Entschlossenheit zu einer Neufassung des Religionsverständnisses wächst.
Den ausschlaggebenden historischen Hintergrund bilden die zum Teil verheerenden gesellschaftlichen und politischen Folgen der unerbittlichen nachreformatorischen konfessionellen Auseinandersetzungen. Ernst Feil hat gezeigt,11 dass zunächst |15◄ ►16| durchaus überraschend lang versucht worden ist, dieses Problem im entschlossenen Beharren auf der eigenen Wahrheit zunächst der Ethik zuzuweisen. Es wurde also an die Friedfertigkeit der je eigenen Überzeugung appelliert.
Im theosophischen Denken von Jakob Böhme (1575 – 1624), einer Art Mystik des Geistes (im Unterschied zu einer Mystik des Herzens), kommt es gerade angesichts der herrschenden Finsternis darauf an, dem Licht der Herrlichkeit Gottes Geltung zu verschaffen, was nur gelingen kann, wenn konsequent der Friede über unsere immer begrenzt bleibende Einsicht in die Wahrheit gestellt wird. Damit beginnt die für die Neuzeit dann bald charakteristisch werdende Tendenz, in der mehr und mehr entschlossen die Bedeutung der Ethik vor die der Dogmatik gerückt wird.
Es ist die größte Torheit in Babel, daß der Teufel hat die Welt um die Religionen zankend gemacht, daß sie um selbstgemachte Meinung zanken, um die Buchstaben, da doch in keiner Meinung das Reich Gottes stehet, sondern in Kraft und der Liebe. Auch sagte Christus und ließ es seinen Jüngern zuletzt, sie sollten einander lieben. Dabei würde jedermann erkennen, daß sie seine Jünger wären, gleichwie er sie geliebt hätte. Wenn die Menschen also sehr nach der Liebe und Gerechtigkeit trachteten als nach Meinungen, so wäre gar kein Streit auf Erden. Wir lebten als Kinder in unserem Vater und bedürften keines Gesetzes noch Ordens.12
Wenn Herbert von Cherbury (1583 – 1648) „als Vater der Religions- und Offenbarungskritik der Aufklärung“ bezeichnet wird,13 so liegt der Ton auf der rationalen Zähmung des Offenbarungsglaubens und nicht so sehr auf der Neutralisierung des Religionsbegriffs als eines allgemeinen Oberbegriffs. Auch Herbert verfolgt noch – ebenfalls zur Beförderung des Friedens – ein qualitatives Religionsverständnis, das sich zwar ähnlich wie bei Jakob Böhme aus der konfessionellen Bindung gelöst hat, nun aber eben eine übergeschichtliche rationalistische Bindung eingeht, die daraufhin angelegt ist, sich die verschiedenen Konfessionen unterzuordnen. Die Wahrheitsfähigkeit wird unter die Kontrolle der Vernunft gestellt. Die Vernunft vertraut der Natur, und dieses Vertrauen entspricht dem Vertrauen zu Gott: Vernunft-, Natur- und Gottvertrauen werden miteinander identifiziert. Nach De veritate (1624)14 sind es fünf Vernunftwahrheiten (notitiae communes – allgemeine Bemerkungen), an denen sich die Friedensfähigkeit der Religion entscheidet:
1. der Glaube an den einen Gott als ewige und allmächtige Ursache, Lenker und Ziel aller Dinge;
2. die Verehrung dieses einen Gottes – auf durchaus unterschiedliche Weise, d. h. unabhängig von den kirchlich erhobenen Machtansprüchen;
3. der sittliche Gottesdienst (cultus divinus) in der Gestalt frommer Gesinnung und tugendhafter Lebensführung, die sich am Gewissen orientieren;
4. die Wahrnehmung der eigenen Unvollkommenheit (Sündenschmerz) und die Bereitschaft zur Buße für schuldhaftes Fehlverhalten; |16◄ ►17|
5. das Bewusstsein von einem zu erwartenden jenseitigen Leben mit der Vergeltung von Gut und Böse.
Die mit der Betonung der Vernunft verbundene Abwertung alles dessen, was zur Geschichte gehört, weist in die Richtung der Unterscheidung von ‚zufälligen Geschichtswahrheiten‘ und ‚notwendigen Vernunftwahrheiten‘ bei Gotthold E. Lessing etwa anderthalb Jahrhunderte später.15 Die Wahrheitsfähigkeit liegt nicht im überkommenen Glauben, sondern folgt der ratio des Menschen.
2. Zum Problem der Definierbarkeit von Religion
Neben dem historischen und geistesgeschichtlichen Zugang stellen wir uns nun der systematischen Frage nach dem Verständnis von Religion. Dabei stoßen wir auf den Umstand, dass wir hier nicht einfach auf eine allgemein anerkannte Definition zurückgreifen können (2.1). Die unüberschaubare Vielzahl möglicher Definitionen wirft zugleich die Frage auf, ob es überhaupt sinnvoll ist, Religion definieren zu wollen (2.2).
2.1 Definitionen
Theo Sundermeier weist darauf hin, „daß es Hunderte von Definitionen von Religion gibt“.16 Ein deutlicher Hinweis auf den nach wie vor bestehenden Klärungsbedarf zeigt sich darin, dass in der Literatur auffallend häufig die Überschrift „Was ist Religion? “ zu finden ist. In den recht unterschiedlichen Definitionen spiegeln sich einerseits die verschiedenen und die sich wandelnden Perspektiven wider, in denen die Religion in den Blick genommen wird, und andererseits die unterschiedlichen Verwendungsoptionen für die jeweilige Beschäftigung mit der Religion. Jeder dieser Definitionen eignet eine eigene Schwerpunktsetzung. Die folgende kleine Auswahl soll zur Diskussion der Akzente der unterschiedlichen Perspektiven auf die Religion anregen.
Friedrich Schleiermacher (1799): Religion „begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl. Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüssen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“ – „Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche.“17
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Karl Gottlieb Bretschneider (1822): Das Wort Religion, das vom Lateinischen religio abstammt, wird zufolge der Erfahrung von dem Glauben an übermenschliche Macht (Götter), und an ihren Einfluß auf die Welt, und der dadurch entstehenden Verehrung derselben gebraucht. Im allgemeinen ist sie daher: Kenntnis und Verehrung Gottes, oder der Götter (...). Dieses ist der historische Begriff der Religion, und alle noch so verschiedenen Religionen haben zwei Hauptbestandtheile, a) den Glauben an erhabene Wesen, welche mit der Welt verbunden sind, und die Schicksale der Menschen leiten; und b) Verehrung dieser Wesen, oder die Bemühung der Menschen, das Wohlgefallen derselben zu erwerben und ihre Strafen abzuwenden.18
Albrecht Ritschl (1874): In aller Religion wird mit Hilfe der erhabenen geistigen Macht, welche der Mensch verehrt, die Lösung des Widerspruches erstrebt, in welchem der Mensch sich vorfindet als Theil der Naturwelt und als geistige Persönlichkeit, welche den Anspruch macht, die Natur zu beherrschen. Denn in jener Stellung ist er Theil der Natur, unselbständig gegen dieselbe, abhängig und gehemmt von den anderen Dingen; als Geist aber ist er von dem Antriebe bewegt, seine Selbständigkeit dagegen zu bewähren. In dieser Lage entspringt die Religion als der Glaube an erhabene geistige Mächte, durch deren Hilfe die dem Menschen eigene Macht in irgend einer Weise ergänzt oder zu einem Ganzen in seiner Art erhoben wird, welches dem Drucke der Naturwelt gewachsen ist.19
Wilhelm Herrmann (1905): Das Vertrauen, das die von uns erfahrene Macht sittlicher Güte in uns schafft, ist der Glaube an Gott, die wirkliche Religion. Jede andere Vorstellung von Gott muß schließlich von dem Menschen verlassen werden, dessen sittliche Erkenntnis sich entwickelt, und wird ihm dann ein Götzenbild. Diese eine kann die Menschheit durch ihre Geschichte leiten, deren ewiges Ziel die Gemeinschaft freier Personen ist, die Verwirklichung alles dessen, worauf die Energie des guten Willens geht. 20
Paul Natorp (1908): Religion vertritt eine eigene Grundgestalt des Bewußtseins, nämlich das Gefühl, und zwar das Gefühl in seiner höchsten Potenz, in seinem Anspruch, die universelle, alle andern umfassende und vereinende Grundkraft, den ursprünglichsten, unerschöpflich lebendigen Quell alles Bewußtseins darzustellen.21
Religion, oder was sich unter diesem Namen bisher barg, ist genau so weit festzuhalten, als sie innerhalb der Grenzen der Humanität beschlossen bleibt, dagegen nicht mehr, sofern der ungemessene Drang des Gefühls sie verleitet, deren Grenzen zu durchbrechen und ihren ewigen Gesetzen den Gehorsam zu versagen. (121)
Rudolf Otto (1917): Religion wird in der Geschichte erstens, indem in der geschichtlichen Entwicklung des Menschengeistes im Wechselspiel von Reiz und Anlage letztere selber Aktus wird, mitgeformt und mitbestimmt durch jenes Wechselspiel; zweitens, indem kraft der Anlage selber bestimmte Teile der Geschichte ahnend erkannt werden als Erscheinung des Heiligen, deren Erkenntnis auf Art und Grad des ersten Moments einfließt; und drittens, indem auf Grund des ersten und zweiten Momentes Gemeinschaft mit dem Heiligen in Erkenntnis Gemüt und Willen sich herstellt. So ist Religion allerdings durchaus Erzeugnis von Geschichte, sofern nur Geschichte einerseits die Anlage für die Erkenntnis des Heiligen entwickelt und |18◄ ►19| andererseits selber, in Teilen, Erscheinung des Heiligen ist. ‚Natürliche‘ Religion, im Gegensatz zu geschichtlicher, gibt es nicht; angeborene Religion noch weniger.22
William James (1925): Sofern der Mensch unter dem Gefühl, daß etwas nicht in Ordnung mit ihm ist, leidet, und er diesen seinen (natürlichen) Zustand selbst als unnormal empfindet, besitzt er die ahnende Vorstellung eines vollkommeneren Zustandes, und damit besteht die Möglichkeit, daß er zu einer höheren Realität in Beziehung tritt, wenn eine solche existiert. Potentiell liegt in ihm also bereits ein Prinzip des Besseren und Höheren, wenn auch nur als bloße Keimanlage. Mit welchem Teil er sein wahres Ich identifizieren soll, ist ihm auf der ersten Stufe noch durchaus undeutlich. Aber auf Stufe 2 identifiziert der Mensch sein wahres Ich mit dem keimhaften besseren Teil seiner selbst, und zwar in folgender Weise: Er wird inne, daß dieser bessere Teil mit etwas Höherem (einem ‚Mehr‘) derselben Art in engster Verbindung steht, das außer ihm im Universum wirkt, mit dem er sich in Beziehung setzen und zu dem er sich hinüberretten kann, wenn sein ganzes niederes Sein Schiffbruch erlitten hat.23
Alfred North Whitehead (1926): Aber im einen oder anderen Sinn ist Rechtfertigung die Grundlage aller Religion. Unser Charakter entwickelt sich im Verhältnis zu unserem Glauben. Das ist die grundlegende religiöse Wahrheit, der sich niemand entziehen kann. Religion ist die Kraft des Glaubens, die die inneren Seiten des Menschen reinigt.... Religion ist die Fähigkeit und die Theorie vom inneren Leben des Menschen, soweit dies vom Menschen selbst und von dem, was beständig ist im Wesen der Dinge, abhängt. Diese Einsicht bedeutet die direkte Verneinung der Theorie, daß Religion in erster Linie ein sozialer Vorgang sei... . Religion ist das, was das Individuum mit seiner eigenen Einsamkeit anfängt. Sie durchläuft drei Stadien, wenn sie sich zu ihrer endgültigen Erfüllung entwickelt. Es ist dies der Übergang von Gott dem Fernen zu Gott dem Feind, und von Gott dem Feind zu Gott dem Gefährten. Daher bedeutet Religion Einsamkeit, und wer niemals einsam ist, wird niemals religiös sein. Kollektive Begeisterung, Erweckungen, Institutionen, Kirchen, Rituale, Bibeln, Verhaltensregeln sind schmückende Beigaben der Religion, sind ihre Durchgangsformen.24
Paul Tillich (1955): Die Religion ist keine spezifische Funktion, sie ist die Dimension der Tiefe in allen Funktionen des menschlichen Geisteslebens... . Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen des menschlichen Geistes. Es wird offenbar in der Sphäre des Ethischen als der unbedingte Ernst der ethischen Forderung, ... in dem Reich des Erkennens als das leidenschaftliche Verlangen nach letzter Realität; ... in der ästhetischen Funktion des menschlichen Geistes als die unendliche Sehnsucht nach dem Ausdruck des letzten
Sinnes... . Die Religion ist die Substanz, der Grund und die Tiefe des menschlichen Geistes.25
Carsten Colpe (1968): Religion sei die Qualifikation einer lebenswichtigen Überzeugung, deren Begründung, Gehalt oder Intention mit den innerhalb unserer Anschauungsformen von Raum [und] Zeit gültigen Vorstellungen und mit dem Denken in den dazu gehörenden Kategorien weder bewiesen noch widerlegt werden kann.26
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Thomas Luckmann (1972): Unter Religion verstehe ich ... Wirklichkeitskonstruktionen – die gesellschaftlich-geschichtlich mehr oder minder bindend vorgegeben und subjektiv mehr oder minder modifizierbar sind.... Als religiös bezeichne ich jene Schichten der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen, die Transzendenzerfahrungen entspringen und mehr oder minder nachdrücklich als auf eine nicht-alltägliche Wirklichkeit bezogen erfasst werden.27
Kurt Rudolph (1976): Religion ist der von der Tradition bestimmte Glaube einer Gemeinschaft oder eines Individuums an die mehr oder weniger starke Abhängigkeit (Bestimmtheit) des natürlichen und gesellschaftlichen Geschehens von übermenschlich oder überirdisch wirkenden persönlichen Mächten und die daraus resultierende Verehrung derselben durch bestimmte kultisch geprägte Handlungen, die von der Gemeinschaft in festen Formen überliefert werden. 28
Niklas Luhmann (ca. 1996): Religion scheint immer dann vorzuliegen, ... wenn man einzusehen hat, weshalb nicht alles so ist, wie man es gerne haben möchte [Luhmann verweist auf Hegel: ‚Religion ist nun eben dies, daß der Mensch den Grund seiner Unselbständigkeit sucht‘]. Gerade dies kann der Einzelne, da es seinem Selbstbewußtsein widerspricht, nicht durch Selbstreflexion herausfinden. Der Grund dafür muß ihm mitsamt der Problemstellung durch Kommunikation gegeben sein.29
Theo Sundermeier (1999): Religion ist die gemeinschaftliche Antwort des Menschen auf Transzendenzerfahrung, die sich in Ritus und Ethik Gestalt gibt.30
Schon diese kleine Auswahl verdeutlicht die Unabgleichbarkeit der verschiedenen Perspektiven auf die Religion. Es liegt im Wesen eines solchen Allgemeinbegriffs, dass er vorwiegend von formalen Merkmalen bestimmt wird. Die jeweilige Aufmerksamkeit wird auf einen bestimmten Phänomenbereich und einen entsprechenden Rezeptionszusammenhang gelenkt. Der Vielschichtigkeit des Phänomens entspricht die Vielfalt seiner Wahrnehmungsperspektiven. Religion kann aus soziologischer, psychologischer, philosophischer, gesellschaftspolitischer, anthropologischer, ethnologischer, kulturwissenschaftlicher, juristischer, historischer und theologischer Sicht wahrgenommen werden, um nur die Hauptinteressenten zu nennen. In den Religionswissenschaften werden verschiedene Perspektiven zu einem eigenen Konzept miteinander verknüpft, was aber keineswegs bedeutet, dass sie deshalb den Schlüssel für eine vollständige Erfassung in der Hand hätten. Der Mensch müsste schon gleichsam über sich selber stehen, wenn er eine letzte Antwort zu geben beanspruchen wollte.
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2.2 Wie sinnvoll ist eine Definition von Religion?
Die Definitionen des Religionsverständnisses haben inzwischen ein Abstraktionsniveau erreicht, auf dem sie unwillkürlich in die Gefahr geraten, kaum noch eine unmittelbar identifizierte Aussage zu machen. Fritz Stolz spricht bereits im Blick auf die Religionswissenschaften von dem „Verlust ihres Gegenstandes“.31 Carsten Colpe beschränkt sich in dem ausgewählten Zitat auf eine negative Definition, sodass es nicht verwundert, wenn er an anderer Stelle auch grundsätzliche Skepsis gegenüber den Versuchen äußert, Religion definieren zu wollen:
Eine völlig exakte und zugleich alles einschließende Religionsdefinition ist nicht möglich, da sie es weder, wie die Mathematik und die Logik, mit einem Objekt zu tun hat, bei dem man selbst bestimmen kann, was es enthalten soll, noch, wie die Naturwissenschaft, mit einem, bei dem man sich sicher sein kann, die Kategorie des Ganzen als selbständige Qualität neben der der Summe erfaßt zu haben.32
Schon Ernst Troeltsch hat die Definierbarkeit des Wesens der Religion grundsätzlich bestritten,33 und gegenwärtig wachsen aus unterschiedlichen Gründen die Vorbehalte gegenüber der Möglichkeit, eine allgemeine Religionsdefinition aufstellen zu können. Provokant stellt Jonathan Z. Smith fest: „Religion is solely the creation of the scholar’s study.“34
Unabhängig von dieser Aussichtslosigkeit wird heute in den Religionswissenschaften ein spezifischer Einwand gegen die neuzeitliche Tendenz artikuliert, den Religionsbegriff immer weiter zu generalisieren, um ihm schließlich eine universelle Bedeutung zumessen zu können. Er läuft darauf hinaus, ihn auf den Kulturraum seiner Entstehung zu limitieren, da sich hier die von ihm bezeichneten Phänomene mit dieser Bezeichnung arrangiert haben (das steht im Hintergrund, wenn das Projekt einer Europäischen Religionsgeschichte annonciert wird). Es kann nicht einfach davon ausgegangen werden, dass der in Europa entwickelte neuzeitliche allgemeine Religionsbegriff universal angewendet werden kann. Die Ausweitung des Radius des Religionsverständnisses über die Grenzen Europas hinaus bleibt insofern von den eurozentrischen Denkkategorien geprägt, als sie eben das als Religion identifiziert, was mit bestimmten Klassifikationen und Implikationen (etwa ethischer Art) innerhalb der eigenen Kultur als Religion in Erscheinung tritt. In vielen außereuropäischen Kulturen gibt es kein Äquivalent zum allgemeinen Religionsbegriff.35 Die in fremden Kulturen als Religionen identifizierten Phänomene sagen deshalb mehr über unseren Zugang zu diesen Kulturen aus als über das Selbstverständnis der mit „Religion“ etikettierten beschriebenen Wirklichkeit.36 Die von den westlichen Wissenschaften |21◄ ►22| bisher in Anspruch genommene Definitionshoheit impliziert die Gefahr, die Unterschiedlichkeit der Phänomene zu nivellieren, indem sie diese durch Kategorisierungen in eine problematische Vergleichbarkeit versetzt, die zumindest implizit von den jeweiligen Prägungen des eigenen Kontextes orientiert und somit dominiert wird.
Werden beide Aspekte zusammen genommen – das nicht eindeutig zu lösende Problem der Definierbarkeit von Religion auf der einen Seite und die Kritik des Eurozentrismus im universalisierten Religionsbegriff auf der andere Seite –, so ergibt sich insofern eine deutliche Entspannung, als sich beide Tendenzen gegenseitig entschärfen und somit zu einer gewissen Relativierung der Problemkonstellation führen.
Es bedarf schließlich einer gewissen Klarheit des Verständnisses, wenn der Gebrauch des Begriffs sinnvoll sein soll. Die kann sowohl durch positive Bestimmungen als auch durch negative Abgrenzungen gewonnen werden. Nur auf diese Weise kann die Religionswissenschaft ihren Gegenstand beschreiben. Allerdings bleibt zu konstatieren, dass es sehr unterschiedliche Methoden gibt, sich dem Gegenstand zu nähern, die je einem eigenen Reflexionsinteresse folgen. Ein ebenso grundlegender wie konsequenzenreicher Unterschied zeigt sich in der Frage, ob eine Religion verstanden oder erklärt werden soll. Das Verstehen setzt eine intime Einlassung voraus, die auch die jeweilige Theologie einzubeziehen hätte – es ginge damit über den Bereich der Religionswissenschaft im traditionellen Verständnis hinaus. Das Erklären wahrt dagegen eine kritische Distanz und blickt immer auch auf die jeweilige Einbettung der Religion, die zu der jeweiligen Erklärung beiträgt. Ihm eignet von vornherein eine ‚ideologiekritische‘ Dimension, die allerdings mit der religiösen Eigenperspektive in ein gespanntes Verhältnis treten kann. Dabei kann das Erklären sehr unterschiedliche Aufmerksamkeiten verfolgen.37 Diese wenigen Andeutungen zeigen bereits hinreichend den Justierungsbedarf, dem jede sinnvolle Frage nach der Religion unterworfen ist.
Auch wenn Detlef Pollack selbst keine allumfassende Religionsdefinition vorschlägt, so stellt er doch vier Forderungen an eine den heutigen Ansprüchen genügende Religionsdefinition:
Sie muß erstens so weit gefaßt sein, daß sie sich nicht nur auf die historisch gewachsenen Religionen, sondern auch auf pseudoreligiöse Phänomene wie Astrologie, New Age, neue Innerlichkeit, Sinnsuche, Okkultismus, Tischrücken, Wahrsagerei, Telepathie usw. zu beziehen vermag. Andererseits muß sie in der Lage sein, der damit entstehenden Gefahr der Beliebigkeit und Unbestimmtheit zu entgehen. Sie hat also die Aufgabe, Universalität und Konkretion miteinander zu kombinieren.
Zweitens muß sie als eine universale Definition das jeweilige Selbstverständnis der Religionen überschreiten und im Rücken der Religionsangehörigen liegende, unreflektierte soziale, historische und psychische Umstände mitberücksichtigen. Andererseits wird sie die Eigenper-spektive|22◄ ►23| der Religionen, wenn es dem Gläubigen möglich sein soll, sich in den Darstellungen der Wissenschaft wiederzuerkennen, nicht einfach übergehen können. Auch hier kommt es auf die Kombination von Innen- und Außenperspektive der Religion an. Diese Kombination wird nur zu erreichen sein, wenn man die auf Außenanschlüsse bedachte funktionale Analysetechnik mit der von den religiösen Inhalten ausgehenden substantiellen Definitionsmethode zu koppeln versucht.
Drittens stellt jede Religion einen verbindlichen Geltungs- und Wahrheitsanspruch, der von der Wissenschaft jedoch weder verifiziert noch falsifiziert werden kann. Mit ihren Methoden vermag die Wissenschaft nur zu bearbeiten, was sich intersubjektiv überprüfen läßt. Will der Religionsforscher sowohl dem existentiellen Anspruch der Religionen als auch der Forderung nach wissenschaftlicher Redlichkeit genügen, wird er also bei diesem Problem einen Ausgleich zwischen religiösem bzw. religionskritischem Engagement und wissenschaftlicher Neutralität finden müssen.
Viertens muss die zu erstellende Religionsdefinition die unüberschreitbare Zirkularität von theoretischer und empirischer Arbeit berücksichtigen. Selbstverständlich wird man bei der Bestimmung der Eigenart von Religion von theoretischen Überlegungen ausgehen müssen. Der theoretisch gewonnene Religionsbegriff muß aber so aufgestellt sein, daß er sich der empirischen Überprüfbarkeit nicht entzieht. Er muss also als ‚problemanzeigender Begriff‘ [F.-X. Kaufmann], als heuristische Hypothese formuliert sein, die sich empirisch füllen und auch korrigieren läßt. (182f.)
Alle vier Forderungen sind dadurch charakterisiert, dass sie Konkretheit und Allgemeinheit bzw. Gegenständlichkeit und Begrifflichkeit auf eine je besondere Weise miteinander in Beziehung setzen. Die Besonderheit dieser für alle Wissenschaften geltenden Grundmaxime liegt in der merkwürdigen Nicht-Gegenständlichkeit ihres Gegenstandes, der nur in Vermittlungen in Erscheinung tritt, sodass die Indirektheit seiner Erscheinungsweise stets sowohl auf seine Inhaltlichkeit als auch auf seine Funktion hin zu betrachten ist.
Der Gedankenbogen soll mit einem zugegeben recht abstrakten letzten Schritt zugespitzt werden, mit dem wir weiter Detlef Pollack folgen (vgl. 184ff.). Wenn Religion als eine Umgangsweise – neben anderen – mit dem Problem der Kontingenz – warum ist etwas, wie es ist, obwohl es auch anders sein könnte – zu betrachten ist, werden sich zumindest Charakteristika für Verhaltensweisen benennen lassen, die im Unterschied zu anderen als ‚religiös‘ zu bezeichnen sind. Eine Verhaltensweise weist sich darin als ‚religiös‘ aus, dass sie angesichts bewusster Kontingenzerfahrung einerseits die verfügbare Lebenswelt des Menschen überschreitet und andererseits eben diese Überschreitung kommunikativ auf diese Lebenswelt bezieht. Der Begriff ‚religiös‘ ist gegenüber dem Begriff der Religion insofern robuster, als sich auch der Fall einer verfassten Religion vorstellen lässt, die in ihrer Erstarrung das Moment des ‚Religiösen‘ im Sinne eines vitalen Umgangs mit dem Kontingenzproblem bis zur Unerkennbarkeit verdunkelt hat, sodass sie – etwa als äußere Tradition – zwar noch existiert, ohne aber tatsächlich eine vitale religiöse Sinnerschließung zu bieten. Wir bleiben im Horizont der zitierten Forderungen von Pollack, wenn wir in leichter Abwandlung sein Verschränkungsmodell für die Möglichkeiten einer Heuristik zur Wahrnehmung des Religiösen aufgreifen (189).
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Konsistenz | Kontingenz | |
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Immanenz | Pragmatismus (keine religiöse Frage, keine religiöse Antwort) | religiöse Suche (religiöse Frage, ohne religiöse Antwort) |
Transzendenz | religiöse Routine (reliögise Antwort ohne religiöse Frage) | vitale Religiosität (reliögise Frage und religise Antwort) |
Damit verfügen wir zwar nicht über eine Definition der Religion, wohl aber über ein Differenzierungsmodell, das bei der Frage der Abgrenzung des religiösen Phänomenbereichs eine flexible Hilfe darstellt, indem es zumindest idealtypisch ausweisbare Unterscheidungen anbietet. Das Modell lässt unterschiedliche Profile in Erscheinung treten, ohne Religion nur auf einen Typus zu beschränken und kann zugleich auch im Uhrzeigersinn gelesen werden, um dann auf wiederum idealtypische Dynamiken hinzuweisen. Das Modell ist ebenso einfach wie flexibel und verfügt daher über eine hohe Erklärungskraft. In jedem Falle werden – und darauf kommt es entscheidend an – die inhaltlichen und funktionalen Aspekte miteinander in Beziehung gehalten.
Mit einer an dieser Stelle nicht auszudiskutierenden Problemanzeige soll dieses Kapitel abgeschlossen werden. Insbesondere die modernen Religionswissenschaften betonen weithin ihre Neutralität gegenüber den von ihnen erfassten und beschriebenen Gegenständen. Jede Gestalt der Komparatistik bringt größte Probleme mit sich, sodass versucht wird, sie auf das unvermeidliche Minimum zu beschränken, ohne welches das die Religionswissenschaften ausmachende Erklärungspotential gefährdet wäre. Am Ende stünde nur die reine und als solche verwirrende und schließlich ratlos machende Phänomenologie. Es stellt sich einerseits die Frage, inwiefern die Neutralitätsdisziplin nicht schon in sich eine Illusion ist, die permanent schon durch die angewandten Parameter und Kategorien der Beschreibungsraster unterlaufen wird. Andererseits ist angesichts des religiös motivierten Aggressions- oder gar terroristischen Gewaltpotentials auch zu fragen, ob sich das Ethos der Religionswissenschaft auf den deskriptiven Aspekt der Wissenschaft beschränken darf. Wenn die Religionswissenschaften auch ihre gesellschaftswissenschaftliche Dimension und das damit verbundene Ethos ernst nehmen wollen, werden sie nicht umhin kommen, auch wieder Wege zu erschließen, auf denen normative Fragen sinnvoll diskutiert und dann auch für die öffentliche Debatte diskutierbar gemacht werden können. Der gern an die Theologie gerichteten Relevanzfrage sollten sich alle mit der Religion und den Religionen befassten Wissenschaften stellen, gerade dann, wenn ihnen heute mit nicht unerheblichen Mitteln eine bisher kaum vorstellbare Aktivität ermöglicht wird. Es kann nicht darum gehen, ihnen eine normative Schiedsrichterrolle zuzuweisen, wohl aber darum, die Konsequenzen aus der nicht erst unserem Zeitalter bekannten Tatsache zu ziehen, dass die Religion in ihren höchst unterschiedlichen Erscheinungsweisen auch ein zutiefst ambivalentes und somit zutiefst abgründiges Phänomen ist.
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