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Mascha

In Anbetracht des sich vorwärtsbewegenden Zeigers ihrer Armbanduhr hätte Mascha keine Zeit verlieren dürfen. Drei Minuten bis zum Beginn des Zeichenkurses. Noch immer saß sie mit tropfenden Haaren und vom Regen durchnässten T-Shirt wie festgewachsen auf dem Rand der Badewanne mit dem Brief in der Hand. Viermal hatte sie ihn gelesen, um nur ja kein Wort zu übersehen oder falsch zu verstehen. Allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag. Erneut wanderte ihr Blick über die letzten Zeilen und die Unterschrift.

Jane. Vier Buchstaben, handgeschrieben von ihr selbst. Die Jüngste von ihnen, fünfundvierzig Jahre alt, im Dezember geboren, Krankenschwester. Sonst wusste Mascha nichts über ihre kleine Schwester. War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Arbeitete sie noch in ihrem Beruf? Mochte sie Blumen, so wie sie selbst? Den Wald? Tiere? Lebte sie noch immer in Lahnstein? Welche Musik hörte sie gern? War sie eine Frau, die durchs Leben tanzte, im Auto sang, jedes Wochenende mit Freunden verbrachte? War sie sportlich? Was aß sie gern? Trank sie Wein? Oder lieber Bier aus der Flasche? War sie eine Leseratte geworden, wie der Vater es sich gewünscht hatte? Las sie noch gelegentlich Bücher von Jane Austen, die sie schon als Jugendliche verschlungen hatte? Hatten sie Gemeinsamkeiten, sie und Jane?

»Du warst erst fünfundzwanzig«, murmelte Mascha. Sie starrte auf die vier geschwungenen Buchstaben am Ende des Briefes, als könne das Betrachten von Janes Namen ihr die Fragen beantworten, die sich ihr gerade mit Macht aufdrängten. Fragen, die ein halbes Leben füllten.

Erneut blieb Maschas Blick an den Worten über den besonderen Zeitpunkt hängen. Kairos.

»Nie gehört«, murmelte sie.

… der beste Zeitpunkt für das Treffen einer Entscheidung oder für eine Gelegenheit, die man erkennen und nicht verstreichen lassen sollte.

Bei jedem nochmaligen Lesen ließen die Zeilen im ersten Drittel des Briefes Mascha für einen Moment innehalten. Der Grund dafür waren jedoch nicht die Worte, sondern das Dazwischenstehende, das Unsichtbare, aber dennoch Vorhandene, für das Mascha ein untrügliches Gespür besaß. Jane befand sich in der Lebensmitte. Eine Zeit, in der Gedanken wie aus dem Nichts auftauchen konnten, sich ungebeten in die Ordnung des Lebens drängten und alle Selbstverständlichkeiten in Frage stellten.

Meist näherten sie sich schleichend, so wie bei Mascha vor drei Jahren. In jeder freien Sekunde kreisten sie um das Erreichte und um das unweigerlich Kommende, aber auch um das Unerreichte und Erträumte, das nicht Gelebte, das lange Zeit unbemerkt geruht und sich irgendwann unaufhaltsam seinen Weg ins Licht gesucht hatte.

Die Hand mit dem Brief sank herab. Mascha legte den Kopf in den Nacken, füllte ihre Lungen mit einem tiefen Atemzug. Sie hatte sich beeilen, rechtzeitig im Kurs sein wollen. Und nun hatte sich Jane unbemerkt auf den ersten Platz ihrer Prioritätenliste geschlichen. Entschlossen erhob sie sich. Sie legte den Brief auf den Rand des Waschbeckens. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, streifte sie sich ihr T-Shirt über den Kopf. Dann rubbelte sie mit dem Handtuch ihre Haare halbwegs trocken, knetete sie mit den Händen und streifte ein Haarband darüber. Vor dem großen Spiegel im Flur blieb sie stehen, musterte ihre Erscheinung mit kritischem Blick, die blonden Locken, die türkisfarbene, weite Leinenhose, den dunkelblauen BH, der schon bessere Tage gesehen hatte, aber noch immer ein hübsches Dekolleté formte, die Kreolen aus Olivenholz an ihren Ohren, das Lederband mit dem silbernen Anhänger an ihrem Hals. Nackte Füße, ein kleines Baum-Tattoo über dem rechten Knöchel, nicht größer als ein Eurostück. Eine Frau von fünfzig, die erst vor zwei Jahren damit begonnen hatte, der Farblosigkeit in ihrem Leben die Stirn zu bieten.

»Magst du Farben?«, hörte sie sich flüstern. »Wie kleidest du dich?« Sie wusste nichts von Jane, nichts von dem, was Schwestern gemeinhin voneinander wissen. Sie hatten sich entfremdet – eine natürliche Folge nach zwanzig stummen Jahren. Wie kam es, dass die Jüngste von ihnen plötzlich den Mut aufbrachte, die Zeit der Stille zu durchbrechen?

Eine Stunde später hielt sie mit ihrem Fahrrad in der Nähe von Miquels Atelier. Der Regen hatte nachgelassen. Sie wartete bis zehn Minuten nach offiziellem Kursende, um sicher zu sein, dass auch die letzten Kursteilnehmer schwatzend das Haus verlassen hatten.

Miquel Noguerra lebte im vierten Stock in einer Hundert-Quadratmeter-Altbauwohnung, von der er das größte Zimmer als Zeichenatelier nutzte. Hier malte er die Bilder, die er auf Kunstmärkten verkaufte – vor allem Motive, die von der Natur inspiriert waren, für die sein Herz schlug –, hier saßen seine Schüler mit Pinsel oder Pastellkreiden um den großen Tisch herum, und hier hatten er und Mascha vor wenigen Tagen einen langen verbotenen Kuss getauscht. Den ersten. Einen Kuss, der Mascha ein Stück vom Boden und ihre Welt aus den Angeln gehoben hatte. Für die Dauer dieses Kusses hatte alles ringsumher aufgehört zu sein. Zeit, Licht, Luft und Raum hatten ihre Bedeutung verloren. Der Lärm von der Straße war verstummt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren miteinander zu einem zeitlosen Moment verschmolzen. Er war nicht aus heiterem Himmel gekommen, wie das mit Küssen manchmal geschieht, im Gegenteil. Genau genommen war ihm eine fast einjährige Anlaufzeit vorausgegangen, in der er sich durch Blicke, geflüsterte Komplimente, inniger werdende Umarmungen zum Abschied und Schwärme von Schmetterlingen in Maschas Bauch angekündigt hatte. Ungeachtet der zärtlichen Kraft, mit der er Mascha den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, hatte er sie gleichzeitig ungemein erschüttert. Dabei war er nur eine logische Folge der langsam gewachsenen Zuneigung zwischen ihr und diesem katalanischen Maler, von dessen Ausstrahlung sie sich schon in der ersten Zeichenstunde angezogen gefühlt hatte. Der Kuss hatte sie an ein Gemälde von Klimt erinnert, genauso hatte sie sich gefühlt, geborgen in Miquels Händen, gehalten von seinen Armen, Blüten im Haar, Goldflitter auf der Haut. Ihn zu küssen, hatte sich richtig und zweifellos angefühlt, und doch hatte sich anschließend ein Stein auf ihre Brust gesenkt, den sie nicht wieder losgeworden war. Sie mühte sich, ihm keine allzu große Beachtung zu schenken, aber jeder Tag ließ sie aufs Neue spüren, warum sie nicht imstande war, sich seiner zu entledigen. Der Grund dafür waren die Namen, die hineingemeißelt waren. Oliver. Judith. Kat.

»Entschuldige, dass ich es nicht pünktlich geschafft habe«, sagte sie, als er sie an sich drückte. Miquel war nur unwesentlich größer als Mascha, so konnten sie einander fast auf gleicher Höhe in die Augen sehen. Sie vergrub ihr Gesicht im Stoff seines Hemdes und sog den Duft ein, den sie so mochte. Seine Hände glitten über ihren Rücken. Sie schloss die Augen, wollte schnurren wie eine Katze, aber sofort schaltete sich die Vernunft ein. Widerwillig löste sie sich von ihm und trat einen Schritt zurück. Sie durfte das nicht tun! Sie zwang sich dazu, ihr wild schlagendes Herz und die Sehnsucht darin zu ignorieren. Sie ging ein paar Schritte und drehte sich dann wieder zu ihm um. Zwei Meter Sicherheitsabstand schienen ein probates Mittel zu sein. Für den Moment jedenfalls.

Miquels Atelier war nicht nur der größte, sondern auch der hellste Raum der Wohnung. Zwei Glastüren führten hinaus auf einen Balkon und ließen das Abendlicht herein fluten.

»Ich kann es erklären«, fuhr sie fort, um Sachlichkeit bemüht. Seine Arme sanken herab. In seinem Blick bemerkte sie einen Anflug von Enttäuschung, den sie sich zwang zu übersehen.

»Ein Brief für mich?«, fragte er, als er das hellgelbe Kuvert sah, das Mascha aus ihrem Rucksack zog.

»Was habe ich dir jemals über meine Schwestern erzählt?«, fragte sie, während sie mit zwei Fingern den Briefbogen auseinanderfaltete. Sie sprach für gewöhnlich nicht über Selma und Jane, was hätte es auch zu erzählen gegeben über Schwestern, die ihr so fremd waren wie zwei Planeten im All? Mascha erinnerte sich schwach, dass sie Selmas und Janes Existenz einmal mit wenigen Worten erwähnt hatte, in einem ihrer langen, ehrlichen Gespräche nach Unterrichtsende, als die anderen gegangen waren und sie beide noch eine Weile auf den farbverklecksten Stühlen im Atelier gesessen hatten, zwischen Mischpaletten, Pinselreiniger, Aquarellkästen und Acrylfarben.

»Nicht viel«, antwortete Miquel. »Dass du eine jüngere und eine ältere Schwester hast. Dass du sie seit vielen Jahren nicht gesehen hast.«

»Hier, schau.« Mascha reichte ihm den Briefbogen. Miquel zog sich einen der mit Farbspritzern übersäten Stühle heran und ließ sich darauf nieder. Er trug Jeans und ein graues Hemd mit aufgewickelten Ärmeln. Keine Socken, keine Schuhe. Er war in Katalonien aufgewachsen, Mitte der Sechziger, auf dem Landgut seiner Großeltern in der Nähe von Igualada, eine knappe Autostunde von Barcelona entfernt. Barfußlaufen war ein Relikt seiner Kindheit. Er hatte Mascha erzählt, dass es Erinnerungen an unbeschwerte Tage in seiner Heimat brachte, an das aus Bruchsteinen erbaute und von Efeu berankte Haus seiner Großeltern, an die Weinlesen im Herbst und die Feste im Hof, bei denen die ganze Familie beisammengesessen und die Großmutter große Schüsseln Botifarra mit weißen Bohnen und geröstete Weißbrotscheiben mit Tomaten und Öl aufgetischt hatte.

Unter Maschas Blicken las er den Brief bis zum Ende, die dichten Brauen zusammengezogen, sodass sich zwei senkrechte Falten in die Haut dazwischen gruben. Mascha musterte seine Hände, die den Brief hielten, die feinen schwarzen Härchen auf den Fingern, die Art, wie er das linke Bein anwinkelte, seine nackten Füße. Wie sehr ich dich liebe!, durchfuhr es Mascha, und sie erschrak über ihre eigenen Gedanken. Liebe für einen anderen Mann als den eigenen zu empfinden, passte nicht in das von ihr gewählte Lebenskonzept. Sie hatte ein Versprechen gegeben. Es war stark. Es musste stark sein. Nur dann würde sie bewahren können, was sie sich und ihren beiden Töchtern geschworen hatte.

Sie zwang sich dazu, ihren Kopf zu heben und den Blick hinaus auf den Balkon zu richten, auf die Blumenkübel, in die Miquel Olivenbäume und Oleander gepflanzt hatte.

In Olivers Gegenwart von Liebe zu sprechen, hatte sie im Lauf ihrer Ehe verlernt. Weil sie verlernt hatte, sie zu empfinden. Die Liebe zwischen ihr und Oliver war verschollen, hatte sich irgendwann unbemerkt an einen Ort zurückgezogen, den sie beide nicht mehr erreichen konnten. Sie hatten sie nicht einmal als vermisst gemeldet. Die Endgültigkeit war Mascha erst vor Augen getreten, als sie ihren ersten Zeichenkurs besucht und Miquel Noguerra kennengelernt hatte. Er hatte ihr gezeigt, dass sich unter ihrer äußeren Haut, die im Lauf der Zeit grau und starr geworden war, eine glänzende Schicht verbarg und wie wenig es brauchte, sie freizulegen.

Miquel streckte seine Hand nach ihr aus, während er sich erhob und die letzten Zeilen las. Mascha trat auf ihn zu und ergriff sie. Sie widerstand dem Verlangen, sich ihm weiter zu nähern, sich an ihn zu schmiegen, sich von ihm halten zu lassen. Ihre Hand in seiner, das war gerade noch zu verantworten. Als er geendet hatte, stieß er einen leisen Pfiff aus.

»Eine furchtlose Schwester«, sagte er. Er reichte Mascha den Briefbogen zurück.

»Das ist sie«, erwiderte sie. »Sie macht einen Schritt, den keine von uns in all den Jahren fertiggebracht hat.«

»Was treibt sie wohl dazu?«, fragte Miquel.

»Mich machen ihre Worte von diesem besonderen Zeitpunkt nachdenklich«, sagte Mascha. »Vielleicht steckt sie in einer Lebensphase, in der sie vieles hinterfragt, die Art, wie sie ihr Leben lebt, was sie daraus macht, was noch kommt oder auch nicht.«

Aus schmalen Augen sah er sie an. »Fährst du hin?«

Mascha zögerte. »Ich müsste spontan ein paar Tage Urlaub nehmen. Pfingsten steht vor der Tür. Im Laden herrscht Hochbetrieb. Dreisam wird mir was husten.«

»Vielleicht wäre es klug, das Wochenende abzuwarten.«

Sie nickte, senkte den Blick, sah, wie ihre Finger einander berührten, freigaben, sich wiederfanden, sich streichelten. Ein zärtliches Spiel, von dem sie nicht genug bekam.

»Wo steht das Sommerhaus deiner Tante?«, fragte Miquel.

Mascha hob den Kopf. »Auf einer wunderschönen kleinen dänischen Insel«, antwortete sie. »Ich war lange nicht dort, eigentlich nie wieder seitdem. Anfangs hatte ich immer vor, mit meiner Familie einmal hinzufahren, meinen Kindern zu zeigen, wo ich früher meine Ferien verbracht habe, mit ihnen am Strand Drachen steigen zu lassen und Muscheln zu sammeln. So wie ich es als Kind dort getan habe.«

»Warum hast du nicht?«

»Ach … es wäre zu kompliziert gewesen, es zu erklären.«

»Deinen Kindern?«

Sie rang sich ein gequältes Lächeln ab. »Nein. Oliver natürlich.«

»Macht die Vergangenheit dir Angst?«, fragte er.

Mascha legte ihren Kopf in den Nacken und seufzte hörbar auf. »Manchmal ist es besser, die Dinge ruhen zu lassen«, sagte sie ausweichend.

»Bereust du es?«, fragte er.

»Dass ich nicht mehr dort war?«

Er nickte.

»Nein. Oliver hätte das nicht unterstützt, es hätte mit Sicherheit einen Riesenstreit gegeben. Er hat sich nach Papas Tod sehr respektlos Selma und Jane gegenüber geäußert. Auch an Tante Gitte ließ er kein gutes Haar. Mit Selma sprach er schon vor unserer Hochzeit nur das Nötigste. Wenn ich ihn danach fragte, wich er aus. Ich vermute, die beiden hatten einmal eine Auseinandersetzung, die in großem Schweigen endete. Als Selma und Tante Gitte den Kontakt zu mir einstellten, bestätigte das nur seine Ansichten über sie. Und ich musste gestehen, dass ich enttäuscht und tief gekränkt war. Ein Besuch auf Rømø hätte all das geweckt, viele Fragen aufgeworfen und Diskussionen mit sich gebracht.«

»Was heißt das, du warst enttäuscht und gekränkt?«

»Selma hatte uns nach Papas Tod, noch am Tag seiner Beisetzung, deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Zeit braucht, um endlich ihr Leben zu leben und wir dabei Hindernisse sind. So hat sie es genannt! ›Ihr hindert mich daran, mein eigenes Leben zu leben …‹, das waren ihre Worte. Ich wollte mit ihr darüber sprechen, ich wollte es verstehen. Aber sie ließ es nicht zu. Selma und ich …« Sie stockte und suchte nach Worten, bevor sie den Satz beendete. »Es war nie besonders harmonisch zwischen uns.«

»Und warum hast du auch deine jüngste Schwester nie wiedergesehen?« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den Brief in Maschas Hand.

»Ach, das war alles sehr unschön. Und irgendwie auch rätselhaft. Meine Tante, bei der Jane zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre lebte, rief ein paar Tage nach Papas Beisetzung an. Sie wollte mich sprechen, aber ich war mit Judith beim Kinderarzt, die Kleine hatte am Tag der Beerdigung schon eine heftige Mittelohrentzündung. Tante Gitte teilte Oliver mit, dass sie mit Selmas Entscheidung ganz froh sei, denn nun wolle auch sie Zeit finden für ihr eigenes Leben. Meine Tante hatte bis zu diesem Zeitpunkt unglaublich viel für meine Familie getan. Sie ließ mir über Oliver ausrichten, dass Jane künftig im Ausland arbeiten würde, weil sie sich nicht länger mit den Katastrophen unserer Familie belasten wolle.«

»Per què? Das ergibt keinen Sinn!«, erwiderte Miquel. »Eine Familie hält zusammen, gerade in Krisenzeiten. Hast du nicht selbst noch einmal mit deiner Tante gesprochen?«

Mascha schüttelte den Kopf. »Ich wollte sie zurückrufen, nachdem Oliver mir alles erzählt hatte. Aber es hat so wehgetan, weißt du? Ihre Reaktion hat mich maßlos enttäuscht. Es war, als sei in mir eine Tür zugeschlagen, die ich nicht mehr öffnen wollte. Und Oliver hat mich damals auch nicht gerade ermutigt, es noch einmal mit einem Gespräch zu versuchen.«

»Aber jetzt hast du eine Einladung in der Hand.«

Mascha senkte den Kopf und betrachtete den Brief. »Ja, eine Einladung, um meine Schwestern wiederzufinden.«

»Und anscheinend auch deine Tante.«

Sie nickte.

»Willst du es?«

Mascha ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie dachte an Oliver, an seine mögliche Reaktion, an die Falten auf seiner Stirn, die stets erschienen, wenn er etwas nicht für richtig hielt, an seine messerscharfe Kritik, die er mit Argumenten untermauerte, denen Mascha nichts entgegensetzen konnte.

»Princesa, du solltest lernen, dich nicht so abhängig von seinem Urteil zu machen.«

»Warum sagst du das?« Sie entzog ihm ihre Hand und bereute es im gleichen Moment. Ungeduldig zupfte sie an einer Ecke des Briefes.

»Weil es so ist!«, erwiderte er. »Hör dir doch zu! Du hast dir gewünscht, deinen Mädchen diese Insel zeigen zu können, du wolltest einen Teil deiner eigenen Kindheit an sie weitergeben. Was für ein wunderschöner Gedanke! Aber du hast die Konfrontation mit der Vergangenheit gescheut, und du bist auch jetzt wieder im Begriff, es zu tun! Als bräuchtest du seine Zustimmung!«

Mascha stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Es blieb mir damals nichts anderes übrig, als die Entscheidung meiner Schwester und meiner Tante zu akzeptieren! Was würdest du denn tun, wenn jemand zu dir sagt: ›Bitte geh jetzt, ich will mein Leben ohne dich leben?‹«

»Du hast dich gefügt«, sagte Miquel. Er zog Mascha wieder zu sich heran.

»Ach, Miquel, es liegt so lange zurück, und jetzt ist plötzlich alles wieder da. Wie ein Bild, das übermalt wurde, weißt du? So etwas gibt es doch. Wenn man die obere Schicht ablöst, tritt darunter ein anderes Motiv zutage. Ich fühle mich gerade so, als ob jemand mich eingeladen hat, die obere Schicht eines Bildes abzulösen, um zu schauen, was darunter ist.«

Maschas Schultern sanken herab. Sie ließ es zu, dass er einen Arm um sie schlang und ihr eine Locke aus der Stirn strich.

»Was möchtest du?«, fragte er sehr leise. »Ich meine, willst du hinfahren? Willst du es wirklich?«

Sie überlegte nicht. »Ja«, antwortete sie fest. »Ich möchte sie wiedersehen.«

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu und schloss die Augen, als seine Lippen sanft ihre Wange berührten, ihren Hals, ihr Ohrläppchen. »Ich will ihnen verzeihen«, flüsterte sie. Seine Zärtlichkeit ließ ihren Widerstand bröckeln. »Ich will es wirklich.«

Als sie später die Haustür aufschloss, hörte sie aus der Küche die Stimme ihrer jüngsten Tochter Kat, die offensichtlich mit ihrem Vater stritt. Zwei Kampfhähne in der Arena – Oliver und sein krankhafter Drang, jede Situation kontrollieren zu wollen, gegen Kat mit ihrem unbändigen Bedürfnis nach Unabhängigkeit.

Mascha hängte den Schlüssel ans Brett über der Kommode und angelte Janes Brief aus der Tasche. Sie würde ihn Oliver zum Lesen geben. Jetzt gleich.

Kat wurde laut. Wortreich verteidigte sie ihre Position. Sie war neunzehn, ein vor Selbstbewusstsein strotzendes Mädchen, dem einerlei war, was andere für richtig hielten, was ihr Vater sich von ihr wünschte. Sie machte sich nicht abhängig von ihrer Außenwirkung und von dem, was andere von ihr hielten oder über sie dachten.

Mascha betrat die Küche, wo die beiden einander gegenüberstanden. Oliver mit hochrotem Kopf, beschienen vom kalten Licht der Deckenleuchte, das ihn wie eine Aura aus Eis umgab. Der Mann, den sie einmal geliebt hatte. Manchmal ertappte Mascha sich dabei, dass sie ihn bei einer belanglosen Tätigkeit beobachtete, beim Zähneputzen, beim Bestreichen einer Brötchenhälfte, beim Telefonieren mit seiner Mutter, beim Schlafen oder wie jetzt beim Streit mit Kat, und sich verzweifelt an das einst für ihn empfundene Gefühl erinnern wollte. Wie weit zurück musste es liegen, dass weder Herz noch Gedächtnis es heraufbeschwören konnten? Oder war die Zuneigung zu Miquel imstande, alles jemals für Oliver Gefühlte zu schmälern? Sie fand keine Antwort, nie. Und das Beklagenswerteste daran war, dass sie die Abwesenheit der Liebe inzwischen akzeptieren konnte. Oliver wusste schon lange nichts mehr von ihr. Nichts von dem, was sie gedanklich beschäftigte, nichts von dem, was ihr wichtig war. Dass sie donnerstags zum Malen ging, nahm er stumm zur Kenntnis, ohne sich jemals nach ihren Fortschritten zu erkundigen. Aber weder von Miquel noch von der Leidenschaft, die sie in ihre Zeichnungen legte, ahnte er etwas. Dass der Ausdruck ihrer schöpferischen Kraft ihr ein Gefühl der Lebendigkeit vermittelte, sobald sie die Farben auf die Leinwand auftrug, hätte sie ihm nicht einmal im Ansatz erklären können. Anfangs hatte sie versucht, Worte zu finden, die es ihm hätten verdeutlichen können, es aber schon bald aufgegeben. »Meine Frau malt Blumenbilder«, hatte Mascha ihn einmal lachend sagen gehört, auf der Einzugsparty der neuen Nachbarn.

Meine Frau malt Blumenbilder … Jedes Wort gespickt mit Dornen, die sich hart und kalt in Maschas Herz gebohrt hatten. Wie herablassend er sie ausgesprochen hatte und wie tief die Wunde war, die er Mascha damit zugefügt hatte, war ihm nicht aufgefallen. Eine flammende Röte war Mascha in die Wangen geschossen. Sie hatte sich entschuldigt und war zur Haustür heraus in den nächtlichen Garten geflohen, wo sich dank des Nieselregens niemand aufgehalten hatte. Zwischen Gartenbank und Kirschbaum hatte sie um Fassung gerungen, während ein feiner feuchter Film ihr Gesicht bedeckt hatte. Sie hatte ihre Handflächen an die Rinde gepresst und sich in die Finsternis starrend Miquels von ihr mit Bangen herbeigesehnte Beurteilung ins Gedächtnis gerufen, nachdem sie ihre erste Zeichnung, eine karminrote Mimose mit zerrupftem Blütenkopf, fertiggestellt hatte.

»Du zeigst uns ihre Seele«, hatte er leise gesagt, voll ehrlicher Bewunderung und mit dem gebotenen Respekt, woraufhin ihr Gemälde den endgültigen Titel erhalten hatte. Mimosa anima in Pastell auf Leinwand schmückte seitdem die Wand ihres kleinen Schlafzimmers unterm Dach, und wenn sich ihr Blick darin verlor, tauchten zugleich Miquels Worte wieder auf, durch die Mascha viel mehr in ihrem Bild sah als nur die karminrote Mimose.

Kat beendete in diesem Augenblick den Streit mit ihrem Vater und rauschte mit einem Schnauben an ihrer Mutter vorbei.

Oliver stand vor dem geöffneten Kühlschrank und griff nach einer Flasche Bier. Mascha bemerkte die pochende Ader an seiner rechten Schläfe. Janes Brief wanderte von ihrer rechten in die linke Hand. Gedanklich suchte sie nach Worten.

»Eigentlich dachte ich, dass sie mit neunzehn aus dem Trotzalter raus wäre«, brummte er statt einer Begrüßung. Er öffnete die Flasche und setzte sie an die Lippen. Mascha wartete. Sie mochte es nicht, wenn er Bier aus der Flasche trank. Aber sie schwieg.

»Nach so einem Tag! Der Alte hat pausenlos genervt! Wenn das so weitergeht, werde ich mir auch ein Burnout zulegen, wie die werten Kollegen, die einfach mal für ein Jahr ausfallen. Du hättest die Diskussionen hören müssen! Sogar Blumberg hat sich dieses Mal nicht zurückgehalten! Da hat mir nach Feierabend unsere eigensinnige Tochter gerade noch gefehlt.« Wieder hob er die Flasche an die Lippen und trank geräuschvoll.

Warum lässt du sie nicht einfach in Ruhe?

Mascha merkte, wie sich ihr Geist abspaltete. Sie wollte das alles nicht hören. Sie hatte sich gewünscht, Oliver in einem guten Moment anzutreffen, um ihm Janes Brief zu zeigen. Allein die Namen ihrer Schwestern zu nennen, würde wahrscheinlich ausreichen, ein enerviertes Augenrollen bei ihm auszulösen. Seinen Ärger weiter anzufachen, hielt Mascha für unklug. Sie kannte ihn lange genug.

»Bin müde«, sagte sie. »War ein langer Tag. Ich geh schlafen.«

Im Badezimmer zog sie sich aus, streifte ein weites T-Shirt über den Kopf, bürstete ihre Locken und wusch sich Gesicht und Hände. Beim Zähneputzen dachte sie an Jane. An Selma. An Tante Gitte. An Rømø. An die Vergangenheit, die zwanzig Jahre lang unter einem Schleier aus Schweigen geruht hatte und die plötzlich in eine Nähe gerückt war, an die Mascha schon nicht mehr geglaubt hatte.

Sie hörte, dass Oliver den Fernseher eingeschaltet hatte. Gedämpft vernahm sie die Stimme der Reporterin und Olivers spöttischen Kommentar dazu. Sie spülte den Mund aus, säuberte die Zahnbürste, trocknete sich die Hände ab. Das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, wirkte ernst. Sie sah die graue Hülle und sehnte sich nach den darunter verborgen liegenden Farben. Nach dem Glanz, von dessen Existenz sie viel zu lange nichts geahnt hatte.

Im Licht ihrer Nachttischlampe las sie den Brief noch einmal. Bevor sie einschlief, schob sie ihn zusammengefaltet unter ihr Kopfkissen.

All die ungelebten Leben

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