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Mascha

Sie warf sich ihren abgewetzten Lederrucksack über die Schulter. Mit der linken Hand griff sie nach der in Papier eingeschlagenen Pflanzschale und schloss mit der rechten die Ladentür ab. Mascha war die Letzte, wie meistens, und wie so oft durchfuhr sie beim Abschließen der Tür ein mit Wehmut getränkter Wunsch. Könnte es doch ihre eigene Ladentür sein, die sie morgens auf- und abends zusperrte! Der Traum von einem kleinen Blumenladen gedieh beharrlich seit vielen Jahren, und Mascha war eine Meisterin darin, ihm imaginär das Überleben zu sichern. Sie schmückte ihn gedanklich aus mit einem Rausch aus Farben, mit blühenden Hyazinthen und Ranunkeln, mit Freesien, Hortensien, Phlox und mit Eimern voller Freilandrosen in rosa, orange, gelb, dunkelrot, pink und weiß, kunterbunte Sträuße oder Ton in Ton. Und sie nährte ihren Traum mit der unbändigen Sehnsucht nach einem Lebensgefühl, das nur eine Ahnung war. Sie träumte weiter, auch wenn die Aussicht auf Erfüllung aufgrund fehlender finanzieller Möglichkeiten gleich Null war. Ein paar Mal hatte sie den Versuch unternommen, Oliver für ihre Idee zu begeistern, es lag lange zurück, und er hatte ihr stets deutlich zu verstehen gegeben, was er von diesem irrsinnigen Floh in ihrem Ohr hielt. Irgendwann hatte sie aufgehört, mit ihm darüber zu sprechen.

Eilig überquerte sie den Parkplatz, der wie leer gefegt war um diese Zeit. Sie warf einen raschen Blick hinauf zum Himmel, der verhangen von schweren Wolken Regen verhieß. Mascha hoffte, dass der Guss sie verschonen würde. Sie entriegelte das Fahrradschloss. Die Pflanzschale deponierte sie zusammen mit ihrem Rucksack im Korb vor dem Lenker. Kurz darauf verließ sie den Parkplatz der Gärtnerei und folgte der Ortsdurchfahrt, die sich in weiten Kehren aus dem Dorf heraus schlängelte. Jeden Morgen fuhr sie sechs Kilometer von Fürstenried bis zur Gärtnerei im Nachbardorf und am Nachmittag wieder zurück. Seit fast zehn Jahren bei jedem Wetter. Der Fahrtwind kühlte ihr Gesicht, während sie zügig durch die baumbestandene Allee in Richtung Waldfriedhof radelte. Sie ärgerte sich, dass sie den Laden wieder nicht hatte rechtzeitig verlassen können. Jeden Donnerstag hoffte sie auf einen pünktlichen Feierabend, um ohne Schweißränder unter den Armen und ohne von der Hetze gerötete Wangen im Zeichenkurs zu erscheinen. Sie ahnte, dass es ihr auch dieses Mal nicht gelingen würde, was aber nicht allein an der halben Überstunde lag.

Sie folgte der Lindenallee, die sich etwa einen halben Kilometer geradeaus erstreckte und an deren Ende der Waldfriedhof grenzte. Kein Fahrzeug kam Mascha entgegen, kein Fußgänger, kein Radfahrer. Kräftig trat sie in die Pedale, um keine Sekunde zu vergeuden. Zum ersten Mal seit dem Tag vor neunzehn Jahren, an dem sich die jährlichen Friedhofsbesuche zu ritualisieren begannen, stellte Mascha sich kurz die Frage nach dem Sinn. Oder vielmehr nach der Priorität. Setzte sie sich nicht selbst unter unnötigen Druck, indem sie Jahr für Jahr an dieser Gewohnheit festhielt? War ihr der Zeichenkurs nicht wichtiger als dieser Besuch auf dem Friedhof, den sie ebenso gut einen Tag später noch erledigen könnte? Sie schob die auftauchenden Zweifel beiseite und brachte ihr Fahrrad vor der Friedhofsmauer zum Stehen. Sie verriegelte das Schloss und griff nach Rucksack und Pflanzschale.

Stille umfing sie, als sie durch das aus Eisen geschmiedete Tor trat. Was für ein wohltuender Kontrast zu dem Betrieb, der tagsüber im Laden geherrscht hatte! Obwohl der Arbeitstag inzwischen hinter ihr lag, meinte Mascha, den Klang der Glocke über der Tür, die mit ihrem nervenden Gebimmel jeden Eintretenden und Hinausgehenden begleitete, noch immer hören zu können. Das Pfingstwochenende stand bevor, und Mascha hatte Sträuße im Akkord gebunden, was man ihnen jedoch nicht angesehen hatte. Sie liebte es. Sie war gut darin. Zuweilen verlangten die Kunden explizit nach ihr, wenn sie den Laden betraten. Dann stahl sich jedes Mal ein stilles Lächeln auf ihre Lippen, und sie wünschte sich, Dreisam, ihr Chef, der vor lauter Aufgeblasenheit jeden Tag kurz vor dem Platzen stehen musste und dem niemals ein anerkennendes Wort über die Lippen kommen wollte, möge zugegen sein und registrieren, dass die Kunden es bevorzugten, von ihr bedient zu werden.

Der Kies knirschte unter den Bastsohlen ihrer Schuhe, während sie die Grabreihen durchschritt, wie sie es zahllose Male zuvor getan hatte. Sie hätte den Weg mit verbundenen Augen gefunden. Die Stille über den Gräbern wurde nur vom Gesang der Vögel in den alten Bäumen unterbrochen.

In einiger Entfernung bemerkte Mascha eine ältere Dame, die mit einem Lappen über einen Marmorgrabstein rieb, und ein paar Schritte weiter zwei junge Männer mit gesenkten Köpfen vor einem Grabhügel.

Sie ging weiter bis zu einer Linde, die schutzspendend ihre Äste über einem Dutzend Gräber ausbreitete. Wie oft hatte Mascha sich gewünscht, in einem davon könnten die sterblichen Überreste ihres Vaters ruhen! Manchmal stand sie vor einem der Grabsteine und stellte sich vor, der Name ihres Vaters sei dort hinein gemeißelt.

Emil Molander. Apotheker. Geboren 1923. Gestorben 1995.

Eine Wunschvorstellung. Emil Molanders Grab befand sich viele hundert Kilometer entfernt. Zu weit, um ihm an seinem Todestag Blumen zu bringen.

Mascha verließ die Grabreihen. Nur wenige Schritte neben der Linde hatte die Stadt einen Gedenkstein errichten lassen, die Skulptur eines Engels, grau verwittert, so groß wie Mascha selbst. Die Falten seines Gewandes und die ausgebreiteten Flügel hatten im Lauf der Zeit Moos und Flechten angesetzt. Mit einem milden Lächeln im Antlitz blickte er von seinem Steinsockel auf Mascha herab. Ins Fundament hatte der Steinmetz einen Psalmvers eingearbeitet: Denn er hat seinen Engeln befohlen, dich zu beschützen, wohin du auch gehst. Und darunter in etwas kleineren Buchstaben: In stillem Gedenken an unsere lieben Verstorbenen auf den Friedhöfen dieser Welt.

Maschas Blick glitt über die beiden ausgebrannten Grablichter zu Füßen des Engels, die verdorrten Margeriten daneben und die dunkelrote Rose, die offensichtlich erst kürzlich gebracht worden war.

Mascha hockte sich nieder, die Blumen für ihren Vater im Schoß. Sie streifte das Papier ab. Mit den Fingerspitzen strich sie über die Vergissmeinnichtblüten, die darunter zum Vorschein kamen. Sie brachte ihm immer Vergissmeinnicht. Jahr für Jahr am vierundzwanzigsten Mai.

Den Steinengel hatte man nur ein paar Monate nach dem Tod von Emil Molander an diesem Platz errichtet, und für Mascha, die nicht an Zufälle glaubte, aber unbeirrbar an Zeichen, war dies Grund genug, in jedem Jahr hierherzukommen. Auf unerklärbare Weise fiel es ihr leicht, sich an diesem Ort mit ihrem Vater verbunden zu fühlen. So verbunden, wie sie es zu seinen Lebzeiten nie gewesen waren.

Zwanzig Jahre. Wäre er hier auf dem Waldfriedhof begraben worden, hätte sie wahrscheinlich dieser Tage eine Mitteilung der Friedhofsbehörde erhalten, in der man sie höflich auf den Ablauf der Liegedauer hingewiesen und darüber informiert hätte, dass die Grabstelle vor dem Winter aufgelöst und neu vergeben würde. Mascha seufzte. Die Erinnerungen zerrten an ihr. Mama. Ihre Grabstätte existierte schon etliche Jahre nicht mehr. Mascha erinnerte sich nicht einmal daran, wie das Grab ihrer Mutter ausgesehen hatte, so selten war sie dort zu Besuch gewesen. Und stets hatte sie mit einem namenlosen Gefühl dagestanden, mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Pflichtgefühl und einer seltsamen Art von Dankbarkeit, dass ihre Tante Gitte sich der Pflege des Grabes angenommen hatte. So war Mascha nicht gezwungen gewesen, den Platz eines Menschen in Ordnung zu halten, der in ihrem Herzen nichts als Unordnung hinterlassen hatte.

Sie entfernte die vertrockneten Blütenköpfe der Margeriten und platzierte die Schale mit den Vergissmeinnicht auf dem Sockel zwischen den bloßen Füßen des Engels. Dann setzte sie sich, wie in jedem Jahr, auf die von Sonne und Regen verwitterte Bank, die nur wenige Schritte entfernt stand und von der aus sie den Engel im Blick behalten konnte. Mitunter kam es ihr vor, als sei diese Bank eine Schwelle, die es ihr ermöglichte, in eine andere Zeit zu gelangen. In eine Zeit, in der sie eine Schwester gewesen war. Eine Tochter. Eine Nichte. Möglicherweise nahm sie nur deshalb jedes Mal hier Platz. Und möglicherweise suchte sie nur deshalb jedes Jahr an Emil Molanders Sterbetag den Steinengel auf. Um sich für eine Weile zu erinnern, wie es gewesen war.

Der Tag seines Begräbnisses. Ein ungewöhnlich heißer Tag Ende Mai, die Sonne hatte auf die schwarz gekleidete Schar der Hinterbliebenen herabgebrannt. Sie selbst war schwanger mit Kat gewesen, wie der Test ein paar Tage vorher gezeigt hatte, aber die Bestätigung vom Gynäkologen hatte noch ausgestanden. Judith, gerade zwei geworden, hatte während der Beisetzung unablässig gequengelt und sich unruhig in Maschas Armen gewunden, nicht vor Traurigkeit, weil ihr Opa gestorben war, sondern wegen einer beginnenden Mittelohrentzündung, wie sich tags darauf beim Kinderarzt herausgestellt hatte. Damals hatten Mascha und Oliver noch in Lahnstein gewohnt und daher eine fünfstündige Fahrt nach Nordenham zurücklegen müssen, wo Emil Molander dank der einsamen Entscheidung seiner ältesten Tochter beigesetzt worden war. Die Fahrt war eine Tortur gewesen. Für Judith wegen der Ohrenschmerzen. Für Mascha, weil sie stundenlang damit beschäftigt gewesen war, ihr quengelndes Kind zu beruhigen. Und für Oliver, der sich auf den Verkehr hatte konzentrieren wollen und dem das Jammern seiner Tochter auf die Nerven gegangen war.

Inzwischen war Judith zweiundzwanzig und ohne Erinnerung an ihren Großvater Emil. Er war unsichtbar für sie gewesen, unnahbar, unerreichbar.

Mascha erinnerte sich, wie verlassen sie sich während der Beisetzung gefühlt hatte, neben ihren Schwestern, neben Oliver, neben Tante Gitte und den wenigen anderen, die sich Emil Molander nach den Jahren seines langsamen Abschieds aus der Welt noch immer so verbunden gefühlt hatten, dass sie die Fahrt in den Norden Deutschlands auf sich genommen hatten. Jeder trauerte auf seine Weise, die einen mehr, die anderen weniger. Seine Töchter gehörten zu letzteren. An jenem Tag zerbröselte der letzte Rest Mörtel, der die Familie zusammengehalten hatte. Tief grub sich eine Sprachlosigkeit zwischen die drei Molander-Mädchen, die noch immer anhielt.

Bis heute war Mascha in der Lage, sich den Anblick ihrer Schwester Selma mit dem zu einer Maske versteinerten Gesicht am Tag des Begräbnisses ins Gedächtnis zu rufen. Tadelloses Äußeres, wie immer. Schwarzes, figurbetontes Kleid, Pumps und Handtasche einer teuren Modemarke und ein Mann an der Seite, der ihr all dies ermöglichte. Aber Selmas stumpf blickende Augen und die zusammengepressten Lippen hatten nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die nach außen getragene Makellosigkeit ein Trugbild war und sie darunter etwas verbarg, das sie niemandem preisgab. Wahrscheinlich hatten die meisten Anwesenden Selmas Züge als Ausdruck der Trauer gedeutet. Damit hätte wenigstens eine Tochter des Apothekers Molander den gesellschaftlichen Erwartungen entsprochen, darin war Selma ohnehin die Geübteste.

Mascha aber war damals schon von dem untrüglichen Gefühl beschlichen worden, dass da noch etwas anderes sein musste, etwas, das Selma in sich verschlossen hatte. Wie sonst war ihr Rückzug von der Familie zu erklären, der von ihr herbeigeführte Bruch zwischen den Schwestern, sobald der Vater unter die Erde gebracht worden war?

Nach der Beisetzung waren die Trauergäste in Stille auseinandergegangen – dies hatte Emils Halbschwester Gitte verfügt, weil es dem Wesen des Verstorbenen am ehesten entsprochen hatte. Und so waren auch Selma, Jane und Mascha in Stille auseinandergegangen. In einer schwarzen beklemmenden Stille, die sie in all den Jahren nicht zu unterbrechen gewagt hatten.

Keine von ihnen war daran interessiert gewesen, das Elternhaus zu behalten, das sie zu gleichen Teilen geerbt hatten, weshalb Selma einen Makler mit dem Verkauf betraut hatte. Die Formalitäten wurden per Post erledigt und die Verkaufssumme gedrittelt.

Mascha hatte nicht um ihren Vater weinen können. Weder am Tag seines Todes, als er so still, wie er gelebt hatte, gegangen war, noch als man den Eichensarg mit dem Lilienbukett in die schwarze Tiefe herabließ, und auch später nicht.

Ein Geräusch ließ Mascha zusammenzucken, sie wandte sich um, aber es war niemand zu sehen. Sie schalt sich eine Verrückte, weil sie in ihren Erinnerungen gegraben und sich ihnen hingegeben hatte, als habe sie alle Zeit der Welt. Hastig sprang sie auf. Wenn sie sich beeilte, würde sie zuhause rasch ihr T-Shirt wechseln und ihre Mähne bändigen können. Im Gehen dachte sie an Miquel. An sein Lachen, das Funkeln in seinen Augen, wenn er sie im Kurs mit seinem katalanisch gefärbten »Bona tarda, princesa« begrüßte.

»Nur einer princesa ist es erlaubt, sich zu verspäten«, sagte er oft, wenn sie als Letzte erschien, und während um sie herum alle über seine Bemerkung witzelten, bemühte Mascha sich jedes Mal, die aufflammende Röte zu verbergen, die ihr in die Wangen schoss.

Noch immer war es ihr unerklärlich, warum sie sich in Miquels Gegenwart aus einer abgenutzten Haut zu schälen schien, unter der die schillernden Farben der wahren Mascha zum Vorschein kamen. Niemand außer Miquel hatte diese Farben jemals gesehen, nicht einmal der Mann, mit dem Mascha seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet war.

Die ersten Tropfen fielen nieder, als sie den Friedhof verließ und sich auf ihr Fahrrad schwang.

Durchnässt bis auf die Haut kam sie zuhause an. Die blonden Locken klebten ihr nass an den Schläfen, und ihr T-Shirt schmiegte sich feucht an ihren Oberkörper. Donnerstags arbeitete Oliver länger, weshalb sie einander für gewöhnlich erst nach Maschas Rückkehr vom Zeichenkurs begegneten. Kat war wie üblich um diese Zeit beim Handballtraining, und Judith wohnte seit ein paar Monaten in einer WG in der Nähe der Uni.

Das Haus in Fürstenried hatten Mascha und Oliver vor achtzehn Jahren gekauft und renoviert. Maschas Erbteil vom Verkauf ihres Elternhauses war wie ein warmer Regen für die Finanzierung gewesen.

Sie schob ihr Fahrrad in die Garage und rieb sich die Hände notdürftig an den feucht gewordenen Hosenbeinen trocken. Gewohnheitsmäßig fischte sie, während sie die Haustür aufschloss, die Post mit drei Fingern aus dem Schlitz des Briefkastens. Sie betrat die Diele, ließ ihren Rucksack auf die Fliesen fallen und schlüpfte aus den Schuhen. Auf dem Weg ins Bad glitt ihr Blick über die Kuverts und Reklameblättchen. Rabattaktion beim Optiker, Rechnung von der Autowerkstatt und ein Brief in hellgelbem Kuvert. Eine fein geschwungene, gut leserliche Handschrift, adressiert an Mascha Löwenstein. Auf der Suche nach einer Absenderangabe drehte sie den Brief, doch der Schreiber hatte keine hinterlassen. Wasser tropfte aus ihren Haaren auf den Umschlag. Im Gehen öffnete sie ihn mit dem rechten Zeigefinger. Dabei bemerkte sie, dass der Brief nicht mit einer deutschen, sondern mit einer dänischen Briefmarke frankiert war. Stirnrunzelnd angelte sie nach der Lesebrille, die sie im Badezimmer in ihrer Schublade verwahrte, und schob sie sich auf die Nase. Mit einer Hand griff sie nach dem Frotteehandtuch am Knauf neben dem Waschbecken, mit der anderen entfaltete sie den Bogen Papier.

Liebe Selma, liebe Mascha …

Sie glaubte, ihre Herzschläge in den Ohren zu spüren, während ihr Blick über die Zeilen flog.

»Das ist nicht möglich …«, murmelte sie, sank auf den Rand der Badewanne und saugte die Worte ihrer jüngsten Schwester auf wie ein Schwamm.

All die ungelebten Leben

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