Читать книгу Rulantica (Bd. 2) - Michaela Hanauer - Страница 13
ОглавлениеAm Ufer klettert Mats flink die karstigen Felsenwände nach oben an Land. Das soll ihm Exena nachmachen – da hilft ihr sämtliche Magie nicht: Mit ihrem Fischschwanz muss sie im Wasser bleiben wie alle Meermenschen außer ihm und Finja.
Seine Schadenfreude weicht dem Staunen über das Schauspiel, das Venn bietet, als er anmutig an Land springt. Mats hat die Verwandlung zwar schon öfter gesehen, doch es ist immer wieder atemberaubend, wenn sich Venns Fischschwanz in zwei kräftige Hinterbeine verwandelt und er statt seiner glatten Haut ein Fell bekommt, aus dem das Wasser in silbrigen Fäden rinnt. Das magische Wasserpferd schüttelt sich und lässt um sich herum feinste Silbertropfen regnen, bevor sie sich einen Weg zu den Stelzenhäusern bahnen. Bei genauerem Hinsehen sind sie nicht ganz so unbeschädigt, wie es aus der Ferne wirkt. Die Stützpfosten sind morsch und einige Querbalken sogar durchgebrochen, sodass die Unterböden der Häuser schief auf halber Höhe hängen und jederzeit komplett zu Boden stürzen könnten. Die spitzen Holzdächer wurden mit Drachen- oder Schlangenköpfen an den Giebeln verziert. Seltsam grotesk ragen sie empor, als würden sie heute noch über die Stadt wachen, obwohl so manchem ein Zahn, die Nase oder sogar der halbe Kopf fehlt. Die Farbe der Häuser ist natürlich längst abgeblättert, stattdessen hat überall Moos angesetzt, und auf einigen Dächern liegt so viel Schilf, dass es aussieht, als wären sie damit absichtlich gepolstert worden. Wo früher Verbindungsbrücken zwischen den Häusern waren, klaffen jetzt gefährliche Abgründe.
»Wohnen kann man hier jedenfalls nicht mehr«, stellt Mats fest. »Schade, es würde mir gefallen!«
Venn schnaubt aufmunternd und tappt behutsam voran, aber er ist schwer und bricht bei jedem zweiten Schritt ein. Nur mühsam kann er seinen Huf befreien.
»Pbr-au-uuu«, schimpft er die Holzlatten an, als ein Splitter ihn in die Fesseln pikst. Auf die nächsthöhere Ebene der Stelzenhäuser kann er unmöglich gelangen. Mats breitet die Arme aus wie ein Seiltänzer und tippt jeden Balken an, bevor er auf ihm balanciert. Er schafft es besser als sein Kelpie, muss aber höllisch aufpassen, nicht abzustürzen. Selten hat es sich so gut angefühlt, zwei Beine zu haben, aufrecht gehen zu können und – im Vergleich zu einem Kelpie – ein Fliegengewicht zu sein.
Venn bleibt stehen. »Eine Hydda ist intakt! Suche sie, ich warte auf dich!«
Mats hält mitten auf seinem Balken inne und dreht sich zu dem Kelpie um. Schon wieder!
»Du redest wirklich mit mir! Nicht nur in meiner Einbildung, sondern richtig echt, oder? Ich weiß nämlich nicht, was eine Hydda ist, und das Wort intakt würde ich selbst in Gedanken nie benutzen.«
»Die Stelzenhäuser werden Hyddas genannt«, erklärt Venn. »Und du hast bisher angenommen, dir meine weisen Ratschläge lediglich auszudenken?«
»Ähm … na ja … bisher irgendwie schon«, räumt Mats ein.
»Und das fandest du wahrscheinlicher, als einen guten Freund zu verstehen?« Venn gibt ein schnaubendes Gelächter von sich.
»Ich dachte eben, du redest bloß in meinem Kopf, weil …«
»… weil wir uns mit dem Herzen verstehen«, vervollständigt Venn und nickt. »Ja, so hat unsere Verständigung vor vielen Monden angefangen. So haben wir gegenseitig unsere Sprachen gelernt, und du verstehst, was alle Meermenschen um dich herum für wiehernde Laute halten.«
»Ich bin der Einzige, der dich versteht?«
»So ist es, ich kenne niemanden, der je die Kelpsprache erlernt hat.«
»Auch mein Vater nicht?«
»Falor erahnte vieles, aber wir konnten nicht miteinander sprechen.«
»Und Exena?«
»Pah, sie am wenigsten! Fällt es dir so schwer zu glauben, dass du etwas Besonderes kannst?«
Mats lässt niedergeschlagen den Kopf hängen. »Frag mal Usgur und die anderen Quellwächter, die halten mich alle für einen Totalausfall!«
»Solange du dich nicht selbst für einen hältst!«
»Manchmal schon«, gibt Mats zu. »Ich bekomme keinen Eiszauber hin und singen kann ich noch weniger.«
»Du siehst doch, wozu die Fähigkeiten der Quellwächter und Sirenen dienen, sie bewachen eine Insel. Nur weil du nicht kannst, was alle können, heißt das nicht, dass deine Aufgabe weniger wichtig sein wird.«
»Du bist wirklich ein wunderbarer Freund.« Mats hüpft vor Glück auf und ab und der Balken unter ihm fängt gefährlich an zu knacksen.
»Das Kompliment gebe ich gerne zurück! Aber jetzt gehst du besser und suchst nach der Hydda deiner Mutter. Wenn es dunkel wird, sollten wir nicht mehr hier sein.«
Kurz zögert Mats, er hätte noch zig Fragen, jetzt, da er weiß, dass Venn ihn versteht. Andererseits können sie später immer noch reden, sich unbemerkt aus der Eisstadt schleichen und sich hier in aller Ruhe umsehen, kann er wahrscheinlich so schnell nicht wieder.
Also fragt Mats nur: »Hast du eine Ahnung, wo ich suchen soll?«
Venn schüttelt die Mähne. »Ich weiß nur, dass deine Mutter in einem der Stelzenhäuser lebte und ich von dort, wo ich jetzt stehe, laut wieherte, um sie zu deinem Vater ins Wasser zu rufen.«
Mats muss unwillkürlich lachen. »Wie ein Telefon auf vier Beinen.«
»Ein WAS, bitte?«
»Nicht so wichtig, bloß menschlicher Technikkram. Ich mach mich jetzt auf die Socken«, und weil er Venns nächste Rückfrage vorausahnt, schiebt er rasch hinterher, »… also, auf die Suche.«
Er setzt seinen Balanceakt fort. Jetzt nur nicht nach unten schauen.
»Wenigstens habe ich keine Höhenangst«, murmelt Mats.
Wie sind die Wikinger früher nach oben gelangt? Wahrscheinlich standen damals noch Holztreppen oder sie benutzten Strickleitern. Nicht gerade eine bequeme Art, ins eigene Zuhause zu kommen, dafür blieben auch bei Sturm und Wellengang ihre Füße trocken, und sie waren vor gefährlichem Getier geschützt. Überhaupt erinnern Mats die Behausungen an eine Mischung aus den sonst fensterlosen Langhäusern der Wikinger und ihren schnittigen Holzschiffen, mit denen sie die Weltmeere beherrschten. Als ob sich Viken Rangnak, der Anführer, und sein Clan auch an Land nicht ganz vom Seefahrerleben verabschieden wollten.
Mats lässt den Blick durch das erste Haus schweifen und versucht, sich die Wikingerabteilung im Museum Krønasår ins Gedächtnis zu rufen. Früher war es bestimmt sehr gemütlich hier, doch von der Einrichtung ist jetzt nicht mehr viel übrig. Ein windschiefes Holzgestell in der Ecke könnte ein Bett oder eine Sitzbank gewesen sein. Mit einem Fell oder einer Matte hat der ehemalige Bewohner es vielleicht sogar für beides genutzt. An dem Platz in der Mitte, an dem üblicherweise die Feuerstelle war, klafft ein tiefes Loch und erinnert Mats daran, sich weiterhin sehr vorsichtig über die morschen Böden zu bewegen.
In der nächsten Hütte erwartet ihn nahezu derselbe Zustand, allerdings ist die Kochstelle noch verkohlt erkennbar, dafür sind Teile des Dachstuhls eingestürzt. Mats muss die Balken erst zur Seite zerren, um überhaupt weitergehen zu können. Und überall häufen sich Schilfblätter, Gras und Stroh. Wenn er sich jede Hydda so genau anschaut, wird er frühestens in einer Woche alle besichtigt haben. Zu dumm, dass Venn ihm nicht genau beschreiben konnte, wo seine Mam gewohnt hat.
Mit jedem weiteren Haus werden die Schatten länger, das ist Mats bewusst, immerhin ist er erst spät nach Mittag von dem Festessen aufgebrochen. Trotzdem will er den goldroten Schein der untergehenden Sonne nicht wahrhaben. Nur noch ein Haus, das nächste muss es doch sein. Oder das übernächste …
Er will nicht aufgeben, gerade nach der Pleite beim Rennen wünscht er sich sehnlich einen Hinweis auf seine Mutter. Besonders, weil er Finja seinen Fund präsentieren könnte, nachdem sie sich seelenruhig mit Seespargel vollgestopft hat. Vielleicht interessiert sie sich dann wieder mehr für ihn – und für die gemeinsame Suche nach ihrer Vergangenheit. Ursprünglich hat sie ihn in der Menschenwelt aufgestöbert, wollte alles über ihre Eltern herausfinden und war sogar bereit, Rulantica für immer zu verlassen. Und jetzt? Seit sogar Exena sie für die auserwählte Retterin Rulanticas hält und sie zur Quellwächterin ausbildet, hat Finja nichts anderes mehr im Sinn. Ihr fällt nicht einmal auf, dass Exena ihm nichts zutraut, obwohl sie doch Zwillinge sind und beide eine Hälfte von Friggs Amulett besitzen. Diese Gedanken lassen Mats noch eifriger weiter- und weitersuchen.
»Mrk, mrrrk!«
Zu spät fällt Mats auf, wie sich der Himmel komplett verdunkelt. Ganz ohne Übergang zur Dämmerung. Er hebt erst den Kopf, als das Kreischen unerträglich laut wird.
»MRK, MRRK, MRRRRKK!«
Mats zuckt zusammen, über dem Loch im Dach der Hydda kreisen mehrere Vögel. Tiefschwarz glänzt ihr Gefieder. Mit ausgebreiteten Flügeln ist jeder einzelne von ihnen größer als Mats, er schätzt eine Spannbreite von zwei bis drei Metern. Und als ob das nicht genügen würde, hat jeder Riesenvogel zwei Schnäbel, der eine gefährlich spitz und dünn wie ein Dolch, der andere größer, kräftig und nach unten gebogen. In schrillem Gelb leuchten sie an den schwarzen Köpfen.
Wie konnte er sie vergessen: die schwarzen Mauks! Finja hat ihn gewarnt, sogar Snorri hat Angst vor ihnen, sie kennen weder Freunde noch Gnade. Und damit nicht genug, was er für zufällige Ansammlungen von Schilf und Stroh gehalten hat, sind in Wahrheit ihre Nester. Rangnakor ist längst nicht mehr die Stadt der Wikinger, sondern der Riesenvögel! In dem Schilfhaufen direkt neben Mats liegt außerdem ein dunkler Brocken. Bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als großes schwarzes Ei – oh, oh: Er steht mitten in einem Brutplatz – das sieht nicht gut für ihn aus! Die Mauks müssen ihn nicht nur für einen Eindringling halten, sondern für einen Dieb, der ihrem Nachwuchs an die Eierschale will.
Er hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als der erste Mauk bereits zum Sturzflug ansetzt. Mats springt zur Seite, trotzdem trifft der spitze Schnabel ihn an der linken Schulter und das krumme Ende des zweiten Schnabels ritzt seine Haut auf.
»A-aa!«, brüllt Mats.
Da spürt er bereits den nächsten Stich im Rücken.
»Mrrk!« Mit einem triumphierenden Schrei trägt sein Gegner einen Fetzen seines Pullis davon.
Mats geht in die Knie und schnappt sich den nächstliegenden Balken, er schwingt ihn über dem Kopf wie einen Propeller. Einen seiner Angreifer erwischt er am Flügel und drängt ihn ab, doch sofort rückt der nächste Mauk auf und stößt in die Tiefe. Mats spürt den Schmerz am Oberschenkel, in seiner Hose klafft ein Loch. Sein Gegenangriff bringt überhaupt nichts, dafür sind es zu viele und ständig drängen mehr Mauks von draußen nach. Er muss sich irgendwie schützen, um nicht als Schweizer Käse mit tausend Löchern zu enden. Hektisch schaut er sich um. Ob er es bis zu der Bank dort drüben schaffen kann?
Mats kugelt sich zusammen und rollt, so schnell er kann, über den Boden. Es kracht und knackt bedenklich unter ihm, ein Flügel streift seinen Arm, ein Schnabel schlägt direkt neben seinem Kopf ein.
»MRRK, MRRRRKKKK, MRRRRRRKKKKKK!«
Wütend, weil sie ihn nicht voll erwischen, aber umso angriffswilliger formieren die Mauks sich neu. Mats nutzt die Gelegenheit und verschanzt sich unter der Bank und nimmt noch ein Holzscheit zur Verteidigung mit. Wirklich sicher ist er hier nicht, aber er bietet weniger Angriffsfläche als vorher, vor allem sind die Mauks zu groß, um zu ihm unter die Bank zu kriechen. Der nächste Mauk fliegt heran, hackt aber lediglich ins Holz. Doch schon lassen sich zwei weitere Riesen direkt über ihm auf der Sitzfläche nieder und fangen an zu picken. Jede Holzfaser, die sie herauszupfen, macht Mats eines bewusst: Er sitzt in der Falle! Denn auch von der unteren schmalen Seite watschelt einer der Vögel heran und krallt durch die Ritze.
Mats muss immer wieder die Füße wegziehen, damit die scharfen Krallen ihm nicht die Sohlen aufschlitzen. An seinem Kopfende ein ähnliches Spiel, ein Mauk äugt abwechselnd durch die Balken, und sobald er Mats sieht, schiebt er den Schnabel in seine Richtung. Von allen Seiten wird Mats bedroht – er krümmt sich so klein zusammen wie möglich und kann den Angreifern doch nicht komplett ausweichen. Hätte er bloß auf Venn gehört und wäre bei Tageslicht aus der Stadt verschwunden! Venn! Der könnte ihn retten. Soll er nach ihm rufen? Besser nicht, Venn würde es nicht schaffen, zu ihm hochzuklettern, und bei dem Versuch womöglich abstürzen. Mats könnte es sich nie verzeihen, den einzigen Freund zu gefährden, den er je hatte.
Andere Auswege sind allerdings nicht in Sicht, im Gegenteil, einem Mauk über ihm gelingt es, ein großes Holzstück aus der Bank zu meißeln, sein Schnabel pickt durch das Loch und zwickt Mats auf Brusthöhe, nicht tief genug, um ihn zu verwunden, aber er erwischt das Band, an dem seine Amuletthälfte hängt.
»Nein, nein, das bekommst du nicht, du Biest«, ruft er verzweifelt und versucht noch, das Band festzuhalten. Zu spät, samt Anhänger baumelt es im Schnabel seines Angreifers.
»Mrrrrr-KKK«, triumphiert der Vogel. Seine Freunde hören für einen Moment sogar auf, Mats weiter zu belagern, um sich die Beute anzusehen. Die Pause reicht lediglich für ein kurzes Durchatmen, seine Lage ist aussichtslos, früher oder später werden sie seinen Schutzwall weggepickt haben und dann gnade ihm Frigg.
»MRK!«
Das aufgeregte Kreischen verstummt wie auf Knopfdruck. Mats späht durch die Ritzen. Alle Mauks scheinen in dieselbe Richtung nach oben zu blicken, doch er kann nicht erkennen, was sie sehen. Das Schlagen von Flügeln kündigt einen weiteren Vogel an, dann biegen sich die Balken über Mats, als der Neuankömmling auf der Bank landet. Eine Klaue, die um einiges ausladender ist als die der anderen Mauks, gräbt sich in das Loch über Mats’ Brust, mehr kann er immer noch nicht sehen. Trotzdem vermutet Mats den Anführer der Mauks über sich, warum sonst sollten sie so ruhig sein. Wenn er recht hat, wird dieser Riesenvogel über sein weiteres Schicksal entscheiden, ihn seiner Meute endgültig zum Fraß vorwerfen oder ihn sich selbst zum Abendessen einverleiben. Einwenden kann er dagegen kaum etwas, sie werden nicht auf ihn hören, aber er muss es wenigstens versuchen.
»Ich wollte euch nichts tun! Auch keines eurer Eier stehlen.«
Was treibt er da? Wie kommt er darauf, mit ihnen reden zu können? Außer Kreischen hat er nichts von ihnen verstanden, warum sollte das umgekehrt anders sein? Die Tatsache, dass er plötzlich mit Venn sprechen kann, muss ihn total verwirrt haben! Mats zieht die Beine enger an den Körper, faltet die Hände über dem Kopf und stellt sich auf die finale Attacke ein. Wie erwartet legen die Mauks wieder los. Mrk hier, Mrk dort und alle hacken auf die Bank über ihm ein.