Читать книгу Am Aschermittwoch ist (nicht) alles vorbei - Michael Zeihen - Страница 7
Ein Vulkanier kommt selten allein
ОглавлениеEs war Mitte Januar. Malte wohnte immer noch bei Jochen. Die beiden hatten sich gut aufeinander eingestellt und machten auch keine Anstalten, ihre Wohngemeinschaft auflösen zu wollen. Dafür hätte sich Malte auch eine neue Wohnung suchen müssen, denn Nina lebte immer noch in ihrer ehemals gemeinsamen Bude. Glücklicherweise stand Malte nicht mit im Mietvertrag, da Nina die Wohnung kurz vor ihrem Zusammenkommen erst bezogen hatte und den Mietvertrag damals, nachdem Malte bei ihr eingezogen war, auch nicht umschreiben lassen wollte.
Mit Nina wäre auch die für diesen Abend geplante Kostümvorführung nicht ohne Stress über die Bühne gegangen. So aber lief´s für Malte reibungslos ab. Die Kumpels trafen sich wieder bei Jochen, der im Wohnzimmer einen roten Teppich als Catwalk ausgelegt und am Ende des Teppichs einen hohen Spiegel sowie zwei Scheinwerfer aufgebaut hatte.
Als Ralf den Aufbau sah, bekam er große Augen.
„Sach ma, wat hast du denn vor? Haben wir heute noch Besuch? Schickt die Klum ihre Models?“
Jochen schwieg und grinste nur. Malte hatte von Jochens Aktion nichts mitbekommen, da er den ganzen Tag beruflich unterwegs gewesen und direkt von der Arbeit nach Hause gekommen war.
„Jungs, mich braucht ihr nicht zu fragen, was das hier soll. Ich weiß von nix“, hob Malte abwehrend seine Hände.
Sven schwieg, kratzte sich nur am Hinterkopf. Dann nickte er.
„Ich glaube, ich weiß, was der Holzfäller vorhat. Das ist unser Laufsteg, wenn wir unsere Kostüme präsentieren.“
Jochen schaltete sich ein: „Richtig erkannt, Herr Neunmalklug. Das Ganze wird natürlich auch aufgenommen, damit wir die Nachwelt beglücken können.“
Jo zeigte auf ein Kamerastativ, das noch versteckt in der Ecke stand.
„Meine Fresse, du meinst das wirklich ernst“, stellte Ralle erstaunt fest.
„Natürlich meine ich das ernst. Denn ich denke, dass wir in Köln vielleicht nicht viele Fotos oder sogar Filmchen machen werden, wenn wir unterwegs sind. Und dann vielleicht auch noch getrennt.“
Malte zuckte erschrocken zusammen.
„Wie, getrennt? Ich dachte, wir bleiben immer zusammen.“
Malte schaute fragend in die Runde. Ralle schaute zurück. „Natürlich wollen wir zusammen bleiben, aber in vollen Kneipen oder in großen Sälen passiert es schon mal, dass man sich aus den Augen verliert. Manchmal ist das auch gut so“, erklärte Ralf.
Malte grübelte über diese Aussage, wollte aber nicht weiter nachfragen.
„So, Jungs, jetzt mal her mit den Kostümen. Wir knobeln, wer anfängt und in welcher Reihenfolge wir weitermachen. Ich habe schon vier Zettel mit den Zahlen 1-4 vorbereitet, natürlich sind die zusammengefaltet. Wer die 1 zieht, fängt an: Die 4 ist als Letzter dran. Einverstanden?“
Jochens Vorschlag wurde einstimmig und mit einem geexten Kölsch in der Runde angenommen. Danach warf Jochen die zu kleinen Quadraten zusammengefalteten Zettel auf den Wohnzimmertisch.
„Der Größte fängt an. Hoppla, das bin ja ich“, erklärte der Gastgeber grinsend und nahm das erste Quadrat vom Tisch. Danach waren Malte und Sven dran. Ralf nahm das, was übrig geblieben war. Auf Kommando öffneten alle ihre Zettel.
„Scheiße, ich bin der Erste“, fluchte Malte.
„Und ich die Nummer zwei“, meinte Ralle und nahm sich einen tiefen Schluck aus der Kölsch-Flasche.
„Ich komme als Vierter dran“, stellte Jochen fest.
„Ich sach jetzt nix“, grinste Sven.
Also verschwand Malte mit seiner übergroßen Tüte in der Küche, um sich in sein erstes Kostüm zu werfen.
Jochen hatte sich für den Abend die Songs „Pirate“, „Ich bin ne Räuber“ und „Blootwoosch, Kölsch un e lecker Mädche“ ausgesucht. Die Texte hatte er auch schon rausgelegt.
„Pirat und Räuber sind Kostüme. Blutwurst und Kölsch gönnen wir uns heute Abend und der Rest ist eine Überraschung“, erklärte der Mann fürs Grobe seine Wahl.
„Hast du etwa Blootwoosch hier? Das wäre ja sensationell“, strahlte Ralf und suchte direkt die nähere Umgebung ab.
„Ganz ruhig, Ralle. Die Wurst liegt noch im Kühlschrank; ich hole sie gleich nach dem ersten Durchgang. Das Kölsch steht auch noch in der Küche. Ich habe mir extra auch ein Fässchen besorgen lassen; wir wollen ja einen geselligen Abend verbringen, ohne nippen zu müssen.“
Jochen wirkte zufrieden.
Sven schlich sich von hinten an ihn ran und hieb ihm seine Hand auf die Schulter.
„Gut gemacht, Dicker!“
Jochen zuckte noch nicht mal zusammen, sondern sprach einfach weiter.
„Was macht eigentlich Malte so lange in der Küche? Muss der sich noch schminken?“
In dem Moment öffnete sich die Tür und eine Blondine trat aus der Küche hervor. Ralf, Sven und Jochen waren verblüfft. Ein knappes Krankenschwester-Kostüm, eine glänzende Strumpfhose, hochhackige Schuhe und eine durchaus beeindruckende Oberweite „Wow“, machte Jo nur noch und starrte die blonde Schwester an, die mit der Andeutung von wiegenden Hüften über den Teppich stolzierte. Vor lauter Begeisterung vergaß Jochen, die Kamera zu bedienen.
„Ey, glotz mich nicht so an, du notgeiles Mammut!“
Maltes Stimme riss Jo aus seinen Tag- oder besser gesagt, aus seinen Abendträumen.
„Hey Malte, geiles Kostüm. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich wusste gar nicht, dass du so schöne Beine hast“, meinte Sven und pfiff Malte anerkennend zu.
„Sieht wirklich scharf aus, Jung. Weißte was? Wir machen jetzt ein Foto von dir und schicken das Nina. Ohne Kommentar. Mal schauen, wie sie reagiert. Was meinst du?“
Jochen schaute Malte erwartungsvoll an.
Malte überlegte einen Moment, dann nickte er zustimmend „Machen wir. Dann aber so, dass mein Gesicht nicht frontal zu erkennen ist; sie soll ruhig ins Grübeln kommen, was das Foto soll. Wäre ich jetzt noch mit ihr zusammen, hätte ich mir den Spaß hier nicht erlauben können.“
Er ging zu Jo, hing sich halb an seinen Kumpel, so dass es aussah, als würde sich eine Krankenschwester an Jochen heranmachen. Dabei machte er noch einen Kussmund und strahlte Jo an.
„Wie sieht das aus, Ralle?“ Falls es gut ist, mach ein Foto.“
Vorsichtshalber schoss Ralf direkt eine ganze Reihe, während Malte seine Position immer etwas anders gestaltete.
„Ich hoffe, du hast jetzt keinen Ständer bekommen. Bei so einem Geschoss an dir“, meinte Sven grinsend zu Jo. Der grinste zurück.
„Also, wenn ich nicht wüsste, dass Malte in den Klamotten steckt, wäre ich schwach geworden. Diese Brüste an meiner Seite waren schon der Hammer. Was sind das eigentlich für Teile?“
„Jonglierbälle“, antwortete Malte, „die hatten ne gute Größe.“
„Welches Foto soll ich denn Nina schicken?“
Ralf ließ sein Handy mit den Bildern reihum gehen. Schnell einigten sich die vier auf das Foto mit dem engsten Körperkontakt.
„Was soll ich unter die Bildnachricht schreiben?“
Ralf schaute Malte fragend an.
„Schreib Generalprobe Karneval mit Schwester Martha“, meinte Malte.
Zehn Sekunden später gingen Foto und Nachricht auf die Reise. Weitere zehn Sekunden darauf tauchten zwei blaue Häkchen hinter der Nachricht auf. Nina hatte sie also gesehen.
„Ihr seid doch alle krank. Malte wird sich noch wundern, auf was er sich mit euch einlässt. Ich wette, er würde sich mit der Blonden nicht so fotografieren lassen. Aber ihr scheint das ja zu brauchen“, ätzte Nina per WhatsApp zurück. Die Runde wieherte los. Jochen holte das Fass aus der Küche, schlug es an und verteilte nach den ersten Schaumgläsern, die er genüsslich ausschlürfte – begleitet von einem „Du bist echt ein Tier“ des fassungslosen Ralf -, um dann die gut gezapften Kölschgläser an seine Freunde zu verteilen.
„Prost, Jungs! Auf Kölle!“
Danach wurden die drei Songs jeweils einmal gehört und dann gesungen. „Pirate“ war schwer für die Jungs, „Ich bin ne Räuber“ fiel den drei Nordlichtern leichter, ebenso „Blootwoosch, Kölsch un e lecker Mädche.“
„Ich hab´s mir schon gedacht, dass ihr Probleme mit den schnellen Liedern bekommt. Aber das kriegen wir auch noch hin. Keine Sorge. Hört euch die Songs zuhause noch häufiger an. Malte und Jochen können ja zusammen üben“, stellte Ralf fest.
„Ob das von Vorteil bei den beiden ist, weiß ich nicht“, kommentierte Sven grinsend.
„So, dann werde ich mich mal in die Küche zurückziehen und mich in Schale schmeißen“, sagte Ralf, füllte sein Kölschglas schnell noch mal auf und verschwand in den Raum nebenan.
Fünf Minuten später tauchte aus der Küche durch die leicht geöffnete Tür ein ausziehbarer Staubwedel auf, gefolgt von einem Gesicht, das von einer Lockenwicklermähne umrahmt war. Auch in Blond.
„Sacht ma, lebt ihr hier einen Fetisch aus, Jungs? Zuerst Malte und jetzt auch du, Ralle? Muss ich mir Sorgen um euch machen? Mich soll´s nicht stören, denn mit euch werden sich die Mädels in Köln nicht abgeben. Bleiben mehr für mich übrig“, frohlockte Jochen.
Als Jo fertig mit seiner kurzen Rede war, kam der Rest von Ralf zum Vorschein: ein schreiend-farbenprächtiger Kittel aus den 70er-Jahren, gelbe Gummihandschuhe und rosa Gummistiefel. Dazu behangen mit ein paar Perlenketten. Allesamt falsch. Der Mund knallrot geschminkt.
„Du siehst hammerscheiße aus“, verteilte Sven ein zweifelhaftes Kompliment.
„Allerdings müsstest du noch an deinen Brüsten arbeiten; die sind stark ausbaufähig“, kam Jochen wieder auf das aus seiner Sicht Wesentliche zu sprechen. Er stand immer noch hinter der Kamera und nahm auf.
Als Antwort fummelte Ralf mit dem Staubwedel auf Jochens nur noch spärlich besiedeltem Haarschopf herum.
„Ey, lass den Scheiß. Du ruinierst meine Frisur“, motzte Jo und versuchte, den Wedel zu erwischen. Aber sein Kumpel zog den Stecken schnell zurück.
„Ich glaube, dein Hirn muss mal entstaubt werden. Dringend“, lachte Ralf und zog den Teleskopwedel noch mal über Jochens Birne. Der sprang hinter der Kamera vor und wollte sich seinen Kumpel schnappen. Aber Ralf war trotz der Gummistiefel verdammt schnell unterwegs und rannte, in hoher Tonlage kreischend, vor seinem Freund davon. Da in Jochens Erdgeschoss ein Rundlauf möglich war, kamen die beiden mehrfach an Sven vorbei, der sich schlapp lachte. Nach der 3. Runde zapfte er jeweils ein Kölsch für das Duo und reichte es ihnen, als sie mal wieder an ihm vorbei rannten. Nach der gefühlt 10. Runde hechelten beide um die Wette. Ralle hatte nur noch einen Gummistiefel an, seine Perücke hing auf halbmast. Jochens Kopf war puterrot, seine Haare standen wirr ab.
„Time Out“, bot Ralf seinem Kumpel eine Auszeit an. Der stützte sich am Wohnzimmertisch ab und konnte nur noch nicken.
„Immerhin habe ich jetzt Gewissheit, dass ich in dem Kostüm notfalls flüchten kann. Ich sollte nur nicht die Gummistiefel verlieren; das wäre ziemlich schlecht“, japste Ralf immer noch.
Jochen war derweil auf einen Stuhl gesunken.
„Sven, tuste mir noch ein Kölsch? Oder am besten direkt zwei; ist ja nix drin in den Gläschen.“
War klar, dass der Brocken nun wieder Durst hatte. Nachdem er sein Bier erhalten hatte, schickte er Sven in die Küche zum Umziehen.
„Komm, Jung; du bist dran. Nur tu mir den Gefallen und lauf nicht auch als Blondine auf. Das würde ich nicht verkraften, Karneval mit drei Blondinen umherziehen zu müssen. Vor allem müsste ich euch permanent beschützen, da ihr mit euren zarten Gesichtern tatsächlich sehr weiblich ausseht.“
Jetzt grinste Jo wieder.
„Vielleicht solltest du daher als Haremswächter gehen. Obwohl: So ein Job wäre extrem gefährlich für dich, da du deinen Mund nicht halten und deine Finger nicht bei dir behalten kannst“, zog Malte seinen kontaktfreudigen Kumpel auf.
„Kann ich rauskommen?“, rief Sven aus der Küche.
„Warte kurz, ich muss zurück an die Kamera“, antwortete der technische Direktor des Quartetts.
Mit dem Kölschglas in der Hand ging Jo zur Kamera und postierte sich so, dass er durch das Objektiv schauen konnte; eine Hand am Richtungshebel des Stativs.
„Du kannst!“, brüllte er nun Richtung Küche. Heraus kam jetzt ein Mann mit einer ziemlich extravaganten Pott-Frisur; großen, nach oben spitz zulaufenden Ohren und schräg nach oben verlaufenden Augenbrauen. Sein blaues Oberteil lag eng an und hatte auf der rechten Brust ein Symbol, das die Kerle schon viele Jahre nicht mehr gesehen hatten. .
Ralle hob seinen Daumen, Malte auch – Sie hatten ihn sofort erkannt. Jochen stand dagegen noch auf dem Schlauch. Erst als Sven auf ihn zukam und das typische Begrüßungszeichen dieser Spezies machte, ging ihm ein Licht auf.
„Du bist Scotty vom Raumschiff Enterprise oder von star trek. Richtig?“
Malte und Ralf schauten sich an und prusteten los.
„Mensch Jo, hast du früher kein Fernsehen geschaut? Scotty ... Du bist echt ein Horst.“
Ralf schüttelte den Kopf.
„Das ist Spock, der Vulkanier. Daher auch das V-Zeichen mit der Hand. DAS kennt man doch.“
Seine Unwissenheit machte Jo nichts aus.
„Ich habe früher eben nicht nur vor der Glotze gehangen. Daher kann ich auch nicht alle TV-Helden unserer Kindheit runterbeten. Tatsächlich fand ich Raumschiff Enterprise immer doof. Im Gegensatz zu allen Freunden.“
Ralf stimmte dem zu.
„Daran kann ich mich echt noch erinnern. Du hattest wirklich überhaupt keine Ahnung von der Enterprise und ihren Besatzungsmitgliedern. Deswegen haben wir dich damals immer Leutnant Uhura spielen lassen.“
Malte begann zu kichern, hatte schnell Tränen in den Augen.
„Und du hast nie geschnallt, dass Uhura eine Frau war“, stammelte er vor lauter Lachen.
„Wie, Uhura war eine Frau – das habt ihr Säcke mir nie gesagt.“
Jochen war erschüttert.
Auch Sven grölte jetzt los.
„Du bist echt so ahnungslos, unglaublich. Und das seit 40 Jahren.“
„Na wartet, ihr Luftpumpen! Ich werde mich in Köln rächen und dann werdet ihr sehen, wie ahnungslos ich bin“.
Jo schaute seine Kumpels finster an. Aber nach ein paar Sekunden konnte auch er sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Da habt ihr es echt Jahre geschafft, mich glauben zu lassen, dass Uhura ein Mann ist. Man, man, man ... Darauf brauche ich ein Kölsch.“
Und wupp, hatte Jochen ein neues Kölsch in der Hand. Er prostete seinen Kumpels zu und leerte das Glas mal wieder in einem Zug.
„Aaaaah, das zischt wirklich gut. Dafür sind die Gläser von der Größe her fantastisch“.
Ralf wandte sich Sven zu: „Wie kamst du auf Spock? Eine coole Idee! Das wäre auch ein nettes Gruppenkostüm für die Kneipe gewesen, denke ich. Vier Spocks wären witzig. Halten die Ohren denn?“
Sven tastete vorsichtig nach seinem linken Ohr.
„Das Teil ist jetzt nur aufgesetzt; Karneval werde ich es aber ankleben. Sicher ist sicher. Ich fände es übrigens auch klasse, wenn wir alle als Spock dort auflaufen. Dann hätten wir mit dem Leuchtturm-Kostüm eine gemeinsame Verkleidung für draußen und den Spock für drinnen. Shirt, Perücke und Ohren sind innerhalb einer Woche da. Sollten wir tatsächlich alle zu Spock werden, können wir noch jeder noch das Sprechfunkgerät, den Communicator, holen. Das ist sicher witzig, wenn wir alle gleichzeitig in die Dinger sprechen.“
Sven und Malte überlegten. Als Erster sprach dann Malte: „Also ich hätte nichts gegen den Vierer-Spock. Mit einem meiner Kostüme bin ich im Nachhinein sowieso nicht so glücklich, daher wäre es für mich okay.“
Sven nickte.
„Ich bin dabei. Damit werden wir sicher auffallen, da wir auch alle unterschiedliche Staturen haben.“
Er ging zum Fass und füllte sein Glas und die Gläser seiner Freunde. Als jeder seine Kölsch-Stange in der Hand hielt, stießen sie gleichzeitig mit den vier Gläsern an und prosteten sich zu.
„Auf die Vulkanier“, grölte Jochen und versuchte, das „V-Zeichen“ zu machen. Aber er bekam es nicht hin, so sehr er sich auch bemühte. Sein Mittelfinger wollte einfach nicht beim Zeigefinger bleiben.
„Verdammt, dann muss ich die Finger zumindest an einer Hand wohl zusammenkleben mit durchsichtigem Tape, wenn´s nicht anders geht.“
Auch Malte versuchte es vergeblich, aber bei ihm war die Lücke zwischen Mittel- und Ringfinger nicht ganz so groß wie bei Jochen.
„Das kriegste mit ein bisschen Training bis zu unserer Tour hin“, meinte Ralf.
„Gebt mir noch eure Größen, dann besorge ich nicht nur die Leuchtturm-Kostüme, sondern auch die Spock-Verkleidung inklusive Perücke, Ohren und Communicator. Mein Vorschlag: Jeder besorgt sich noch ein oder zwei Kostüme für drinnen und draußen, die wir als Überraschungspaket nutzen. Wir müssen uns ja auch ein wenig überraschen. Ist das okay für euch? Sven, für dich heißt das, dass du noch ein neues Einzel-Kostüm brauchst, wenn wir alle jetzt zu Spock werden“, erklärte Ralf weiter.
Sven stimmte zu.
„Klar, das geht schon in Ordnung. Als Vulkanier-Gruppe werden wir saucool sein. Ich werde schon was anderes finden.“
Jetzt war Jochen dran.
„So, Jungs; jetzt werde ich mich mal in die Küche verziehen. Sven, machst du die Kamera?“
„Klar, kein Problem. Dann dampf mal ab.“
Jochen verschwand in der Küche. Kurz darauf hörten sie ein lautes Rumpeln, danach Flüche, dann rumpelte es wieder.
„Scheiße“, schallte es nun von nebenan.
„Was macht er da eigentlich?“, fragte Ralf in die Runde. Malte zuckte die Schultern, Sven grinste nur.
„Wahrscheinlich stellt er gerade fest, dass er nicht mehr ins Kostüm passt. Wundern würde mich das nicht.“
Die Küchentür wurde aufgerissen und heraus stürmte ein halb nackter Mann mit einer riesengroßen, längs gestreiften blau-weißen Latzhose; einem Helm auf dem Schädel, der merkwürdigerweise nur noch ein Horn hatte; einen kleinen weißen Plüschhund auf der Schulter sitzend.
Die anderen drei brachen zusammen, als sie Jochen als Obelix sahen.
„Ey, das ist so Bombe, das Teil! Vielfraß Jochen wird zu Vielfraß Obelix“, brüllte Sven.
„Scheiße, das Kostüm ist irgendwie enger geworden, seitdem ich´s das erste Mal anhatte“, beklagte sich Jochen.
„Aber die Idee mit Idefix ist doch super, oder? Ich habe ihn auf den Hosenträger getackert. Ich wette, darauf werden die Frauen total abfahren“, erklärte Jo begeistert.
„Wie, du hast ihn drauf getackert? Warum nicht genäht?“, fragte Malte.
„Sehe ich so aus, als ob ich nähen könnte? Mit diesen zierlichen Fingern kann ich keine Nadel, sondern nur Nägel halten. Hätte ich deine niedlichen Fingerchen, Malte, wäre Nähen sicher kein Akt“, antwortete Obelix.
„Aber was ist denn mit dem zweiten Horn passiert? Und hatte Obelix nicht rote Haare mit Zöpfen?“, wollte Ralf wissen.
„Ich wollte die kleinen Hörner etwas verbiegen, weil sie mir nicht so sehr gefallen haben. Dabei habe ich das Horn abgebrochen. Und ja; Obelix hat rote Haare. Die Perücke hatte ich schon bestellt, aber sie ist, warum auch immer, nicht angekommen. Ebenso der Bart, der zusammen mit den Haaren kommen sollte. Sie werden aber diese Woche noch nachgeliefert. Dann bin ich komplett. Also: Was sagt ihr? Sehe ich cool aus oder sehe ich geil aus?“
Jochen schaute beifallheischend in die Runde.
„Beim Teutates, Dicker, du siehst umwerfend aus. Ein passenderes Kostüm hättest du nicht finden können. Mit Perücke und Bart wird das noch getoppt“, meinte Sven und klopfte seinem Kumpel kräftig auf den Helm.
„Darauf sollten wir was trinken“, rief Jochen, sammelte die Kölsch-Gläser seiner Freunde und tankte nach.
So standen Krankenschwester, Putzfrau, Spock und Obelix in ihrer Runde zusammen, stießen an und leerten die Gläser mit einem Zug.
„Lasst uns mal eine Runde um den Block ziehen in dieser Aufmachung. Ich möchte meine Nachbarn etwas verwirren. Hier wird sowieso viel getratscht und es wird Zeit, dass die werten Damen und Herren sich mal richtig ihre Mäuler zerreißen können.“
Jochen sah fragend zu seinen Kumpels.
„Meinst du nicht, es ist zu kalt draußen? Du siehst doch, wie dünn ich angezogen bin“, ließ sich Malte zweifelnd vernehmen.
„Ich hab da eine Idee, wie uns nicht kalt wird und wie´s auch ein wenig spektakulärer für deine Nachbarn wird, Jo. Wie wäre es, wenn wir uns einmal um den Block jagen? Als Erster kommt Schwester Malte, der von Obelix gejagt wird. Du musst, während du vor Obelix flüchtest, in hoher Stimmlage kreischen, Malte. Und du Jo, solltest immer „Beim Teutates, ich kriege dich“, brüllen. Danach kommt mit 30 Sekunden Verzögerung Sven als Spock, der vor mir als Putzfrau flüchtet. Ich fuchtele mit meinem Teleskopstaubwedel wild hinter Spock her. Sven, du kannst immer „Das ist unlogisch“ rufen. Ich werde stumm hinter dir her rennen.“
Ralle hatte alleine bei der Vorstellung dieses Szenarios schon Tränen in den Augen. Auch die anderen kicherten.
„Hammer-Idee, Ralle! Und wir können das Ganze auch aufnehmen. Ich stelle das Stativ mitsamt Kamera vor die Haustür; richte sie so aus, dass ein Abschnitt des Bürgersteigs im Blickfeld ist. Das sieht bestimmt zum Schreien aus“, ergänzte Jochen euphorisch.
Alle grinsten und klatschen sich ab.
„Okay, dann starten wir mal, oder?“
Ralf trieb seine Kumpels an.
„Scheiße Jungs, es ist doch schon dunkel draußen. Man sieht uns doch gar nicht im Film“.
Malte brachte einen berechtigten Einwand an. Alle verstummten. Und starrten sich ratlos an.
„Oh Gott, sind wir dämlich“, kommentierte Sven kopfschüttelnd
„Dann machen wir´s eben hier in der Wohnung. Ralle und ich haben´s doch eben schon gezeigt“, wollte Jochen nicht aufgeben.
„Klar, das wird gehen, auch wenn´s natürlich nicht so spektakulär wird, als wenn wir die Show draußen abgezogen hätten“, meinte Malte.
„Okay, dann mal los. Jo, wo willst du die Kamera hinstellen?“
Sven hatte sich Stativ und Kamera geschnappt und sah seinen Freund fragend an.
„Pack das Teil vor die Küchentür. Da haben wir den besten Winkel zur Aufnahme“, antwortete Jochen.
Sven latschte zur Küchentür, baute das Stativ auf, packte die Kamera auf die Halterung und richtete das Teil abschließend aus. Jochen überprüfte das Sichtfeld.
„Das passt“, brummte der Riese zufrieden.
„Dann legen wir los. Malte und Jo; euer Einsatz. Am besten einige Runden. Und Malte: Vergiss das Kreischen nicht. Aber wartet mal: Wollt ihr nicht durch die Eingangstür von draußen rennend reinkommen? Wenn ihr aus dem Dunklen erscheint, sieht das doch garantiert cool aus. Dann durch den Flur direkt ins Wohnzimmer. Von hier aus hat euch die Kamera im Visier und kann euch vom Flur aus bis ins Wohnzimmer aufnehmen.“
Ralle schaute seine Kumpels der Reihe nach an. Alle nickten.
„Das klingt sauber. Ich muss nur schauen, dass ich mit meinen High Heels nicht über die Türschwelle falle“, meinte Malte.
„Und wenn schon. Dann wird’s noch krasser. Ich warte auf jeden Fall so lange, um zu schauen, ob du den Stunt machst oder unfallfrei ins Haus kommst. Erst dann folge ich dir“, sagte Jo und rieb sich erwartungsvoll seine riesigen Hände.
„Okay, dann verschwindet mal nach draußen. Ich bleibe an der Kamera, sollte ich doch noch manuell eingreifen müssen. Schließlich wollen wir nichts verpassen“, erklärte Sven grinsend.
Krankenschwester Malte und Obelix Jochen verließen das Haus.
„Scheiße, ist das kalt“, hörten Sven und Ralle Schwester Malte draußen fluchen.
„Stell dich nicht so an, du Weichei“, lautete prompt Jochens Antwort.
Sven nickte Ralle zu und brüllte: „Ihr könnt kommen. Aber macht ´ne Show!“ Ralf verzog sich auf die Treppe Richtung Obergeschoss, so dass er aus dem Bild war.
Sven betätigte den Startknopf der Kamera. Von draußen hörte man ein Kreischen.
„Hüüüüülfe!! Ein dicker Halbnackter verfolgt mich“, kreischte Schwester Malte, tauchte im Türrahmen auf und rannte panisch die Augen rollend und hektisch mit den Armen rudernd mit staksigen Schritten durch den Flur. Kurz vor der Wohnzimmertür verlor Malte aber die Balance, stürzte zur Seite und knallte gegen die alte Stehlampe, die Jo vor vielen Jahren von seiner Oma vererbt bekommen hatte.
„Auaaaa!! Warum hilft mir denn keiner?“
Malte spielte seine Rolle mit Bravour weiter, auch noch, als die Lampe auf ihn niederkrachte. Das „Auuuuua“ klang zwar jetzt schon ein wenig tiefer, aber immer noch halbwegs weiblich. Jetzt tauchte Obelix im Bild auf. Sein Helm hing auf halbmast, sein Blick hatte etwas von Jack Nicholsons irrem Blick in Einer flog übers Kuckucksnest. Es war schon ein wenig angsteinflößend. Dieses Gefühl übermannte wohl langsam auch Schwester Malte, denn als Obelix sich vor ihr aufbaute, klang Maltes Kreischen plötzlich ziemlich echt.
„Das war keine Absicht; ich bin einfach ausgerutscht“, rief Malte panisch. Obelix starrte auf Malte herab, hob seine Faust und sah dabei aus, als wolle er seinen Freund verprügeln. Doch dann zog ein Grinsen in sein Gesicht ein. Aus dem Grinsen wurde ein Lachen, aus dem Lachen ein Grölen. Die Faust setzte er nun nicht gegen Malte ein, sondern rhythmisch gegen die Flurwand.
„Mensch Malte, du sahst gleichzeitig scharf und scheiße aus, als du vor mir rumgestöckelt bist und dabei gekreischt hast. Daher bin ich auch erst mit Verzögerung ins Haus gekommen. Ich musste mich draußen erst mal ausschütten vor Lachen“, erklärte Jo mit Tränen in den Augen.
Er half Malte, der immer noch halb unter dem Lampenschirm lag, auf die Beine. Die Krankenschwester rappelte sich auf, allerdings hatte sie beide Schuhe beim Sturz verloren.
„Super, Jungs! Das war Weltklasse. Ich werde euch für die Oscar-Nominierung vorschlagen“, rief Regisseur Sven begeistert. Ralle applaudierte von der Treppe aus.
„Ich hab zwar nichts mitbekommen, aber das was zu hören war, klang schon mal spannend. Spul mal zurück, Sven. Dann können wir uns das Drama noch mal anschauen. Danach sind wir beide dran, Svenni.“
Also versammelte sich das Quartett hinter dem kleinen Display der Kamera. Sven musste die paar aufgenommenen Sekunden locker zehn Mal ablaufen lassen, bis alle wirklich auch alles gesehen hatten.
„Ihr habt die Latte mächtig hochgelegt mit eurem Auftritt. Kompliment, Jungs. Da werden Sven und ich Gas geben müssen“, meinte Ralle grinsend und redete direkt weiter: „Aber lass uns direkt im Wohnzimmer anfangen. Am besten setzt du dich auf die Couch und ich komme aus der Küche wedelnd auf dich zu. Du haust dann ab und ich jage dich immer um den Tisch herum. Jo, machst du die Kamera?“
Jochen hob seinen Daumen.
„Klar, ist ja schließlich mein Teil und auch meine Idee, dass wir den ganzen Quatsch für die Ewigkeit festhalten. Egal, ob die Ewigkeit unseren Schwachsinn sehen will oder nicht“, kommentierte Jo, als er sich hinter das Stativ positionierte und es auf die richtige Höhe brachte, um alles gleich Folgende aufnehmen zu können.
Währenddessen machte es sich Spock Sven auf der Couch bequem. Putzfrau Ralle verschwand in der Küche. Kurz darauf schaute Ralf, ein Bier in der Hand, aus der Küche heraus. „Können wir anfangen? Ich habe Hunger und will mich endlich ums Vernichten der Blutwurst-Vorräte kümmern.“
Spock meldete sich auch zu Wort.
„Also, ich könnte langsam auch etwas zu Futtern vertragen. Mein Magen simuliert schon die ganze Zeit Vulkanausbrüche, was das Grollen angeht.“
Jochen zuckte mit den Schultern.
„An mir soll´s nicht liegen.“
„An mir auch nicht“, erklärte Malte, der sich ebenfalls wieder mit einem Kölsch bewaffnet hatte.
„Na denn, vamos!“, rief Jochen und bückte sich erwartungsvoll hinter das Display der Kamera.
Wenige Sekunden später wurde leise die Küchentür geöffnet und Putzfrau Ralle schlich mit dem auf die maximale Länge ausgefahrenen Teleskopstaubwedel auf den vor sich hin dämmernden Vulkanier zu. Da Spock mit dem Rücken zu Ralf saß, hatte er ihn tatsächlich nicht kommen hören. Als Ralle den Staubwedel mit einem irren Lachen über Svens Kopf zog, schrie der erschrocken auf. Allerdings rutschte seine Stimme dabei in Tonhöhen, die eigentlich Stöckel-Malte oder Putzfrau Ralle vorbehalten geblieben wären. Dann sprang Spock auf und wollte sich von der wedelfreudigen Reinigungsfachkraft entfernen. Aber nicht mit Ralle. Der jagte in Höchsttempo in seinen Gummistiefeln hinter ihm her. Aber er kam nicht weit. Bereits in der dritten Runde knickte Ralle in den Stiefeln um und schmierte bäuchlings über das Laminat, bis sein Ausrutscher unsanft vom Sideboard, massive Eiche, gebremst wurde. Spock ließ sich auch auf den Boden fallen und wieherte los.
„Du blöder Alien! Na warte, dich kriege ich schon noch vor meinen Wedel“, fluchte Ralle und machte Anstalten, aufzustehen. Es blieb aber beim Versuch, denn der Stiefel, in dem er gerade umgeknickt war, hatte seine Sohle verloren, sodass Ralfs Fuß unten zur Hälfte aus der Sohle heraus ragte. Der Rest des Stiefels hing daher total schief am Fuß der Putzfrau.
„Ihr Verhalten ist total unlogisch, Erdenmensch“, sprach Spock-Sven zu seinem Freund. Ihm kam plötzlich die Idee, den Spock-Griff bei Ralle anzuwenden, der in der TV-Serie immer damit endete, dass der von Spock angefasste Mensch innerhalb kürzester Zeit in Ohnmacht fiel. Also griff Sven zielsicher an Ralles Schulter, fing sich aber postwendend einen kräftigen Schlag mit dem Staubwedel auf die Hand ein. Kurz darauf balgten sich Spock und die Putzfrau auf dem Boden. Ralle stocherte wie irre mit dem Wedel auf Spock ein, der sich mit seinen Händen verteidigte. Beiden waren schon längst die Perücken verrutscht. Mal lag Spock auf der Putzfrau, die schon ein paar Lockenwickler verloren hatte; dann thronte Ralle auf dem Vulkanier und kitzelte mit dem Wedel die Nase des Außerirdischen. Und Jo nahm weiter alles auf. Keine Minute später rief Sven keuchend, dass es nun reichen würde.
„Ich krieg keine Luft mehr! Stooooop!“
Ralle triumphierte: „Gibst du auf, elender Vulkanier?“
Sven streckte zum Zeichen seiner Aufgabe beide Arme in die Luft. Jetzt lagen beide nebeneinander auf dem Boden und schnappten nach Luft.
Malte brachte beiden ein neues Kölsch, das sofort geext wurde. Nach ein paar Minuten hatten sich die beiden ramponierten Gestalten so weit erholt, dass sie sich mit den anderen zusammen das Mini-Filmchen auf dem Super-Großbild-TV von Jochen anschauen konnten. Alle vier schmissen sich vor Lachen weg, weil sie einfach nur bescheuert aussahen. Aber es war eine Erinnerung.
„Ich kopiere euch den Schrott jeweils auf DVD, dann haben wir alle was fürs Leben, das wir später mal unseren Enkeln oder sonst wem zeigen können.“
Jo schmunzelte. Danach wurde der Rest des Kölschs vernichtet, zusammen mit der Blutwurst, auf Kölsch: Blootwosch. Die schmeckte aber nicht allen. Malte verzog angewidert sein Gesicht.
„Baaah, wie kann man so was essen? Die spinnen, die Kölner!“
Ralf dagegen schob sich eine Scheibe nach der anderen mit einem glücklichen Ausdruck rein.
„Gott, wie lange habe ich schon keine Blootwoosch mehr genossen. Wenn ihr nichts mehr wollt, kümmere ich mich gerne um den Rest.“
Jochen protestierte: „Vergiss es, Jungchen! Ich werde dich tatkräftig unterstützen. Kann ja nicht angehen, dass du allein dick wirst.“
„Wer spricht hier von dick werden?“, machte sich Sven über die Proportionen seines Freundes lustig und boxte ihn leicht in seinen Hüftspeckbereich.
„Hömma, spinnst du? Bleibst du mir wohl von meinem Astra-Körper? Ich fummel ja auch nicht an dir rum. Obwohl: Da gibt’s ja auch nix zu fummeln, so mager wie du bist.“
„Ich bin nicht mager; ich bin schlank, mein Lieber. Das ist ein Unterschied“, erwiderte Sven ein wenig beleidigt.
„Und ich halte mich an meinen Kostümgeber Obelix, der immer sagte: Ich bin nicht dick; ein bisschen stark vielleicht, aber nicht dick.“
Während Jo die Worte seines Comic-Vorbilds aussprach, strich er sich mit der Hand über den Bauch. Eine Stunde später waren alle Vorräte vernichtet, also konnten Sven und Ralf ihren Heimweg antreten. Wie immer, verabschiedeten sich die Jungs herzlich und lautstark voneinander.
Malte und Jochen räumten noch ein wenig auf, dann ging´s für beide in ihre Betten. Die Tour nach Köln kam immer näher.
Malte sang leise ein paar Zeilen von „Ich ben ´ne Räuber“ vor sich hin und lächelte dabei zufrieden. Die Trennung von Nina war emotional für ihn gegessen; er vermisste die Beziehung zu ihr überhaupt nicht. Natürlich war ihm klar, dass er nicht für den Rest seines Lebens bei Jo würde leben können, aber im Moment war´s die mit Abstand beste Lösung. Mit dem Gedanken schlief Malte ein.
Jo blieb noch ein wenig länger wach. Er hatte es an diesem Abend lieber mit „Blootwoosch, Kölsch un e lecker Mädche“ gehalten. Essen, Trinken und eine nette Frau an seiner Seite - das gefiel Jochen. Und genau das würde im Überfluss in Köln auf ihn warten. So stellte sich Jo zumindest die Karnevalszeit vor. Oder besser gesagt: Er wünschte es sich. Denn ob´s tatsächlich so ablaufen würde, konnte er nicht sagen. Schließlich hatte er noch nie Karneval in Köln gefeiert. Das, was in Bremerhaven unter dieser Bezeichnung lief, hatte mit dem, was im Rheinland passierte, nicht ganz so viel zu tun. Auch wenn Jochen den heimischen Karnevalisten die Lust und den Spaß am Karneval nicht madig machen wollte. Aber es war halt ein Riesenunterschied.
Mit ein paar Zeilen aus „Blootwoosch, Kölsch un e lecker Mädche“ sang sich auch Jo mit einem kölschen Klassiker in den Schlaf, allerdings in einer minimal abgeänderten Version, in der er „Jo“ an die Stelle des Wortes „Kölsch“ setzte.
Warum auch immer: An diesem Abend hatte jeder aus dem Quartett einen Ohrwurm, als es ins Bett ging.
Sven lag noch wach neben Carola, die ihn grinsend und kopfschüttelnd daheim empfangen hatte, dann aber schnell eingeschlafen war. Svens Frau war immer erleichtert, wenn er zuhause eintraf. Vorher konnte sie nur selten einschlafen. Aber jetzt hörte er ihre ruhigen Atemzüge und betrachtete sie liebevoll. Was hatte er ein Glück, so eine tolle Frau gefunden zu haben. Kein Vergleich mit Maltes Ex Nina. Auch wenn er sich riesig auf die Tour mit seinen Freunden freute; er war immer froh und glücklich, wenn er wieder daheim bei Carola war. Er wusste jetzt schon, dass er Carola in Köln vermissen würde. Selbst wenn es nur ein paar Tage waren, die sie im Rheinland verbringen würden. Ihm kam das Lied „Heimat es“ in den Sinn. Dieser Song spiegelte vieles wieder, was ihm an Heimat wichtig war. Sven konnte aber schon jetzt nachvollziehen, was Ralle an Köln so wichtig war und was die Musik für viele Kölner bedeutete. Viele dieser Songs gingen wirklich ans Herz, selbst ihm als Nordlicht. Bremerhaven war nicht Köln; die Menschen hier sind waren furchtbar nett aber sie waren eben anders als der Menschenschlag im Rheinland. Dass Ralf immer wieder mal Heimweh bekam, war für Sven verständlich. Er schloss die Augen und sang in Gedanken, denn er wollte Carola nicht wecken, die für ihn schönsten Zeilen des Liedes, in denen es um das Auskennen, die bekannten Wege, das verstanden werden und das Glück in der Heimat geht.
Hier, in Bremerhaven kannte er sich aus. Hier ging er seine Straßen, seit seiner Geburt und wahrscheinlich auch bis zu seinem Ableben. Hier wurde er verstanden, hier war er glücklich.
Auch Ralf, der, bevor er zu Bett ging, noch in der heimischen Küche saß und sich ein letztes Kölsch gönnte, ging der Abend noch mal durch den Kopf. Was waren sie kindisch gewesen und wie viel Spaß hatten sie dabei. Manchmal tat es unglaublich gut, noch mal das Kind herauszulassen; unbeschwert Blödsinn zu machen und zu erzählen. Dennoch wussten alle vier, dass dies natürlich auch nur Momente waren, die nicht zum Alltag werden konnten. Aber sie mussten versuchen, sich diese Fähigkeit zu bewahren. Er war optimistisch, dass ihnen das gelingen würde. Der Ausflug nach Köln würde sicherlich ein Stück dazu beitragen, dass sich die Jungs noch mal ein wenig aus dem Alltagstrott herauslösen können. Ein paar Tage Unbeschwertheit und das Gefühl von in diesen Tagen gelebter und direkter Freundschaft; darauf freute er sich gewaltig.
Sein Bier war leer; er machte sich danach im Bad fertig und begab sich in sein Bett. Seine Frau hatte nicht auf ihn gewartet; sie war immer zuversichtlich, dass er auf sich aufpassen konnte und sicher nach Hause kam. Sie schlief tief und fest, als er sich leise neben sie legte. Ralf verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und dachte an „Et jitt kei Wood“, seine persönliche Köln-Hymne.
Mit dem Gedanken an seine Heimat und der Vorfreude auf den Besuch in Köln schloss er seine Augen.
Die nächsten Wochen bis zum Aufbruch nach Köln vergingen wie im Flug. Alle besorgten sich noch Kostüme oder Bestandteile von Kostümen; man traf sich noch einmal bei Ralf zum Singen und zur Kölsch-Probe. An diesem Abend servierte Ralle seinen Freunden eine weitere kölsche Spezialität: Halven Hahn. Was auf den ersten Blick für die anderen drei nach einer Hähnchenhälfte klang, auf die sich vor allem Jochen schon gewaltig freute, entpuppte sich zur großen (und für Jochen auch zur bösen) Überraschung als Roggenbrötchen mit Käse und Würzzutaten. Das Brötchen wird meistens mit Butter, ein bis zwei dick geschnittenen Scheiben mittelaltem Gouda-Käse, saurer Gurke und Senf, zum Teil auch mit in Ringe geschnittenen Zwiebeln und einer Prise Paprikapulver serviert.
„Was soll das denn? Hat man in Köln einen an der Waffel? Ein halbes Hähnchen ankündigen und dann´n Brötchen mit Käse servieren; das ist schon ein starkes Stück. Aber so weiß ich wenigstens, was ich in Köln nicht essen werde“, erklärte Jochen etwas angefressen. An diesem Abend bestellte er sich als Ausgleich eine Riesenpizza Tonno.