Читать книгу Rulantica (Bd. 1) - Michaela Hanauer - Страница 13
ОглавлениеDie Pracht setzt sich im Inneren fort und hat dem Palast völlig zu Recht den Namen Muschelpalast eingebracht: Die Gänge glänzen in Silber mit kleinen, verspielten Ornamenten und Ranken aus Muscheln, und jeden einzelnen Raum hat Kailani mit Dingen ausstatten lassen, die sie an ihr früheres Leben erinnern. Aquina durchquert den offiziellen Empfangsraum. Es ist ihr sehr recht, ihn leer vorzufinden, ihre Mutter hat wahrscheinlich gerade anderweitig zu tun. Trotzdem muss Aquina zugeben, dass es der schönste Raum im ganzen Palast ist mit seinem halbkugelförmigen Himmelszelt, den funkelnden Sternen und in der Mitte die Sonne in glänzendem Gold, die das Abbild der Göttin Frigg umrahmt. Frigg wird von allen Sirenen als Retterin geliebt und verehrt.
Den Speise- und Aufenthaltsraum zieren Blumen wie von einer Sommerwiese. Und das Schlafzimmer von Kailani und Bror gleicht mit seinen Bäumen einem Wald, durch dessen Baumkronen in der Deckenmitte der Mond herableuchtet, genau über der Schlafstelle, einem Felsenbett gepolstert mit beigegelbem Meerschwamm.
Aquina darf ihr Zimmer nach ihren eigenen Vorstellungen gestalten. Sie mag es am liebsten kunterbunt und verwendet nicht nur Muscheln, sondern alles Mögliche, was sie auf ihren Streifzügen findet: Turban- und Kreiselschnecken, farbiger Sand, Steine, Holzstückchen, Algen und Gräser bilden ein hübsches Mosaik an den Wänden. Selten ist es etwas Außergewöhnliches, weil Odins Fluch es ihnen nicht erlaubt, sich weiter als drei Meilen von Rulantica fortzubewegen. Und genau deshalb empfindet Aquina ihre Unterwasserwelt oft als zu eng und klein für ihre große Neugierde.
Wenigstens in ihrem Zimmer will sie regelmäßig etwas verändern, nur das Bild von Snorri hängt schon immer dort. Sie kennt ihn seit ihrer Geburt – oder eher andersrum – er kennt sie seit ihrer Geburt, denn sie kann sich an ihr erstes Jahr natürlich nicht mehr erinnern. Aber ihre Mutter hat ihr erzählt, dass er schon auf sie aufgepasst hat, als sie noch ein Baby war, und sie in den Schlaf gewiegt hat. Im Gegensatz zu den Meermenschen kann Snorri auch außerhalb der Dreimeilengrenze frei herumschwimmen. Aquina beneidet ihn glühend darum, aber zumindest bringt er ihr oft den ein oder anderen Schatz von dort mit. Snorris Geschenke wandern dann ebenfalls in das Mosaikbild.
Während Aquina hin- und hergerissen zwischen Stolz und Wehmut ihre Wände betrachtet, fällt ihr etwas ein. Hatte diese Frucht von heute Mittag nicht im Inneren Kerne? Sie wühlt in ihrer Fischledertasche, holt die rote Frucht heraus und beißt herzhaft hinein – hm, genauso lecker wie vorhin! Sie knabbert sich bis zu Mitte durch und … da sind sie! Winzige braune Kerne, deren Form Aquina an Tropfen erinnert oder an Tränen. Zehn Kerne pult Aquina aus ihrer Frucht. Daraus lässt sich bestimmt ein prima Muster machen. Andererseits … vielleicht sind die Kerne sogar richtige Samen. Ob die Riesenpflanze auch hier in ihrem kleinen Unterwassergarten wachsen würde? Einen Versuch ist es wert!
Aquina steckt zwei der Kerne beiseite, die restlichen sollen an die Wand, gleich neben Snorri ist noch eine freie Stelle, wo sie aus den Kernen die Umrisse der Frucht nachformen könnte …
»Da bist du ja, mein Schatz! Wie war der Unterricht?«
Ohne dass sie es bemerkt hat, ist Kailani in ihr Zimmer geschwommen. Ihre Mutter ist einen knappen Kopf größer als sie, hat einen kräftigen grünblauen gezackten Fischschwanz mit einer elegant gebogenen Flosse, und für eine Sirene, die ansonsten eher schlank und feingliedrig sind, hat Kailani erstaunlich muskulöse Oberarme. Dazu passen ihre nur schwer zu bändigende dunkelbraune Haarmähne, die ebenso dunklen, aufmerksamen Augen und die markante Nase.
Aquina ist immer wieder überrascht, wie wenig sie ihrer Mutter ähnelt, auch äußerlich. Sie hat ihr eigenes Gesicht zwar bisher nur als Spiegelung auf der Wasseroberfläche gesehen, entsprechend unscharf und verzerrt. Trotzdem fühlt sich ihre Nase, wenn sie sie betastet, zierlicher an und mit einer runden Spitze. Aquina hat helle Augen, auch wenn sie die genaue Farbe nicht kennt, und ihre Haare sind genauso weiß wie der Sand an Rulanticas Strand, noch viel heller als Papas inzwischen spärliche Haare.
Ihre Mutter gibt ihr einen Kuss auf die Wange, dabei fällt ihr Blick in Aquinas halb geöffnete Handfläche.
»Ah, hast du wieder Schätze ges…?«
Aquina ballt die Hand zu einer Faust, aber sie reagiert zu spät, ihre Mutter hat die Kerne bereits gesehen. Kailanis fröhliche Stimmung schlägt sofort um. »Was hast du da, Aquina?«
»Nichts!«
»Zeig mir sofort, was du da in der Hand hast!«
»Das geht dich gar nichts an!«
»Wenn es das ist, was ich glaube, dann geht es mich sehr wohl etwas an!«
»Wenn du es schon weißt, muss ich es dir ja nicht mehr zeigen!«
»Du öffnest jetzt augenblicklich deine Faust!«
»Nein!«
»Doch!«
Kailani greift nach ihrer Hand und zwingt sie, die Finger zu öffnen. Aquina ist völlig überrumpelt und leistet kaum Gegenwehr. Mit Drohungen und dem harschen Ton ihrer Mutter hat sie gerechnet, das kennt sie, doch noch nie hat ihre Mutter ihr körperlich zugesetzt. Die Tränen steigen ihr in die Augen, eine Mischung aus Wut und Schock macht sich in ihr breit. Ihre Mutter scheint es nicht zu bemerken und hält ihr einen der kleinen braunen Kerne unter die Nase.
»Woher hast du das?«
Aquina zuckt mit den Schultern.
»Ich will eine Antwort, Aquina, woher hast du diese Apfelkerne?«
Apfelkerne dringt es in Aquinas Gedanken, nun weiß sie wenigstens, wie die Frucht heißt.
»Hat Snorri sie dir gegeben?«, bohrt Kailani unerbittlich weiter.
Es wäre so einfach. Sie könnte so tun, als hätte Snorri ihr die Kerne mitgebracht, wie er es ab und zu tatsächlich mit einem besonders schön geformten Stück Holz, einer Muschel oder einem Stein tut. Aquina müsste bloß nicken und sie wäre aus der Schusslinie. Snorri bekäme den Ärger, wenn überhaupt. Ihm kann Kailani schließlich nicht verbieten, an die Oberfläche zu schwimmen.
Aber etwas in Aquina wehrt sich gegen diese simple Ausrede. Sie will sich nicht drücken, sie will nicht lügen, sich nicht hinter Snorri verstecken und schon gar nicht soll er etwas für sie ausbaden müssen! Aquina streckt den Rücken durch und blickt ihrer Mutter in die Augen.
»Wir … ich habe die Frucht, die du Apfel nennst, von oben, von der Insel. Und wenn du es genau wissen willst: Sie war das Leckerste, was ich je gegessen habe!«
Kailanis Nasenflügel beginnen zu beben, ein sicheres Zeichen für einen bevorstehenden Wutanfall. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du oben nichts zu suchen hast?«
»Doch«, sagt Aquina. »Hast du. Ständig.«
»Würdest du mir dann bitte verraten, was du trotz meines Verbots dort gemacht hast?«
Aquina denkt an die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, an Snorri und seinen eingeklemmten Fangarm, an das einmalige Naturschauspiel … nichts davon wird ihre Mutter verstehen, nichts wird sie gelten lassen. »Es ist schön dort«, erklärt sie schlicht.
Es geht los, mindestens so heftig wie der Feuerberg explodiert Kailani: »Es ist schön? Mehr fällt dir dazu nicht ein? Dafür gehst du dieses Risiko ein?«
»Aber ich habe mich doch nur ein bisschen umgesehen«, sagt Aquina.
»Wozu? Du hast hier alles, was du brauchst!«
»Ich will nicht eingesperrt sein und auch noch etwas anderes erleben als Singen und Muschelmosaik!«
»Und für dein persönliches Vergnügen glaubst du, du dürftest unser aller Leben aufs Spiel setzen?«
»Aber ich war nicht einmal in der Nähe der Quelle und habe nicht in ihr gebadet«, verteidigt sich Aquina. »Das würde ich auch nicht, das weißt du!«
»Weiß ich das?«, tobt ihre Mutter weiter. »Kann ich dir überhaupt vertrauen, wenn du dich über alle unsere Gesetze hinwegsetzt?«
Der Satz trifft Aquina mehr, als sie zugeben will. Es ist schreiend ungerecht. Entweder muss sie Regeln beachten, die aus ihrer Sicht überhaupt keinen Sinn ergeben, oder sie muss mit der bitteren Enttäuschung leben, die sich im Gesicht ihrer Mutter mehr als deutlich abzeichnet.
»Wieso kann ich nicht selbst entscheiden, was richtig für mich ist?«, gibt Aquina fast verzweifelt zurück. Ihre Mutter will sie einfach nicht verstehen.
»Weil du mit einer falschen Entscheidung nicht nur dein Leben riskierst, sondern den Untergang der ganzen Insel. Du kennst unseren Fluch!«
Und ob Aquina den kennt! Seit sie sich erinnern kann, hört sie die Geschichte von Loki, dem listigen Gott, der die Insel Rulantica mit der magischen Quelle erschaffen hat, um die Menschen in Versuchung zu führen. Denn wer in der Quelle badet, erlangt Unsterblichkeit, obwohl die eigentlich den Göttern vorbehalten ist. Aber als Viken, der Anführer der Wikinger, zu denen auch ihre Mutter Kailani gehörte, sich so schwer verletzte, dass er beinahe gestorben wäre, schlugen die Menschen alle Bedenken in den Wind, um ihn zu retten. Er überlebte und ließ seinen Stamm in der Quelle baden.
Doch leider stieg die heilende Magie einigen zu Kopf, sie hielten sich selbst für Götter und verhöhnten ihre bisherigen Götter. Genau das wollte Loki erreichen. Besonders Odin, der Göttervater, war erzürnt über die Anmaßung der Menschen. Er eilte von Asgard ins Menschenland Midgard und hatte eigentlich vor, die Insel Rulantica mit Mann und Maus zu vernichten.
»Wir verdanken es allein Odins Frau Frigg, dass wir überhaupt noch leben«, wiederholt Kailani auch jetzt die alte Leier.
»Als ob ich das nicht wüsste«, platzt es aus Aquina heraus. »Das habe ich schon tausendmal gehört: Frigg erkannte, dass alles eigentlich Lokis Schuld war, und bat Odin, uns zu vergeben. Der ließ dich und deinen Stamm daraufhin am Leben und verwandelte euch nur in Meermenschen. Dann befahl er euch, die Quelle zu bewachen und die Dreimeilengrenze rund um Rulantica nicht zu verlassen. Bla, bla, bla … ach ja und Svalgur hat er als Aufpasser dagelassen …»
»So ist es!«, nickt Kailani, immer noch mit vor Zorn funkelnden Augen. »Und nichts davon ist Blabla!«
»Aber die Monsterschlange liegt doch seit langer Zeit im Eistempel in der Eisstadt und regt sich nicht mehr!«
»Wenn du glaubst, dass Svalgur deshalb nicht mehr gefährlich ist, dann irrst du dich! Das Zeitalter der Götter mag inzwischen vorüber sein, aber er erfüllt seine Aufgabe bis in alle Ewigkeit«, beharrt Kailani. »In dem Punkt bin ich mir sogar mit Exena einig. Beim geringsten Fehltritt wird Svalgur erwachen und alles und jeden verschlingen, daran besteht kein Zweifel!«
»Selbst wenn du recht hast, aber warum darf ich deshalb nicht nach oben? Ich will doch nur ein bisschen in der Sonne baden!«, hält Aquina dagegen.
Kailani schnaubt: »Heute ist es die Sonne, morgen ist es ein Apfel und übermorgen eben doch die Quelle. Halt dich fern, mein Kind, oder es wird böse enden!«
»Aber die blöde Unsterblichkeit interessiert mich überhaupt nicht!«, beharrt Aquina. »Das ist doch bloß was für euch Erwachsene!«
»Die Quelle ist unser aller Schicksal!«, donnert Kailani. »Du lässt mir keine Wahl! Solange du das nicht begreifst, hast du Grottenarrest, haben wir uns verstanden?«
Aquina lässt die Kinnlade nach unten klappen. »Das kannst du nicht, das darfst du nicht …«
»Das ist sogar meine Pflicht«, erklärt Kailani. »Ich bin nicht nur deine Mutter, sondern verantwortlich für alle Sirenen und du bringst dich und uns in Gefahr! Also wirst du außer zum Unterricht den Muschelpalast nicht mehr verlassen!«
Wie vom Blitz getroffen, bleibt Aquina in ihrem Zimmer zurück. Grottenarrest. Das Wort hämmert in ihrem Kopf und legt sich wie ein unsichtbarer Würgegriff um ihren Hals. Grottenarrest, und das auf unbestimmte Zeit – das macht ihre Tage noch langweiliger und kleiner. Natürlich weiß sie, dass die Meerkinder nicht nach oben dürfen. Aber sie hätte nie im Leben damit gerechnet, dass ihre Mutter sie dafür tatsächlich bestrafen würde. Sie würde doch niemals etwas tun, das alle gefährdet. Wie kann ihre Mutter ihr derart misstrauen? Aus Wut und Verzweiflung kommen Aquina die Tränen. Das Meerwasser um sie herum spült sie zwar sofort weg, trotzdem brennen sie heiß in ihren Augen. Sie lässt sich auf ihre Schlafstelle plumpsen. Was jetzt? Tagein, tagaus ihren Gesang und die Wassermagie üben? Das würde ihrer Mutter und Skyrn so passen! Immer schön brav und angepasst, bloß nichts anders machen, als die Sirenen es seit Jahrtausenden halten. Lieb und nett und stets zum Wohl der Meermenschen. Die braunen Kerne schwimmen noch immer über ihr durch das Zimmer. Diese Verräter!
»Vatt Galdur!«, schleudert Aquina ihnen böse und ohne lange zu überlegen hinterher. Ein Wirbel erfasst die Kerne und schwemmt sie aus ihrem Blickfeld in die Ecke.