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Gähnend trat Luca vor den Badezimmerspiegel in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Seine linke Hand fuhr automatisch durch sein dichtes dunkles Haar. Er war erst gestern beim Friseur gewesen und hatte sich das Haar modisch kurz schneiden lassen, sodass diese Geste den Kamm ersetzte. Verschlafen öffnete er die Augen. Jedenfalls versuchte er es. Das linke Auge ließ sich auch ohne Probleme öffnen, während das rechte sich standhaft weigerte, aufzugehen. Mit gerunzelter Stirn trat er näher an den Spiegel. Sein rechtes Auge war zugeschwollen und wurde von einem blau-violetten Veilchen verziert. Darunter, direkt auf dem Jochbein, befand sich eine blutige Wunde. Vorsichtig tastete Luca rund um das Auge und verzog schmerzhaft sein Gesicht. Verdammt. Was genau war gestern vorgefallen? Langsam kehrte die Erinnerung zurück.

Er war mit Martin im Life, einer neu eröffneten Kneipe in der Frankfurter Innenstadt, gewesen. Gegen zwei Uhr morgens kam diese Gruppe Jugendlicher herein, schon mehr als nur leicht betrunken. Diese hatten dann die beiden Mädels angemacht, denen das augenscheinlich sehr unangenehm war. Das konnten Martin und er natürlich nicht zulassen. Und so kam eins zum anderen. Letztendlich waren alle aus der Kneipe geflogen. Die Prügelei ging daraufhin draußen weiter. Sie hatten gut ausgeteilt; aber auch viel eingesteckt. Zwei gegen fünf war eben doch unfair. Die beiden Mädels, um die es irgendwie gegangen war, waren verschwunden.

Luca grinste sich im Spiegel zu. Wenigstens trug er seine Wunden aus ehrenhaften Motiven.

Plötzlich fiel ihm ein, dass er heute Mittag zum Essen bei seinen Eltern erwartet wurde, und sein Grinsen verging ihm. Seufzend verließ er das Bad und ging in Richtung Eisschrank. Er wusste zwar nicht, ob es jetzt noch helfen würde, das Auge zu kühlen, aber einen Versuch war es wert. Die Kommentare seines Vaters konnte er schon hören. Luca! Großer Gott! Nicht schon wieder. Möchtest du nicht langsam mal erwachsen werden. Dein Bruder war mit fünfundzwanzig nicht mal halb so unbeherrscht wie du.

In dem Stil würde es weitergehen, während sein älterer Bruder Manuel ihn einfach nur betrachten, schweigsam seine Suppe löffeln und sich seinen Teil denken würde. Luca wusste nicht, was ihn mehr nervte. Die Vorwürfe seiner Eltern, endlich was aus seinem Leben zu machen oder die stoische Ruhe seines ach so perfekten Bruders, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben richtig Spaß gehabt hatte.

Ärgerlich öffnete Luca das Eisfach, nur um nach gründlicher Durchsuchung festzustellen, dass er keine Eiswürfel hatte. Der Tag wurde immer besser. Vielleicht sollte er einfach zum Arzt gehen und hoffen, dass der ihm helfen konnte. Mist, heute war Sonntag. Also kein Arzt. Nur ein kaltes Tuch würde mit Sicherheit nicht helfen. Unvermittelt fiel ihm ein, dass letzte Woche in die Wohnung über ihm eine neue Mieterin eingezogen war. Bruno, sein Nachbar von gegenüber, hatte erwähnt, dass sie Krankenschwester sei und mindestens achtzig Jahre alt. Deswegen hatte Luca noch keine Lust verspürt, die alte Lady willkommen zu heißen. Aber jetzt war doch eine gute Gelegenheit, der alten Dame einen Besuch abzustatten. Luca putzte sich die Zähne, zog sich schnell Jogginghose und Hemd über und stieg die Treppe zum zweiten Stock hoch.

Sarah hatte es sich grade mit einer Tasse Kaffee und einem Buch auf dem Sofa gemütlich gemacht, als es an der Tür klingelte.

Nicht schon wieder dieser Quälgeist von schräg unter mir, dachte sie genervt. Der war die letzte Woche bestimmt dreimal wegen irgendeines Mists bei ihr gewesen. Einmal war es der fehlende Zucker gewesen, dann wollte er Eier haben und zum Schluß war ihm der Kaffee ausgegangen. Er hatte sie dabei jedes Mal mit irgendwelchem Kram, der sie sowieso nicht interessierte, vollgequatscht. Sarah war durchaus klar, dass er nur an ihr interessiert war. Sie allerdings keineswegs an ihm. Mit seinen mindestens fünfundvierzig Jahren war er ungefähr zwanzig Jahre zu alt für sie, die letzten Monat dreiundzwanzig geworden war. Wenn ich ihn ignoriere, verschwindet er vielleicht. Sie kuschelte sich tiefer in ihre Kissen und klappte das Buch wieder auf. Er war anscheinend nicht bereit, aufzugeben, da es erneut klingelte. Diesmal klopfte der Kerl sogar an die Tür. Vielleicht war es ja auch ein Notfall. Seufzend stand Sarah auf und ging zur Tür.

Als sie öffnete, stand ein junger Mann in Jogginghose, offenem Hemd und Strümpfen, den sie noch nie gesehen hatte vor ihr. Ein Auge war zugeschwollen und blau und darunter befand sich eine aufgeplatzte Wunde, die bereits heftig entzündet war. Fragend blickte sie ihn an.

Luca öffnete den Mund, als die Tür aufging, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Die „alte Dame“ war höchstens Mitte zwanzig und echt süß. Sie hatte kurzgeschnittene rotbraune Haare und dunkelbraune Augen, in denen sich ein Mann ohne Weiteres verlieren konnte. Ihre vollen Lippen und ihre hohen Wangenknochen rundeten ihr Gesicht perfekt ab. Luca registrierte ihre langen, schlanken Beine und dass sie nur ein bisschen kleiner war als er, was bedeutete, dass sie mindestens 1,75 bis 1,80 groß sein musste. Diese Frau war wirklich sehr reizvoll. Sie blickte ihn immer noch fragend an.

Endlich fand er seine Sprache wieder: „Entschuldigen Sie bitte die Störung“, stammelte er und lächelte sie an. „Mein Name ist Luca und ich wohne unter Ihnen. Wie Sie sicherlich bemerkt haben, hatte ich gestern ein kleines Missgeschick und leider habe ich keine Eiswürfel im Haus. Da dachte ich, ich frage mal bei Ihnen nach, da Bruno erwähnt hat, Sie seien Krankenschwester.“

„So, dachten Sie das“, antwortete Sarah kühl, die wirklich langsam keine Lust mehr hatte, das ganze Haus mit ihren Sachen zu versorgen. Und dieser Typ kam auch noch halb nackt zu ihr. Zugegeben, sein durchtrainierter Körper war schon sehr ansehnlich. Er war braungebrannt, und zwar nicht vom Solarium, sondern eindeutig von der Sonne, hatte schwarze kurze Haare und leuchtend grüne Augen. An jedem anderen Tag hätte sie sich bestimmt an seinem Anblick erfreut. Vor allen Dingen, weil ihm wohl grade bewusst geworden war, dass er mit offenem Hemd vor ihr stand und er sich verzweifelt bemühte, dieses möglichst unauffällig zuzuknöpfen. Sarah mochte es, wenn einem Mann ein solcher Auftritt wenigstens peinlich war. Manche Männer bildeten sich nämlich ein, sie seien ein Geschenk Gottes und hätten jedes Recht der Welt, halbnackt vor der Tür einer unbekannten Frau aufzutauchen. Luca hatte sogar den Anstand ein wenig rot zu werden, während er den letzten Knopf schloss. Ergeben trat Sarah einen Schritt zur Seite. Er brauchte tatsächlich Hilfe. Für sein Auge konnte sie wahrscheinlich nichts mehr tun, aber die Wunde musste zumindest ordentlich gereinigt werden. Luca betrat die Wohnung: „Entschuldigen Sie meinen Aufzug“, sagte er zerknirscht, da ihm bewusst wurde, dass er nicht nur mit offenem Hemd vor ihr gestanden hatte, sondern auch noch in Socken. „Ich habe es etwas eilig“, versuchte er zu erklären.

„Das sehe ich“, antwortete sie kühl. „Das Bad ist hinten links. Ich hole ein sauberes Tuch.“

Sarah ließ ihn stehen und ging in die Küche.

Luca ging ins Bad und verfluchte im Stillen seinen Nachbarn. Bruno hatte wahrscheinlich reges Interesse an ihr und wollte ihn, Luca, sozusagen von ihr fernhalten. Luca konnte sich schwer vorstellen, dass sie auch nur das kleinste Interesse an seinem Nachbarn hatte. Und von ihm musste sie ja jetzt einen klasse ersten Eindruck haben. Andererseits war es wahrscheinlich egal, ob er im Anzug mit Krawatte vor ihr gestanden hätte oder ohne Schuhe und mit offenem Hemd. Sein Gesicht sah aus, als hätte jemand ihn als Punchingball missbraucht. Sie würde ihn bestimmt für einen Schläger halten.

Hinter ihm betrat Sarah das Bad. „Setzen Sie sich auf die Wanne!“

Dann schüttete sie eine durchsichtige Flüssigkeit auf ein Handtuch und drückte es Luca ohne Vorwarnung auf die Wunde. Er sog hörbar die Luft ein. Das Zeug brannte wie Feuer. Sarah ignorierte das Geräusch und fing an, die Wunde zu reinigen, indem sie vorsichtig tupfte.

„Ich bin gestern unschuldig in eine Schlägerei geraten und werde heute bei meinen Eltern erwartet“, versuchte Luca ein wenig von der Situation zu retten.

„Aha“, antwortete Sarah desinteressiert.

„Wenn ich da so auftauche, werden meine Eltern verrückt“, redete Luca weiter.

Sarah antwortete nicht. Es interessierte sie nicht, was Luca für Probleme mit seinem Leben oder seinen Eltern hatte.

„So, die Wunde ist sauber. Das Auge hätte gleich gekühlt werden müssen. Dafür kommt jede Hilfe zu spät.“

„Na klasse“, murmelte Luca. Resigniert stand er auf. Sarah registrierte seinen verzweifelten Gesichtsausdruck. Irgendwie tat er ihr doch leid. Seufzend sagte sie: „Setzen Sie sich wieder!“

Sarah ging zum Spiegelschrank und holte ihr Make-up raus. Nach ein paar Minuten war sie fertig.

„So, jetzt können Sie zumindest behaupten, Sie hätten einfach nur eine Augenentzündung.“

Luca blickte in den Spiegel. Wie auch immer sie das gemacht hatte, das Blau war nicht mehr zu sehen. Auch die Wunde hatte sie so überschminkt, dass nur ein kleiner Kratzer zu erkennen war.

„Wow!“, sagte er anerkennend. „Wenn ich nicht wüsste, dass Sie Krankenschwester sind, würde ich denken, Sie wären Maskenbildnerin. Vielen Dank.“

„Gern geschehen.“

Sarah ging zur Tür. Luca, der verstand, dass sie ihn schnell loswerden wollte, trat in den Flur.

„Darf ich wenigstens noch erfahren, wem ich meine Rettung zu verdanken habe?“

„Sarah. Und Ihnen noch einen schönen Tag.“

Damit schloss sie die Tür vor ihm.

Amüsiert setzte sie sich auf ihre Couch. Eins musste man diesem Luca lassen: Originell war er schon. Nicht jeder wäre nur in Jogginghose und Hemd bekleidet zu einer völlig fremden Frau gegangen und hätte um Hilfe gebeten.

Luca stand im Treppenhaus und überlegte, ob er Bruno mal gehörig die Meinung sagen sollte. Er hatte sich komplett zum Idioten gemacht. Andererseits musste er eingestehen, dass man auch zu einer älteren Dame nicht nur in Jogginghose und Hemd bekleidet geht. Ergo war er selber schuld an diesem Dilemma.

„Wo hast du nur deine gute Kinderstube gelassen“, murmelte er und ging die Treppen runter. „Manuel wäre so etwas niemals passiert.“

Sein Bruder war in jeder Hinsicht perfekt, während er das schwarze Schaf der Familie war. Er war der Rebell, während Manuel der liebevolle Sohn war, der ganz im Sinne seiner Eltern Wirtschaftswissenschaften studiert hatte, um dann in das Familienunternehmen einzusteigen. Selbstverständlich hatte Manuel den Abschluss mit Auszeichnung erhalten. Luca hatte nie studiert. Er war von einem Gelegenheitsjob in den anderen gegangen, hatte irgendwann eine Lehre als Bürokaufmann angefangen, aber schnell festgestellt, dass ihn diese Regelmäßigkeit langweilte. Er war durchs Land gereist und hatte sich mit Kellnerjobs durchgeschlagen. Seine Mutter hatte ihm heimlich immer wieder etwas Geld zustecken wollen, da seine Familie sehr wohlhabend war, aber Luca hatte abgelehnt. Er liebte seine Mutter sehr und auch seinen Vater auf seine Art, aber er wollte lieber unabhängig bleiben und ihnen nichts schulden.

Eilig schloss er die Wohnungstür auf. Schnell zog er die Jogginghose aus und eine Jeans an. Darüber streifte er seine Motorradkluft, nahm den Helm und verließ die Wohnung.

Schatten und Licht

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