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Selma

Ein letzter Zug an der zur Hälfte gerauchten Zigarette. Vor Jahren hatte sie es einmal für vier Wochen mit großer Anstrengung geschafft, nicht mehr im Auto zu rauchen. Die Kombination Autofahren und Rauchen löste aber ein solches Wohlbefinden in Selma aus, dass sie nicht darauf verzichten wollte. So hatte sie ihr Vorhaben als Schnapsidee verworfen und nie wieder aufgegriffen.

Sie parkte an der Mauer, stellte den Motor ab und schloss für einen Moment die Augen mit den perfekt getuschten Wimpern, während sie den Rauch durch das geöffnete Seitenfenster blies. Eine Schande um die nur halb gerauchte Zigarette, aber Selma fand, es gehörte sich nicht, auf dem Friedhof zu rauchen. Sie öffnete die Fahrertür und schnippte den Zigarettenrest nach draußen. Mit der anderen Hand klappte sie die Sonnenblende ein, nicht ohne den gewohnheitsmäßigen Blick in den kleinen integrierten Spiegel. Sie überprüfte Kajal- und Lippenstift und ordnete ihre Haare, die der Fahrtwind durcheinander gebracht hatte. Neuerdings trug sie sie kinnlang und hellblond gefärbt, was sie jünger aussehen ließ. Selma hob und senkte den Kopf, um möglichst viel in dem kleinen Spiegel sehen zu können. Als sei ihr Aussehen in der nächsten Viertelstunde von entscheidender Bedeutung. Schließlich griff sie nach ihrer Tasche auf dem Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. Aus dem Kofferraum nahm sie eine Tonschale, in die sie Fächerblumen und Zauberschnee hatte pflanzen lassen. Ein Rausch aus weißen und lilafarbenen Blüten, sehr hübsch, beinahe zu schade für den Friedhof.

Die Absätze ihrer Pumps versanken bei jedem Schritt zur Hälfte im Kies, als sie dem Weg zum Grab ihres Vaters folgte. Es befand sich in unmittelbarer Nähe einer Hecke, die die einzelnen Grabreihen voneinander trennte. Der Friedhofsgärtner, den Selma mit der Pflege der Grabstelle betraut hatte, erledigte seine Arbeit gewissenhaft, wie sie zufrieden feststellte. Sorgfältig beschnittener Kriechwachholder, blühende Hornveilchen, aufgeharkte Graberde ohne Unkraut, kein Moos auf dem Grabstein. Sie platzierte die Pflanzschale auf der Steinplatte in der Mitte des Grabes, drehte sie etwas, zupfte zwei welke Blättchen ab, erhob sich und trat einen Schritt zur Seite.

»Für dich, Papa.«

Seit zwanzig Jahren begrüßte sie ihren Vater an seinem Sterbetag mit den immer gleichen Worten. Es waren die einzigen, die ihr über die Lippen kamen. Schon zu seinen Lebzeiten hatte es nie Plaudereien zwischen ihnen gegeben oder gar Albernheiten, wie sie es manchmal bei Freundinnen und ihren Vätern beobachtet hatte. Nie hatte Selma mit ihrem Vater darüber gesprochen, womit sie sich gedanklich beschäftigte. Es zu versuchen, wäre ihr gar nicht in den Sinn gekommen, denn schon als kleines Mädchen hatte sie gelernt, dass ihrem Vater nur eine bestimmte Menge Worte zur Verfügung stand und er sie sparsam einsetzte. Zum Beispiel beim Vorlesen. Stunde um Stunde hatte Emil Molander damit zugebracht, seine Töchter mit den großen Schriftstellern und Poeten der Weltliteratur vertraut zu machen. Er war nicht müde geworden, Selma die Geschichten von Nils Holgersson und den Wildgänsen vorzulesen, kaum dass sie alt genug gewesen war, länger als eine halbe Stunde in seiner reich ausgestatteten Bibliothek zu sitzen und ihm zu lauschen. Als Dreijährige verstand sie bereits, dass sie dabei nicht auf dem mit dunkelgrünem Velours bezogenen Diwan herumzuturnen, sondern still und andachtsvoll dazusitzen hatte, umgeben von bis zur Zimmerdecke reichenden Regalen, in denen sich, sortiert nach einer Ordnung, die sich Selma erst später erschloss, Werk an Werk reihte. Wie ein König erschien Emil Molander seiner Tochter in seinem ausladenden, cognacfarbenen Lesesessel, ein aufgeschlagenes Buch in den großen Händen haltend. Selma sog die sonore Stimme ihres Vaters in sich auf, denn zu keiner anderen Zeit bot sich die Gelegenheit, sie so lange zu vernehmen wie während ihrer Vorlesestunden in der Bibliothek. Später, kaum dass Selma dem Nils-Holgersson-Alter entwachsen war, griff Emil Molander zur Erwachsenenliteratur ihrer Namensgeberin. Voller Ehrfurcht beobachtete Selma, wie ihr Vater die Leiter am entsprechenden Regal positionierte und sie erklomm, um das gesuchte Lagerlöf-Werk zielsicher aus der Bücherreihe zu ziehen.

Sein Daumen strich jedes Mal sanft über den Einband, bevor er seiner Tochter das Buch mit den Worten »Gib mir schön acht, dass nichts dran kommt!« überreichte. Wie eine Liebkosung erschien Selma diese Berührung, die sie selbst zeitlebens hatte entbehren müssen, weshalb sie die Bücher ihres Vaters zuweilen beneidete. Seine Bitte brachte er bei jedem Buch mit dem stets gleichen ernsten Gesichtsausdruck vor, was die Heiligkeit verdeutlichte, die er nicht nur seinen Büchern, sondern auch deren Ausleihe beimaß. Selma war zu jung, um zu verstehen, dass das Lesen der Lagerlöf-Bücher nicht ihrem eigenen Interesse, sondern einzig dem Wunsch geschuldet war, ein gehorsames Mädchen zu sein, um die Aussicht auf eine winzige Ration Vaterliebe zu verbessern. Doch ihr Lohn war karg. Nicht mehr als ein schmallippiges Lächeln hatte er für sie, wenn sie ein gelesenes Buch zu ihm in die Bibliothek zurückbrachte. Er nahm es entgegen, kontrollierte mit großer Sorgfalt seinen Zustand und nickte, wenn er keinen Schaden feststellte. Dieses Nicken hatte Selma zu genügen, und sie wünschte sich jedes Mal, es könne das gleiche Gefühl in ihr auslösen wie die väterliche Zuneigung, nach der sie sich sehnte. Im Übrigen hatte er an den Büchern, die er Selma lieh, niemals einen Schaden festgestellt, denn Selma hatte die Bücher ihres Vaters, auf deren Einbände er die Zärtlichkeit seiner Hände hinterlassen hatte, wie einen Schatz in der Schublade ihres Schreibtisches gehütet.

Sie schüttelte die Erinnerungen ab, warf einen letzten Blick auf die Pflanzschale und ging davon.

Vom Friedhof bis zur Wohnung waren es nur knappe zehn Minuten. Selma rauchte während der Fahrt und fuhr zügig, stellte den Wagen auf dem Parkplatz des Zweifamilienhauses ab und ging zur Haustür. Hoffentlich lief der verschrobene Herr Laus aus der Parterrewohnung ihr nicht über den Weg. Ihr stand heute nicht der Sinn nach den seltsamen Dingen, die er an manchen Tagen von sich gab.

Sie schloss zuerst die Haustür auf, dann ihren Briefkasten. Während sie mit dem Fuß die Tür aufdrückte, fischte sie zwei Briefe aus dem Kasten. Ohne ihnen Beachtung zu schenken, ließ sie sie in ihre Handtasche wandern. Selmas Wohnung befand sich im zweiten Stock. Wie üblich nahm sie die Treppe, weil sie sich gerne bewies, dass sie trotz des Rauchens zwei Etagen heraufsteigen konnte, ohne nach Luft zu ringen. Oben angekommen, schloss sie die Wohnungstür auf. Sie atmete nur unwesentlich schneller als sonst, wie sie mit Genugtuung feststellte. Schlüssel und Handtasche legte sie auf die Kommode neben der Tür. Gleichzeitig schlüpfte sie aus den Pumps. Im Wohnzimmer schaltete sie den Fernseher ein, ohne hinzuschauen, es genügte, dass jemand sprach, worüber, war nebensächlich. Sie ging in die Küche, brühte mit der Maschine einen Milchkaffee auf und nahm die Tasse mit ins Wohnzimmer. Dort zündete sie sich eine Zigarette an, sank in die Polster ihres Ledersofas und verfolgte mit einem Auge die Nachrichten im Fernseher. Vergessen waren die Briefe in ihrer Handtasche.

Erst später, als sie im Badezimmer vor dem Spiegel stand und ihre Zähne mit der elektrischen Zahnbürste bearbeitete, fielen sie ihr wieder ein. Sie sollte wenigstens einen Blick darauf werfen. Mit der brummenden Zahnbürste in der Wangentasche stieg sie die gewundene Treppe herunter, trat an die Kommode und angelte die Post aus ihrer Tasche. Auf dem Weg zurück ins Badezimmer betrachtete sie die beiden Briefumschläge. Ein weißes Kuvert und ein hellgelbes. Auf dem weißen erkannte Selma die Absenderangabe eines Juweliers, bei dem sie im vergangenen Jahr einen ausgefallenen Armreif für eine horrende Summe erstanden hatte, den sie nur selten trug. Seither erhielt sie regelmäßig aufwändig gestaltete Werbebriefe. Uninteressant. Sie legte ihn beiseite und wandte sich dem hellgelben Umschlag zu.

»Seltsam …« Zwei verschiedene Adressangaben waren darauf vermerkt, ihre alte Adresse und die neue. Der Schreiber der alten Adresse hatte eine auffallend symmetrische Handschrift, die Selma nicht zuordnen konnte. Jemand hatte sie jedoch mit einem schwarzen Filzstift durchgestrichen. Daneben war ihre jetzige Adresse notiert worden. Diese Handschrift kannte sie bestens, auch wenn sie sie kaum noch zu Gesicht bekam. Lutz war also so freundlich gewesen, diesen irrtümlich an ihre ehemals gemeinsame Adresse gerichteten Brief neu zu adressieren, damit er Selma zugestellt werden konnte. Sogar frankiert hatte er ihn. Während sie nach dem Handtuch griff, erkannte sie mit einem Stirnrunzeln neben einer deutschen auch eine dänische Briefmarke in der rechten oberen Ecke. Sie schaltete die Zahnbürste aus, legte sie auf den Waschbeckenrand und spülte sich den Mund aus. Auf der Suche nach einer Absenderangabe drehte sie den Brief um, fand aber keine. Mit ihrer Nagelfeile trennte sie das Kuvert auf. Der Briefbogen war zweimal gefaltet und mit derselben Schrift beschrieben wie die ursprüngliche Adresse auf dem Umschlag. Selma begann zu lesen.

Liebe Selma, liebe Mascha,

wusstet Ihr, dass es für das Erkennen des richtigen Zeitpunktes einen Begriff gibt?

Selma zwang sich zur Ruhe, um konzentriert zu Ende lesen zu können. Ihre Finger begannen zu zittern. In ihrem Inneren erhob sich ein Wirbelsturm.

»Niemals!«, murmelte sie während des Lesens. Der Sturm in ihrer Brust schwoll an.

All die ungelebten Leben

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