Читать книгу All die ungelebten Leben - Michaela Abresch - Страница 8

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Gitte

»Ich bin erleichtert, dass die Briefe unterwegs sind.«

Jane sprach leise, aber die handbreit geöffnete Tür ermöglichte es Gitte, jedes Wort zu verstehen. Und das, obwohl sie sich bemühte, alles zu überhören. Sie wusste nicht, mit wem Jane telefonierte. Alle drei Tage etwa. Für eine Viertelstunde. Gitte fragte nicht danach, und Jane sprach nicht darüber.

Gitte hatte den Abwasch beendet, hängte das Küchenhandtuch an den Haken und setzte sich wie immer am Abend für ein paar Augenblicke auf das altgediente Sofa im Salon. Es war noch immer das erste, das sie für das Sommerhaus angeschafft hatte. Dunkelrote Polster, tiefe Sitzflächen, ausladende Lehnen. Früher hatten die Mädchen zu dritt Platz darauf gefunden und mit Kissen und Decken ein Nest gebaut, das groß genug war, um auch Gitte noch darin aufzunehmen. Der Stoff war inzwischen an einigen Stellen verschlissen und die Polster durchgesessen, aber es hatte nichts von seiner Bequemlichkeit eingebüßt. Gitte sah nicht ein, es zu ersetzen. Sie hatte stattdessen zwei bunte Decken gestrickt, die die schadhaften Stellen verbargen. Es stand an der zartrosa getünchten Wand gegenüber der zweiflügeligen Verandatür, die aus dem Salon nach draußen führte. Der Salon war nichts weiter als das Wohnzimmer des Sommerhauses. Der imponierende Begriff stammte von Mascha, die als Zehnjährige beschlossen hatte, das Haus einer Königin müsse einen Salon vorweisen. Hingebungsvoll hatte sie einen Nachmittag lang mit Zeichenblock und Filzstiften am Muscheltisch gesessen und ein entsprechendes Schild angefertigt, mit Ranken, Blüten und ineinander verschlungenen Ornamenten, das daraufhin jahrelang die Tür des Salons geziert hatte.

»Nein«, hörte sie Jane in diesem Augenblick sagen, »Tante Gitte hat sie für mich zum Briefkasten gebracht. Ich habe es nicht geschafft, bis zur Straße zu gehen, habe es versucht, mit vier Unterbrechungen, aber es war zu weit.«

Pause.

»Ja, ein Rollstuhl, ich weiß. Vielleicht hätte ich auf Tante Gittes Rat hören sollen. Aber, ganz ehrlich, wie hätte ich mich dazu durchringen können? Schließlich wäre sie diejenige gewesen, die mich darin hätte schieben müssen. Du weißt, dass ich ihr das nicht auch noch zumuten will. Außerdem ist das Sommerhaus mit den Treppen zur Haustür und zur Veranda nicht gerade rollstuhltauglich.«

Pause.

Gitte fühlte sich unbehaglich, weil sie jedes Wort des Telefonates ungebeten mithörte. Ob Jane die Tür bewusst nicht geschlossen hatte, wie sie es sonst tat?

»Natürlich, aber sie nimmt meinetwegen schon genug auf sich.«

Pause.

»Ja, ist ganz okay hier. Ich mag es, auf der Veranda zu sitzen, hinter dem Windschutz, den sie extra für mich hat anbringen lassen. ›Damit der Wind dich nicht mitnimmt‹, hat sie gesagt, und du kannst dir denken, dass sie damit auf mein Untergewicht angespielt hat. Ich hab ihr geantwortet, dass er mich ruhig mitnehmen soll.«

Ein leises Lachen, ein raues Husten. Pause. Gitte atmete tief ein, lenkte ihren Blick durch die Scheibe der Verandatür hinaus in die Weite der mit Strandrauke und Heidesträuchern bewachsenen Dünen, die sich an ihr Grundstück anschlossen und von der Nachmittagssonne beschienen wurden.

»Warum nicht? Manchmal wünsche ich mir das wirklich. Soll doch ein Windstoß kommen und mich von der Erde heben, über die Dünen tragen und weiter übers Meer! So wie die Kites, die heute wieder in allen Farben drüben am Strand in die Luft steigen. Oh, sie würden dir gefallen! Es sieht so hübsch aus, wie sie sich vom Himmel abheben, ab und zu kann ich welche von der Veranda aus sehen!«

Wem erzählte Jane all dies? Sie hatte nie eine Freundin erwähnt oder einen Mann, der in ihrem Leben eine Rolle spielte. Außer diesem … In Gedanken forschte Gitte nach dem Namen des jungen Krankenpflegers, mit dem Jane zusammen im Südsudan im Einsatz gewesen war. Sie erwähnte ihn so selten, dass sein Name Gitte nicht einfallen wollte.

»Nein, nicht mehr so weh wie noch vor ein paar Monaten«, hörte sie nun wieder Janes Stimme. »Aber zu lange darf ich darüber nicht nachdenken, sonst kommt die Angst und schnürt mir die Luft ab.«

Pause.

»An manchen Tagen mehr, an manchen weniger. Das Morphin hilft zuverlässig. Es ist gut, dass ich von der Veranda aus die dänische Flagge auf einem der Grundstücke in der Nähe sehen kann. Sie dient mir zum Abschätzen, ob ich einen Spaziergang in den Dünen wagen kann. Wenn der Wind stark ist, fällt mir das Gehen schwer, und ich muss Kraft aufbringen, die ich an manchen Tagen nicht habe. Ich spritze mir dann eine Zusatzdosis.«

Pause. Husten.

»Nein, subkutan. Ich habe genug Vorrat dabei.«

Gitte runzelte die Stirn. Mit wem auch immer Jane telefonierte, es musste jemand sein, der kein medizinischer Laie war. Was unter einer subkutanen Injektion zu verstehen war, hatte auch Gitte erst gelernt, nachdem Doktor Lindauer, der Arzt des Palliativ-Teams, Morphin gegen die Atemnotkrisen verordnet hatte. Jane spritzte sich das Serum ins Fettgewebe einer Bauchfalte. Auch Gitte war inzwischen darin geübt, Morphin zu verabreichen. Es war nichts dabei. Zu erkennen, dass die Spritzen Janes Schmerzen linderten oder eine plötzliche Atemnotattacke eindämmten, hatte Gitte dazu befähigt, über ihren Schatten zu springen und sich anzueignen, was sie nie für möglich gehalten hatte.

»Vorhin, ja. Fünf Milligramm. Ich hab meine Einstellung dazu etwas geändert. Bis vor wenigen Wochen hätte ich in so einem Fall lieber auf den Spaziergang verzichtet, aber ich habe gelernt, mir nichts mehr zu versagen und lieber auf meine Medikamente zurückzugreifen. Mir ist bewusst, dass jeder Spaziergang in den Dünen der letzte sein kann, deshalb unternehme ich ihn, wann immer ich dazu in der Lage bin.«

Pause. Lachen.

»Ja, du müsstest sie sehen! Sie sind wunderbar gewachsen! Gestern haben Tante Gitte und ich sie zum ersten Mal gewaschen, richtig gewaschen! Nicht nur die Kopfhaut, sondern meine neuen Haare, es war ein Fest! Ich habe anschließend zum ersten Mal keins meiner Tücher um den Kopf gebunden, sondern bin oben ohne gegangen, wie unglaublich es sich angefühlt hat! Sie sind noch ziemlich kurz, aber wenn sie weiter so wachsen, werde ich meine Schwestern nicht kahlköpfig begrüßen müssen, wie ich es angenommen hatte. Sie werden sich hoffentlich bei meinem Anblick nicht erschrecken. Weißt du, das …«

Ein Hustenanfall zwang Jane dazu, ihren Satz abzubrechen. Gitte dachte an das tragbare Inhaliergerät, das sie von zuhause mitgebracht hatten. Sie würde es ihrer Nichte bringen, sobald sie das Telefonat beendet hatte.

»Geht schon wieder, bleib bitte noch ein paar Minuten!«

Pause.

»Müde, ja, immer noch. Das gehört dazu, lieber müde sein, als um Luft ringen. Ich will jede Sekunde mit Selma und Mascha verbringen und hoffe, ich brauche nicht allzu viele Ruhepausen.«

Wieder dieser raue, erschöpfende Husten.

»Ja, sprechen kostet Kraft, aber du weißt, dass ich sie gern aufbringe, wenn ich dafür deine Stimme am Ohr haben darf. Manchmal wünsche ich mir, meine Kräfte im Vorhinein sammeln zu können, damit sie ausreichen, wenn ich mit meinen Schwestern zusammen am Muscheltisch sitzen werde.«

Pause.

»Natürlich, das weiß ich doch. Ein Brief von Dänemark nach Deutschland braucht bis zur Zustellung fast eine Woche.«

Pause.

»Jetzt haben wir wieder nur über mich gesprochen. Tut mir leid.«

Pause. Ihre Stimme wurde leiser.

»Ich dich auch. War sehr schön.«

Pause.

»Versprochen.«

Pause.

»Ich auch. Ganz fest.«

Jetzt senkte Jane die Stimme zu einem Flüstern. Es wurde still. Gitte wartete einen Augenblick. Dann erhob sie sich, durchquerte den Salon und ging bis zu Janes Zimmertür. Sie hielt inne, lauschte. Das Telefonat schien beendet zu sein.

»Jane?«

»Komm rein!«

Gitte steckte den Kopf durch den Türspalt. »Alles okay?«

Jane lag mit ausgestreckten Beinen in ihrem Bett, das Kopfteil leicht erhöht, ein Kissen im Rücken. Das Telefonat hatte sie sichtlich angestrengt, ihr Brustkorb hob und senkte sich rasch, so, als sei sie die höchste der weißen Dünen hinauf- und auf der anderen Seite wieder heruntergelaufen. Sie hielt die Augen geschlossen, auf ihren Lippen lag ein zufriedenes Lächeln.

»Bin müde, ich ruhe mich ein bisschen aus.«

»Möchtest du inhalieren? Dein Husten …«

Jane antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung und einem leichten Kopfschütteln, ohne die Augen zu öffnen.

»Fahr zu Torolf«, sagte sie, »und mach dir zwei schöne Stunden.«

»Heute ganz alleine hier?« Er brachte ihr den bestellten Cappuccino. Mit einem Herz aus Kakao im Milchschaum und einem Mandelkeks auf dem Kaffeelöffel. Wie eine Mischung aus Trost und süßer Erinnerung stieg der Duft aus der Tasse in Gittes Nase.

»Meine Nichte ist im Sommerhaus geblieben«, erwiderte sie, ohne den Blick zu heben. Janes quälender Husten fiel ihr wieder ein. Und das Linderung versprechende Gerät zum Inhalieren. Sie hätte es Jane ans Bett stellen sollen.

»Sie hustet sehr oft heute, und die Müdigkeit setzt ihr zu.«

Mit dem Zeigefinger schob sie den Mandelkeks vom Löffel und begann gleich darauf mit diesem das Kakaoherz nachzuziehen. Im Kastanienbaum über ihr sang eine Amsel.

»Ich habe das Gefühl, seit wir auf Rømø sind, haben ihre Beschwerden sich verändert. Vielleicht war es ein Fehler, hierherzukommen. Ihr Arzt zuhause …« Sie unterbrach sich. Meine Güte, das interessierte Torolf wahrscheinlich überhaupt nicht! Sie sollte ihren Mund halten.

»Entschuldigen Sie, Torolf«, fügte sie rasch hinzu. Sie legte den Löffel auf die Untertasse und hob den Kopf. Erst jetzt bemerkte sie Torolfs Blick und den Ernst in seinem Gesicht, der alles andere als Desinteresse oder Langeweile signalisierte. Mit einer Hand strich er sich eine Haarsträhne hinters Ohr, eine Geste, die Gitte seit langem vertraut war. Er trug seine Haare noch immer schulterlang, früher waren sie blond gewesen, inzwischen jedoch ergraut, so wie ihre eigenen. Für einen Moment wurde der silberne Ring im Bogen seiner linken Ohrmuschel sichtbar.

»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, sagte er mit der Andeutung eines Kopfschüttelns. Gitte schätzte ihn auf Mitte sechzig, etliche Jahre jünger als sie selbst.

»Und Sie sind immer noch ganz allein für Ihre Nichte da? Ich meine, ohne Hilfe?«, fragte er.

Ein junges Pärchen belegte den Nachbartisch und zog Gittes Aufmerksamkeit für einen Moment auf sich. Das Mädchen wand sich aus seiner Jeansjacke und hängte sie über die Stuhllehne. Der Junge beugte sich zu ihr herüber. Er küsste sie auf die rosa geschminkten Lippen. Sie kicherte. Ihr Haar fiel lang, blond und seidig über ihren Rücken. Wie bei Jane früher. Gitte zwang sich, den Blick abzuwenden.

Nur zwei von den kleinen runden Tischen unter den Kastanienbäumen waren besetzt. Gitte kannte Torolfs Café seit vielen Jahren. Es befand sich etwas abseits an der Straße nach Tvismark, nur wenige Autominuten vom Sommerhaus entfernt, in einem über zweihundert Jahre alten Gebäude, das ehemals an einen Bauernhof angeschlossen war und in jenen Tagen als Viehstall gedient hatte. Der unebene Fußboden aus abgenutzten, roten Ziegelsteinen und das Stützgebälk unter der hohen Decke zeugten davon. Gitte mochte die Einrichtung aus antiken und modernen Möbelstücken, die den Eindruck erweckte, als seien Stühle, Tische und die Kommoden an den Wänden beliebig zusammengestellt worden. Im Sommer steckten Wiesenblumen in bauchigen Gläsern, an trüben Tagen brannten Kerzen darin.

Bei Torolf gab es den besten Cappuccino der Insel und Kokoskuchen mit hausgemachtem Orangenkompott, eine Kombination, die Jane liebte. Geliebt hatte. Früher, als Kokoskuchen für sie noch nach Kokos und Orangenkompott nach Orangen geschmeckt hatten.

Gitte und Jane kamen gern hierher. Sie mochten es, an einem der Tische im Garten zu sitzen, wo die Vögel in den belaubten Kronen der alten Bäume sangen, während der Duft von gerösteten Kaffeebohnen die Luft schwängerte.

»Wir haben in den beiden letzten Jahren so oft zu zweit gekämpft, da werden wir es hier auch schaffen«, antwortete Gitte. Sie stellte fest, dass ihre Stimme nicht so zuversichtlich klang, wie sie es sich wünschte.

»Darf ich?«, fragte Torolf. Er zog sich einen Stuhl heran.

Gitte nickte und spürte, dass ihre Zustimmung nicht allein der Höflichkeit geschuldet war. Torolf strahlte eine wohltuende Ruhe aus, die sie nicht nur schätzte, sondern heute Nachmittag auch brauchte.

»Haben Sie denn alles, was nötig ist?«, fragte er. Meine Güte, er schien sich tatsächlich für sie und Jane zu interessieren!

»Mein Sommerhaus ist ausgestattet wie eine Krankenstation«, erwiderte sie. Während sie sprach, tauchte sie den Kaffeelöffel in den Milchschaum. »Zuhause wird Jane von einem Palliativ-Team betreut. Ihr Arzt hat sie eingedeckt mit Medikamenten gegen alles, was man sich vorstellen kann: Atemnot, Angst, Schmerzen, Übelkeit, Verstopfung. Auf einem Plan kann sie nachlesen, welche Medikamente sie regelmäßig zu nehmen hat und welche bei Bedarf. Wir haben einen Inhalator mit Kochsalzlösung und den entsprechenden Medikamenten bei uns, außerdem Salben gegen Entzündungen der Haut und Spülungen für den Mund. Wir sind ausgerüstet mit einem Krankenbett, mit Kissen zum Stützen und Lagern, und ich besitze einen Kräutergarten, der das Herz jedes Heilkundigen vor Freude tanzen lässt. Sie sehen, wir haben alles, was notwendig ist, und glauben Sie mir, Torolf, ich habe in den letzten fünf Jahren so vieles gelernt, dass ich einer Krankenschwester spielend das Wasser reichen könnte!« Es gelang ihr, zu lächeln, und Torolf hob anerkennend die Augenbrauen.

»Die Tochter einer Bekannten arbeitet in Skærbæk bei einem Pflegedienst«, sagte er. »Wenn Sie mögen, bringe ich Ihnen beim nächsten Mal die Telefonnummer mit, nur für den Fall, dass …«

»Das ist sehr liebenswürdig.« Gitte hatte das Kakaoherz inzwischen untergerührt. Sie legte den Löffel auf ihre Serviette. »Ich hoffe zwar, dass es nicht nötig sein wird, aber Sie haben Recht, man weiß nie.« Sie führte die Tasse zum Mund. Ein kleiner weißer Schaumrest setzte sich auf der Mitte ihrer Oberlippe ab.

»Jane ist Krankenschwester«, sagte sie. »Das ist Fluch und Segen zugleich.«

Torolf lächelte. »Möchten Sie mir etwas über Ihre Nichte erzählen?«

Möchte ich das? Darf ich das? Hätte Jane etwas dagegen, wenn sie Torolf ohne ihr Wissen, ohne ihr Einverständnis ein paar Dinge erzählen würde? Gitte und Torolf kannten einander seit vielen Jahren, aber was wusste sie schon von ihm?

»Wie lange kennen wir uns inzwischen, Torolf?«, fragte sie. Mit der Fingerspitze wischte sie den Schaumrest von der Oberlippe.

»Ich habe die Jahre nicht gezählt«, erwiderte er. »Es dürften eine Menge sein. Als Sie zum ersten Mal hierher ins Café kamen, waren Ihre Nichten noch kleine Mädchen, und wenn ich mich richtig erinnere, hatten Sie nur die beiden älteren bei sich.«

Und heute ist nur die Jüngste bei mir …

Erstaunt über sein Gedächtnis erwiderte sie seinen Blick. »Daran erinnern Sie sich! Ja, ich habe das Haus gekauft, bevor Jane geboren wurde. Selma war neun und Mascha vier, als wir zum ersten Mal die Ferien in Lakolk verbrachten. Damals standen hier längst nicht so viele Ferienhäuser wie heute. Wir stromerten ganze Vormittage mit Eimern am Strand entlang und sammelten Muscheln und Treibholz. Die Mädchen mochten es, wenn wir abends ein Feuer neben dem Haus machten, Würstchen brieten und Kartoffeln in der Glut garten, bis die Schale verkohlt war. Ich verbrachte fast die gesamten Sommerferien mit den Mädchen hier, und mir ging das Herz auf, ihnen zuzusehen, wie sie aufblühten. Als Jane drei war, nahm ich auch sie mit. Aber vorher war ein Kampf auszufechten. Ich erinnere mich an einen Streit mit Therese, der mir fast das Herz zerrissen hat, weil sie so ein Sturkopf war und ich … na ja, ich wohl auch.«

»Therese?«

»Die Mutter der Mädchen, die Frau meines Halbbruders Emil. Und meine Freundin. Im Grunde andersherum.«

Torolf runzelte die Stirn.

»Die Reihenfolge ist falsch«, fügte Gitte erklärend hinzu, aber sie sah ihm an, dass ihn die zusätzliche Aussage noch mehr verwirrte.

»Zuerst war Therese meine Freundin. Sie lernte durch mich meinen Halbbruder kennen.«

»Und sie erlaubte nur ihren beiden ältesten Töchtern, mit Ihnen zu verreisen?«

»Zuerst ja, aber das ist eine andere Geschichte«, antwortete Gitte mit einem heftigen Kopfschütteln, als könne sie damit die Erinnerungen an die unliebsamen Auseinandersetzungen mit ihrer Freundin vertreiben. »Mir wird gerade bewusst, wie lange wir beide uns tatsächlich bereits kennen, Torolf.«

»Sie wollen sagen, wir sind gemeinsam gealtert?« Er zwinkerte ihr zu.

»Wenn ich schon keinen eigenen Mann habe, mit dem ich altern kann, dann wenigstens einen dänischen Cafébesitzer, der sich dazu bereit erklärt, es mit mir zu tun.« Sie lachten, und eine Woge des Wohlbefindens durchströmte Gitte. Wie erfrischend es sich anfühlte, über etwas so Albernes und Profanes zu lachen! Aber es dauerte nur einen Moment. Schon schlug ihre Ausgelassenheit um, und der Ernst kehrte zurück.

»Es sieht so aus, als kenne ich Sie lange genug, um Ihre Frage zu beantworten«, sagte sie. »Nicht jedem würde ich etwas über Jane erzählen. Aber bei Ihnen ist es anders. Was möchten Sie wissen?«

»Was ist sie für ein Mensch? Ist sie ebenso liebenswert wie ihre Tante?« Sein Blick ruhte auf Gittes Gesicht, und sie erwiderte ihn, obwohl sich in ihrem Inneren eine Welle der Unsicherheit ausbreitete.

Gütiger Himmel, wann hat mich zum letzten Mal ein Mann so angesehen? Dass sie plötzlich eine Verlegenheit verspürte, die sie gern vor ihm verborgen hätte, konnte nur an dem strahlenden Blau seiner Augen liegen, die er nicht von ihr abwandte.

»Torolf, lassen Sie das Süßholzraspeln, damit kommen Sie bei mir nicht weiter!« Im Stillen hoffte sie, er möge ihr ihre schroffe Art nicht übelnehmen. Bitte entschuldigen Sie, aber ich kann nicht anders, hätte sie gerne kleinlaut hinzugefügt und ihm erklärt, dass ihre etwas patzig klingende Antwort nichts weiter als ein unsichtbarer Schutzmantel gegen die plötzliche Seelenblöße war.

»Dachte ich mir, bitte entschuldigen Sie.« Dass er sie dennoch weiter anlächelte und seine Augen dabei noch blauer wirkten – jedenfalls schien es Gitte so – trug nicht gerade dazu bei, ihre Verlegenheit zu bezwingen. Sie rief sich zur Ordnung, streckte die Schultern, trank von ihrem Cappuccino. Wechsele das Thema, erzähl ihm was über Jane …

»Lange habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob Jane überhaupt ein fröhliches, lebensfrohes Mädchen werden kann.« Sie hielt die Tasse in beiden Händen, während sie sprach. Die Verlegenheit zog davon, Gitte atmete innerlich auf.

»Ich habe alles dafür getan, ihr eine normale Kindheit zu schenken. Kindertheater, Ballettstunden, Geburtstage im Schwimmbad, ein Indianerzelt im Garten, Rollschuhe im Sommer, Schlittenfahren im Winter … Sie wissen schon, alles, was Kinder mögen. Die ersten Jahre, in denen ich sie bei mir hatte, war das kaum möglich. Sie zog sich häufig zurück, sprach stundenlang nicht mit mir, und ich hörte ihr Schluchzen durch die geschlossene Tür. Ich sorgte mich, etwas falsch zu machen, aber es konnte passieren, dass sie Stunden später wie ausgewechselt war und ich wieder Hoffnung schöpfte. Ich unterrichtete an einem Mädchengymnasium und hatte nach der Schule zu korrigieren und den Unterricht für den nächsten Tag vorzubereiten. Ich zerriss mich in diesen Jahren beinahe, um Jane und mir selbst gerecht zu werden.

Sie und ich, wir haben eine sehr innige Verbindung. Enger könnte sie zwischen Mutter und Tochter nicht sein. Sie war zehn, als ich sie zu mir nahm. Ich habe sie damals durch die schlimmste Zeit ihres Lebens begleitet. Zumindest dachte ich, dass es schlimmer nicht werden könnte.« Sie unterbrach sich, hob mit beiden Händen die Tasse an die Lippen und trank einen Schluck. »Ich hatte den Krebs nicht eingeplant, nicht die kräftezehrende Prozedur der Chemotherapien, nicht die Hautverbrennungen nach den Bestrahlungen, nicht die Schmerzen und nicht die Sprachlosigkeit zwischen uns, als der Krebs nach nicht einmal zwei Jahren zu Jane zurückkehrte und sich herausstellte, dass er nicht alleine war, sondern multiple Rundherde im linken Lungenflügel bei sich hatte, wie es im Befund hieß.«

Das Pärchen am Nachbartisch gab seine Bestellung auf. Gitte sah, wie die Hand des Jungen sich sanft in den Nacken seiner Freundin legte und von dort langsam über ihr Haar glitt. Ob es jemanden in Janes Leben gab, der sich danach sehnte, seine Hand in ihrem Haar vergraben zu können? Dem sie erlauben würde, sie ohne ihre bunten Tücher oder ihre Kappe anzusehen? Dem sie voller Stolz ihre flaumigen, neuen, schneeweißen Haarbüschel präsentieren würde, ohne sich zu schämen? Das Telefonat von vorhin fiel ihr wieder ein. Es hatte, vor allem am Ende, von großer Vertrautheit gezeugt.

»Fröhlich und ausgelassen war Jane nie«, fuhr sie fort. »Ihr haftete immer etwas Ernstes und Nachdenkliches an, schon als Elfjährige machte sie einen viel reiferen Eindruck als ihre Schulkameradinnen. Sie begann sehr früh, Bücher zu lesen. Keine Kinderbücher wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie liebte Klassiker, verschlang Romane von Jane Austen, von der sie ihren Namen hat. Kennen Sie Jane Austen?« Gitte bemerkte sein Nicken, aber er sagte nichts, und so sprach sie weiter. »Mein Halbbruder hat seinen Töchtern die Liebe zur Literatur vermittelt, wenigstens das ist ihm gelungen. Er bestand darauf, ihnen die Vornamen bekannter Schriftstellerinnen zu geben, ist das nicht verrückt? Bei den ersten beiden willigte Therese ein, aber mit Jane konnte sie sich nicht anfreunden, es klang ihr zu britisch, zu neumodisch, sie weigerte sich hartnäckig. Deshalb einigten sie sich darauf, Janes Namen einzudeutschen und ihn so auszusprechen, wie er geschrieben wird, woran mein Bruder sich allerdings dann nicht hielt. Wenn er Jane rief, dann stets in der englischen Version, und eines Tages übernahm sie es von ihm. Erst nachdem ihr Vater gestorben war, legte sie das wieder ab.«

»Dann sind Sie eine Mutter für Jane geworden?«

»Es schien uns in den Jahren dieser Tragödie um Therese die einzige Lösung zu sein, Jane zu mir zu nehmen. Selma und Mascha waren junge Heranwachsende, sie hatten in dieser Zeit genug mit sich selbst zu tun. Gerade für Selma, die eine fast krankhafte Hilfsbereitschaft an den Tag legte und die rund um die Uhr die Versorgung ihrer Mutter übernommen hatte, war es wichtig, sich nicht auch noch in der Verantwortung für ihre jüngste Schwester zu sehen.« Sie bemerkte Torolfs fragenden Blick. Natürlich. All die Andeutungen … Wie sollte er Zusammenhänge herstellen, wenn sie ihm nur Fragmente der vertrackten Familiengeschichte verriet? Unmerklich schüttelte sie den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um auf den Grund der Vergangenheit zu tauchen und auszugraben, was seit Jahren dort ruhte. Eines Tages würden die Erinnerungen und mit ihnen all die verborgenen, ungesagten, geheim gehaltenen Dinge ans Licht gelangen, spätestens bei Selmas und Maschas Eintreffen auf Rømø. Gitte zweifelte nicht daran, dass vor allem Selma, die den Kontaktabbruch erzwungen hatte, eine Last ungeahnter Schwere auf der Seele trug. Doch auch Gitte hütete ein Geheimnis. In einem dunklen Winkel ihres Herzens, von dessen Vorhandensein niemand wusste. Nicht einmal Jane.

»Ich habe keine eigenen Kinder«, beeilte sie sich zu sagen, weil sie spürte, dass ihre Gedanken sie wie in einem Strudel hinabzuziehen drohten. »Insofern war Jane ein Geschenk für mich, die Tochter, die ich nie hatte. Sie wird es immer sein.«

Ihre Blicke begegneten einander über die Cappuccinotasse hinweg, die Gitte mit auf den Tisch aufgestützten Ellenbogen in beiden Händen hielt. Sie sagten nichts, ließen die Bilder, die durch Gittes Worte in ihren Köpfen entstanden waren, davontreiben, und jetzt erst nahm Gitte die Geräusche um sich herum wieder wahr, das Klirren von Gläsern, das Kichern des Mädchens am Nachbartisch, das Brummen der Espressomaschine im Hintergrund.

»Was für eine starke Frau Sie sind!« Es klang nicht anbiedernd, nicht pathetisch. Im Gegenteil. Gitte fühlte, dass die Worte tief aus Torolfs Herzen kamen, weshalb sie sie stumm mit einem Lächeln annehmen konnte. Er kannte den dunklen Winkel in ihrem Herzen nicht. Sie schob die Erinnerung daran beiseite. Torolf erhob sich und rückte den Stuhl an den Tisch.

»Fühlen Sie sich eingeladen, Gitte. Der Cappuccino geht aufs Haus.«

Was für ein Tag! Schmerzen im Sitzen, im Liegen, beim Gehen. Mein rechtes Bein fühlt sich seit Stunden taub an, und ich kann nicht mal den Fuß vernünftig anheben, er schleift über den Boden, als gehöre er nicht zu mir. Ich vermute, es sind die Scheißmetastasen, die aufs Rückenmark drücken und die Nerven ärgern. Das sind die Momente, in denen ich unsagbare Angst vor einer Lähmung habe, Querschnitt, eine Horrorvorstellung! Wie soll ich das schaffen? Wie soll Tante Gitte, die Allerbeste von allen, es dann mit mir schaffen?

Ich hatte vor, nach dem Aufstehen einen Spaziergang in den Dünen zu unternehmen, weil ich ausnahmsweise nicht so kurzatmig bin. Der Himmel ist wahnsinnig blau heute! Nur ein paar zerrupfte Wolken treiben am Horizont über den weißen Hügeln. Es ist dieser Farbton, für den Tante Gitte früher das Wort Inselblau erfand. »Hebt die Köpfe, Mädchen, und seht euch dieses Inselblau an!«, sagte sie dann, oder: »Was für ein wunderschöner, inselblauer Tag!« Jahrelang war Inselblau für mich ein Synonym für Lakolk, für das Meer hinter den Dünen, für Ferien in Tante Gittes Sommerhaus.

Und jetzt … kein Spaziergang möglich. Die Schmerzen machen mir einen dicken, fetten Strich durch den inselblauen Plan.

Frau Doktor Mensberg hat mir zuhause ja schon weitere Bestrahlungen ans Herz gelegt. Palliative Bestrahlung nennt sie das, zum Verkleinern der Absiedelungen und zum Lindern der Beschwerden. Verschwinden werden sie nicht.

Sie sagt immer Absiedelungen, vielleicht glaubt sie, dass das schonender in den Ohren ihrer Patienten klingt als Metastasen. In meinen Ohren klingt das eine so absonderlich wie das andere.

Sie musste mir nicht sagen, dass Knochenmetastasen ein Spätsymptom sind und auf ein fortgeschrittenes Stadium der Krebserkrankung hinweisen. Wie sich doch die Bedeutung von Worten verändert, sobald etwas Bösartiges in einem wächst. Fortgeschritten sein habe ich früher immer mit etwas Positivem verbunden. Als ich vor meinem ersten Auslandseinsatz an der Volkshochschule mein Schulenglisch aufbessern wollte, buchte ich einen Kurs für Fortgeschrittene. Weil ich besser war als die blutigen Anfänger. Weil meine Kenntnisse gut genug waren, direkt eine Stufe höher einzusteigen. Ein Krebsgeschwür im fortgeschrittenen Stadium zu beherbergen, hat aber absolut nichts damit zu tun, gut zu sein, besser zu sein als die anderen, einen Vorsprung zu haben. Na ja, wie man’s nimmt. Wer einen Vorsprung hat, ist der Krebs. Je fortgeschrittener er ist, desto schneller ist er am Ziel. Das ist das eigentlich Blöde, dass er ein anderes Ziel verfolgt als ich.

Wie auch immer, ich weiß, dass Metastasen auf ein fortgeschrittenes Stadium hindeuten. Krankenschwestern wissen so etwas. Und es ist ja nicht so, dass ich noch keine Bestrahlungen gehabt hätte. Rechte Brust, linke Brust, Lendenwirbelsäule. Die Tumormasse verkleinerte sich. Und fing nach Bestrahlungsende sofort wieder an zu wachsen. Außerdem löste sich beim zweiten Mal die bestrahlte Haut in Fetzen ab und brannte wie Feuer. Höllenqualen! Ich will nicht dran denken.

In einer von Tante Gittes Zeitschriften las ich von einer Theorie, die behauptet, es sei heilsam, den Krebs nicht als Feind, sondern als Freund zu betrachten, weil er Teil des Körpers sei, und so sei es leichter, keinen Ekel, keine Ablehnung vor dem eigenen Körper zu empfinden. So schräg das auch klingt, ich habe mich darauf eingelassen, mit meinen Metastasen gesprochen, als seien sie lebendige Wesen, imstande mich zu hören, mir zu antworten, und ich redete mir geduldig ein, dass sie verschwinden würden, wenn ich nur nett zu ihnen wäre.

Hallo liebe Metastasen, schön, dass ihr zu mir gefunden habt, fühlt euch wohl bei mir! Soll ich euch Namen geben, damit wir ein bisschen persönlicher miteinander kommunizieren können? Wie viele seid ihr, wie viele Namen braucht ihr?

Nur wenige Tage habe ich das Theater durchhalten können. Wie kann ich etwas mögen, das mich von innen auffrisst und sich von meinen Knochen und meiner Angst ernährt? Ich brach ab und versuchte eine andere Strategie. Gleichgültigkeit. Die Vorstellung, alle Absiedelungen in meinen Knochen und in der Lunge könnten schrumpfen, wenn ich ihnen nur ein ordentliches Maß Desinteresse entgegenbringen würde, erschien mir etwas leichter durchführbar als die Sache mit der falschen Freundlichkeit. Aber, ganz ehrlich, es ist einfach nicht möglich, stumpf und ungerührt hinzunehmen, was mir Schmerzen bereitet und Wasser in die Lunge spült.

Im Endeffekt bin ich dort gelandet, wo ich vor all diesen Versuchen war. Bei der Ablehnung. Krebs, ich will dich nicht. Ich hasse dich. Hau endlich ab, und LASS MICH LEBEN!

Nachsatz: Ich werde den kümmerlichen Rest meines Lebens mit ihm verbringen. Daran geht kein Weg vorbei, und daher bleibt mir nichts anderes, als ihn zu dulden. Wie einen lästigen Mitbewohner, dessen Nähe man meidet, weil er sich nicht wäscht und seine stinkenden Klamotten überall herumliegen lässt.

All die ungelebten Leben

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