Читать книгу Aszendent Blödmann - Michaela Thewes - Страница 6
Kapitel 2
ОглавлениеPunkt achtzehn Uhr drückte ich den Klingelknopf. Ich hasste es, zu spät zu kommen, und hielt mich – sofern der liebe Gott oder der Verkehr mir keinen Strich durch die Rechnung machten – minutiös an vereinbarte Termine. Sogar meine Periode hatte ich im Laufe der Jahre zur Pünktlichkeit erzogen.
Während ich darauf wartete, dass meine Freundin mir die Tür öffnete, betrachtete ich das kleine Kunstwerk, das neben dem Briefkasten des schmucken Einfamilienhauses hing. »Hier wohnen Charlotte, Andreas und Ben.« Charlotte und ihre beiden »Männer« waren ein echtes Dreamteam! Ich beneidete meine Freundin um diese Familienidylle. Ich wollte auch so ein hübsches buntes Tonschild an der Eingangstür hängen haben. Aber das war das Privileg von Menschen mit Kindern. Außerdem: Was sollte auf meinem Schild schon großartig draufstehen? HIER HAUST MELINA hätte irgendwie ein bisschen mitleiderregend gewirkt.
Bevor ich ins Grübeln geraten konnte, öffnete Charlotte mir die Tür. Auf dem Arm hielt sie Sohnemann Ben. Der kleine Kerl gluckste vor Freude, als er mich sah. Schwupp, schon traten alle düsteren Gedanken in den Hintergrund.
Ein Babylächeln wirkt wie eine Droge: Man wird sofort high und tut alles, um mehr davon zu bekommen. Vorzugsweise sich zum Affen machen. Man schneidet dämliche Grimassen, schlackert mit der Zunge und rutscht wie ein gehirnamputiertes Lebewesen grunzend und bellend auf dem Fußboden herum. Erst einmal begnügte ich mich jedoch damit, dem süßen Fratz spielerisch in die speckigen Waden zu beißen, was mit einem entzückenden Lächeln belohnt wurde. Mann, tat das gut! Das erste Mal seit dem morgendlichen Meeting hatte ich das Gefühl, wieder richtig durchatmen zu können.
»Schön, dass du da bist.« Mit dem freien Arm zog Charlotte mich an sich. »Ist die Bluse neu? Tolle Farbe, steht dir. Gut siehst du aus.«
»Du aber auch«, flunkerte ich.
Diese charmante kleine Lüge war ich meiner besten Freundin, die seit mehreren Monaten unter akutem Schlafentzug litt, schuldig. Kaum waren die Dreimonatskoliken vorüber gewesen, hatte Ben zu zahnen begonnen. Ruhige Nächte kannte Charlotte seit der Geburt des kleinen Wonneproppens nur aus den Erzählungen anderer Mütter, die sich damit brüsteten, dass ihr Maximilian oder ihre Anna-Maria vom ersten Tag an durchgeschlafen hatte. Ich an Charlottes Stelle hätte besagte Mamas, ohne lange zu fackeln, mit einer Rassel bewusstlos geschlagen oder mit einem Lätzchen geknebelt. Meine Freundin hingegen lud diese unsensiblen Weiber weiter zu sich nach Hause ein und hörte sich bei Kaffee und selbst gebackenem Kuchen stundenlang Geschichten über ihre Wunderkinder an. Ich fand allein dafür hatte Charlotte sich das bunte Schild an der Haustür redlich verdient.
Charlotte drückte mich noch einmal liebevoll an sich. »Ach, Süße, was würde ich nur ohne eine Freundin wie dich machen? Aber ganz unter uns: Du lügst lausig.« Sie grinste. »Macht aber nichts. Der gute Wille zählt. Ich freue mich trotzdem über dein Kompliment, auch wenn ich weiß, dass es nicht der Wahrheit entspricht. Schließlich haben wir Spiegel in unserer Wohnung.« Mittlerweile waren wir im Wohnzimmer angekommen, wo wir uns auf dem flauschigen Teppich, neben Bens Krabbeldecke, niederließen. Nachdem Charlotte ihren Sohn mit einem rasselnden und quietschenden Dinosaurier versorgt hatte, sah sie mich durchdringend an. »Komm, raus damit: Was ist los? Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?«
Charlotte kannte mich wirklich gut. Ihr konnte ich so leicht nichts vormachen. Froh, mir endlich alles von der Seele reden zu können, schilderte ich in groben Zügen den Ablauf des morgendlichen Meetings bis zu dem Moment, in dem Kai auf der Bildfläche erschienen war.
»Der Kai Hoffmann?« Charlotte spuckte seinen Namen aus, als spräche sie von einem polizeilich gesuchten Schwerverbrecher.
»Genau der«, antwortete ich düster.
»Das gibt’s doch gar nicht.« Charlotte war mindestens ebenso schockiert wie ich.
»Leider doch.«
»Und wie hat er auf euer Zusammentreffen reagiert?«
»Das war ja überhaupt die Krönung.« Ich schnaufte vor Wut. Allein wenn ich nur daran dachte, überkamen mich heftige Mordgelüste. »Der Mistkerl hat mich überhaupt nicht erkannt.«
»Auch wenn ich Kai ganz bestimmt nicht in Schutz nehmen möchte, aber dass er dich nicht wiedererkannt hat, kannst du ihm nun wirklich nicht vorwerfen. Seit der Sache damals ist viel Zeit vergangen. Er hat dich seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen.«
»Dreizehn«, korrigierte ich, »es ist dreizehn Jahre her, dass wir unser Abi gemacht haben.«
»Na schön, dann eben dreizehn. Dreizehn Jahre sind eine verdammt lange Zeit.«
»Na und!? Mir ist sein Anblick auch dreizehn Jahre lang erspart geblieben. Und trotzdem habe ich ihn sofort wiedererkannt.«
»Das ist ja wohl etwas völlig anderes«, widersprach Charlotte. »Du hattest damals fast zwanzig Kilo mehr auf den Rippen. Abgesehen davon warst du während unserer Schulzeit noch nicht blond.«
Meine Freundin rappelte sich vom Fußboden hoch und blieb suchend vor dem Bücherregal stehen. Schließlich kehrte sie mit einem Fotoalbum zu mir zurück, das der dicken Staubschicht nach zu urteilen längere Zeit nicht mehr hervorgeholt worden war. »Hier müsste auch mal wieder geputzt werden.« Nachdem Charlotte mit dem Ärmel einmal rasch über das schwarze Leder gewischt hatte, schlug sie das Album auf.
Schnell fand sie, wonach sie gesucht hatte. Ein altes, leicht unscharfes Gruppenfoto, das kurz vor dem Abitur aufgenommen worden war. Es zeigte unsere gesamte Jahrgangsstufe auf den Stufen vor dem Schulportal. Ich entdeckte Kai sofort. Er hatte seine Sonnenbrille lässig in die kurzen Haare geschoben und zeigte sein berühmt-berüchtigtes Lausbubengrinsen. Charlotte, die sich bei mir eingehakt hatte, smilte ebenfalls direkt in die Kamera, mit Zeige- und Mittelfinger formte sie das Peace-Zeichen. Alle sahen aus, als hätten sie jede Menge Spaß. Alle außer mir. Ich zog ein Gesicht, als hätte mir gerade jemand die Kekstüte geklaut.
»Du schaust aber grimmig.« Charlotte beugte sich über das Album. »Deiner Miene nach zu urteilen, muss an dem Tag irgendetwas mächtig schiefgelaufen sein.«
»Ich kann dir sagen, was schiefgelaufen ist: Ich habe es verpasst, mich rechtzeitig hinter meinem Vordermann zu verstecken.«
Als ich mir das Foto noch etwas genauer anschaute, fühlte ich mich plötzlich in meine Schulzeit zurückversetzt. Mein Magen krampfte sich zusammen, und der Kloß in meinem Hals schwoll an wie ein Wespenstich, bis ich das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen.
Genug jetzt, ermahnte ich mich. Höchste Zeit, endlich einen Schlussstrich unter die leidige Vergangenheit zu ziehen und die unglückselige Geschichte von damals zu vergessen. Eigentlich war mir das, von ein paar kleinen Rückfällen mal abgesehen, auch ganz gut gelungen – bis zu dem Moment, in dem Kai im Hotel aufgetaucht war und die alten Wunden wieder aufgerissen hatte. Herzlichen Dank, lieber Kollege!
»Das ist doch wirklich Schnee von gestern«, sagte Charlotte, die offenbar ahnte, was in mir vorging. »Zugegeben, du bist während unserer Schulzeit nicht gerade eine Schönheit gewesen, aber...«
»... aber auch keine unscheinbare graue Maus«, unterbrach ich Charlotte bitter, »obwohl ich mir das oft sehnlich gewünscht habe. Eine graue Maus geht in der Masse unter. Einen Elefanten zu übersehen ist dagegen schon schwieriger.«
Ich war mit meinen Kilos geradezu zwangsläufig ins Auge gefallen. Und das schon seit frühester Kindheit. Was meine Mutter aber trotzdem nicht davon abgehalten hatte, mich erst in ein rosafarbenes kurzes Röckchen und dann ins Kinderballett zu stecken. Ein Wunder, dass niemand sie wegen seelischer Grausamkeit verklagt hatte. Während die anderen kleinen Mädchen in ihren Tutus ausgesehen hatten wie zarte Elfen und mit beneidenswerter Eleganz einen Schmetterling oder eine Blume tanzten, bewegte ich mich mit der Grazie eines Viertonners durch den Ballettsaal.
Wahrscheinlich um mich – oder auch sich selbst – zu trösten, behauptete meine Mutter steif und fest, meine überflüssigen Pfunde seien Babyspeck, der ganz von allein wieder verschwinden würde. Wohl dem, der an Wunder glaubt ... Lange Zeit hatte ich ihr dieses Märchen auch tatsächlich abgekauft, aber irgendwann war ich dahintergekommen, dass der Finger nicht in der Nase stecken bleibt, wenn man darin herumbohrt, und dass die Erwachsenen es mit der Wahrheit auch nicht immer so genau nehmen. Als ich herausfand, dass es kein Zufall war, dass der Weihnachtsmann die gleichen Schuhe trug wie Onkel Gustav, dämmerte mir langsam, dass auch an der Geschichte mit dem Babyspeck etwas faul war.
Trotz dieser Erkenntnis schaffte ich es nicht, meine überflüssigen Kilos loszuwerden. Im Gegenteil, es wurden sogar immer mehr. Während der Pubertät musste ich eine Tafel Schokolade nur sehnsüchtig anschauen, schon bekam ich auf der Waage die Quittung dafür. Es war zum Verrücktwerden! Und je frustrierter ich wurde, desto mehr aß ich. Ein Teufelskreis. In der Schule wurde ich wegen meines Übergewichts gehänselt. Meine Speckpölsterchen boten im wahrsten Sinne des Wortes jede Menge Angriffsfläche für Hohn und Spötteleien. Elefantenbaby war noch der liebevollste Spitzname, den meine Mitschüler sich für mich ausgedacht hatten.
Dass ich über mehr Grips als Oberweite verfügte – sowohl in puncto Aussehen als auch in puncto Intelligenz kam ich mehr auf meinen Vater – machte die Sache nicht gerade leichter. Dick und doof wäre möglicherweise noch eine Kombination gewesen, mit der man ein paar Mitleidspunkte hätte einheimsen können. Aber so war ich für alle – abgesehen von Charlotte, die tapfer zu mir hielt – einfach nur die fette Streberin.
Während ich als Außenseiterin galt, die gemieden wurde, als wären Pausbacken und ein dicker Hintern ansteckend, war Sunnyboy Kai einer der angesagtesten Jungs unserer Stufe. Eine Party ohne ihn? Undenkbar! Eher war man bereit, auf Bier zu verzichten. Es gab kaum ein Mädchen an unserer Schule, das nicht in ihn verknallt gewesen wäre. Er hätte sie alle haben können, doch aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen schien er an mir interessiert zu sein. Und ich dumme Gans hatte erst mein Herz und – zumindest in Gedanken – auch meine Unschuld an ihn verloren.
Als Kai mit mir zu flirten begann, hatte ich mein Glück kaum fassen können und schwebte auf Wolke Sieben, bevor ich ziemlich unsanft auf dem harten Boden der Realität landete. Im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer: Er war nicht scharf auf mich gewesen, sondern auf die Hausaufgaben, Referate und Spickzettel, mit denen ich ihn, blind vor Liebe, versorgt hatte. Vielleicht wäre alles nicht ganz so schlimm gewesen, wenn Kai mich, nachdem ich ihn erfolgreich durch die Abiturprüfungen geschummelt hatte, einfach nur abserviert hätte. Wenn er mich wie ein altes Kaugummi einfach unauffällig hinter der nächsten Ecke entsorgt hätte, wäre ich bestimmt schnell darüber hinweggekommen. Schließlich war ich Kummer gewöhnt. Aber nein, Kai hatte noch einen draufgesetzt und mich vor meinen Mitschülern bloßgestellt. Voller Bitterkeit erinnerte ich mich an den peinlichsten Moment meines Lebens, als ...
Mit einem lauten Knall schloss Charlotte das Fotoalbum und riss mich so unsanft aus meinen düsteren Erinnerungen. »Und wie geht’s jetzt weiter?«
»Na, wie soll’s schon weitergehen?« Ich versuchte, dem beklemmenden Gefühl, das mich beim Gedanken an die kommenden Wochen überfiel, keine Beachtung zu schenken. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen und Ilka zu beweisen, was für einen unfähigen Blender sie eingestellt hat. Auch wenn die nächste Zeit bestimmt kein Zuckerschlecken wird – den Gefallen, zu kneifen und meinen Job hinzuschmeißen, tue ich diesem Vollidioten ganz bestimmt nicht.«
»Na, das wäre ja auch noch schöner! Ohne dich hätte der Blödmann noch nicht einmal Abitur. Aber was ich eigentlich wissen wollte: Wirst du dich ihm zu erkennen geben?«
»Damit er sich noch einmal darüber lustig machen kann, wie er mich ausgenutzt hat, oder womöglich im Hotel mit der Geschichte hausieren geht? Spinnst du?! Meinst du, ich will, dass sich alle das Maul darüber zerreißen, was für eine dämliche fette Kuh ich früher gewesen bin?! Auf die dummen Kommentare und mitleidigen Blicke kann ich gut verzichten. Ich denke ja gar nicht daran, ihm auch noch Munition gegen mich zu liefern! Dann hat er sofort wieder Oberwasser.« Mein Gesicht glühte, teils aus Wut, teils aus Scham. »Ich verspreche dir: Der Kerl wird mich schon noch kennenlernen! Das Mädchen von damals gibt es nicht mehr.«
Und das war nicht einfach nur so dahingesagt. Das Desaster mit Kai hatte ein Gutes gehabt: Vor lauter Liebeskummer waren die Pfunde wie von selbst gepurzelt. Außerdem hatte ich begonnen, wie eine Besessene Sport zu treiben. Innerhalb von wenigen Monaten verlor ich achtzig Stück Butter! Gut, streng genommen waren es natürlich zwanzig Kilo, die ich abspeckte, aber ich hatte mir angewöhnt, in Milchtüten oder Butterstücken zu rechnen, weil es mich ungemein motivierte, vor dem Supermarktregal zu stehen und mir auszumalen, wie viel Butter oder Milch ich mit auf die Waage nehmen müsste, um meinen Gewichtsverlust wieder auszugleichen. Eine Alternative wäre allenfalls noch Hackfleisch gewesen, aber das fand ich irgendwie zu eklig.
Mit der neuen Figur bekam ich auch ein völlig neues Selbstbewusstsein und beschloss, mich selbst neu zu erfinden. Was Madonna konnte, konnte ich schon lange. Mal abgesehen vom Singen. Ich legte mir neue Klamotten zu und trennte mich von meiner langweiligen Haarfarbe und von meinem Vornamen: Anastasia! Wer zum Teufel nannte sein Kind heutzutage Anastasia?! Außer der Sache mit dem Ballett die zweite Gräueltat, die ich meiner Mutter ankreidete. Immerhin hatte sie dafür eine Entschuldigung. Als ich geboren wurde, hatte Großtante Anastasia gerade ihren zweiten Schlaganfall erlitten. Die Ärzte gaben ihr nur noch wenige Wochen. Meine Tante bekrabbelte sich wieder, aber da war das Kind schon in den Brunnen oder besser gesagt: ins Taufbecken gefallen.
Zum Glück hatten meine Eltern so viel Anstand besessen, mir noch einen zweiten Namen, gewissermaßen in Reserve oder als Wiedergutmachung, mit auf den Weg zu geben. Deshalb war ich für alle, die mich nach dem Abitur kennengelernt hatten, nur »Melina«. Doch die Anastasia von früher hatte noch eine offene Rechnung zu begleichen! Die Beförderung war meine große Chance, Kai sein niederträchtiges Verhalten von damals heimzuzahlen, und ich hatte nicht vor, sie ungenutzt verstreichen zu lassen.
»Noch einmal werde ich diesem selbstgefälligen Arsch bestimmt nicht die Gelegenheit geben, wie auf einem Fußabtreter auf mir herumzutrampeln. Und was die Marketingleitung betrifft: Die kriegt er nur über meine Leiche.«
Überrascht zog Charlotte die Augenbrauen in die Höhe. »Ich wusste gar nicht, dass du so scharf auf die Beförderung bist.«
»Bin ich auch nicht. Ich will nur nicht, dass Kai den Job bekommt. Und wenn ich dafür Tag und Nacht schuften muss.« Kämpferisch ballte ich die Fäuste. »Eine Frau, die nur so gut sein will wie ein Mann, hat einfach keinen Ehrgeiz. Wart’s ab: Die Stelle ist mir so gut wie sicher.«
Doch hinter meiner selbstbewussten Fassade wisperte ein leises Stimmchen, dass Kai dabei auch noch ein kleines Wörtchen mitzureden hatte.
Nachdenklich kratzte Charlotte sich am Kopf. »Dein Kampfgeist in allen Ehren, Mel. Und nicht dass ich kein Verständnis dafür hätte, dass du es Kai heimzahlen willst – du steckst den Kerl doch fünfmal in die Tasche. Aber wenn ich mich recht entsinne, hast du, seit wir uns kennen, immer von vielen Kindern und nicht von der großen Karriere geträumt.« Versonnen streichelte Charlotte über Bens dicken Windelpopo und gab ihrem Sohnemann einen zärtlichen kleinen Klaps. »Auch wenn alle Frauenzeitschriften immer publik machen, wie leicht es ist, Kinder und Karriere unter einen Hut zu bringen, und tausend Tipps und Tricks auf Lager haben, wie man es als berufstätige Mutter nebenbei auch noch schafft, die Hornhaut an den Füßen und die Kalkablagerungen im Badezimmer in den Griff zu bekommen – ich persönlich stelle mir das nicht einfach vor ... Wahrscheinlich haben Frauen mit so einer Doppelbelastung überhaupt keine Zeit, besagte Zeitschriften auch nur aufzuschlagen, geschweige denn die tollen Tipps und Tricks zu lesen ...«
»Das sehen wir dann, wenn es so weit ist. Noch habe ich schließlich kein Kind.«
»Sehr richtig.« Charlotte nickte vielsagend. »Und woran liegt das?«
»Apropos Kinder. Müsste deins nicht mal langsam in die Badewanne?«, versuchte ich schnell vom Thema abzulenken.
»Ach, herrje!« Charlotte warf einen raschen Blick auf die Uhr. »Du hast recht.«
Mit Ben auf dem Arm folgte ich Charlotte ins Badezimmer, wo sie in eine kleine hellblaue Wanne Wasser einlaufen ließ. Die allwöchentliche Planschorgie am Montagabend war seit Bens Geburt zu einem festen und liebgewonnenen Ritual geworden. Auf diese Weise konnte ich meine Freundin ein wenig entlasten und bekam nicht nur mein Patenkind, sondern auch Charlotte regelmäßig zu Gesicht.
Allerdings war es weitaus schwieriger, so einen Floh zu baden, als ich gedacht hatte. Bedauerlicherweise fehlte bei einem Baby nämlich der Henkel, an dem man es fest- oder über Wasser halten konnte. Und der Schwierigkeitsgrad erhöhte sich sogar noch drastisch, sobald Seife ins Spiel kam. Das war nur was für Fortgeschrittene. Wehe, man passte mal einen Moment nicht richtig auf, dann verwandelte sich der kleine, glitschige Nackedei in null Komma nichts in einen Torpedo in Abschussposition.
Während Charlotte die freie Zeit nutzte, um Berge frisch gewaschener Babyklamotten zu falten, seifte ich Ben vorsichtig ein. Am kritischsten war das Haarewaschen. Bekam der kleine Knirps auch nur eine Spur Shampoo in die Augen, dann brüllte er so laut, als versuchte ich ihn zu ertränken. Irgendein zerstreuter Professor musste bei der »Keine-Träne-mehr-Formel«, mit der ahnungslose Mamis wie Charlotte zum Kauf dieses Babyshampoos animiert wurden, ein paar Zahlen oder Buchstaben durcheinandergeworfen haben. Genauso gut hätte mit dieser Formel ein Sack Zwiebeln beworben werden können.
Heute hatten wir auch diese Herausforderung mit Bravour gemeistert. Nun ließ ich Ben zur Belohnung, dass er so brav still gehalten hatte, noch ein wenig planschen.
Charlotte lächelte wohlwollend. »Du würdest dich wirklich gut als Mama machen. Ein Jammer, dass du noch keine eigenen Kinder hast. Sag, hast du endlich mal mit Conrad darüber gesprochen?«
»Äh ... nicht so direkt.« Ich wand mich wie ein Aal unter Charlottes vorwurfsvollen Blicken. Hatte ich’s doch gewusst, dass meine Freundin noch einmal darauf zurückkommen würde. »Gibst du mir bitte mal das Handtuch?«, versuchte ich Charlotte abzulenken.
Nachdem ich dem kleinen Kerl die viel zu große Kapuze des weißen Frotteetuchs übergestülpt hatte, sah er aus wie ein Mitglied des Ku-Klux-Klans. Als Bens Patentante konnte ich das natürlich nicht gutheißen. Badehandtuch kaufen, am besten in Blau oder einer anderen hübschen Farbe, setzte ich im Stillen auf meine To-do-Liste, gleich hinter Altpapier wegbringen und Kai umbringen.
»Also habt ihr indirekt darüber gesprochen?« Puh, Charlotte war ein echter Kampfdackel: Hatte sie sich erst einmal irgendwo festgebissen, ließ sie nicht so schnell locker.
»Irgendwie hat sich bis jetzt noch nicht die richtige Gelegenheit ergeben.«
Das stimmte zwar, aber irgendwie war das nur die halbe Wahrheit. Obwohl Conrad und ich bereits seit fast zwei Jahren liiert waren, hatten wir es bisher vermieden, über die Zukunft zu sprechen. Mit der Gegenwart hatten wir genug zu tun. Um dem Gerede und Getratsche im Hotel aus dem Weg zu gehen, hielten wir unser Verhältnis geheim. Er war der Boss, ich seine Angestellte. Hinzu kam der Altersunterschied, der Conrad mehr aus zumachen schien als mir. Wann immer sich die Möglichkeit bot, ritt er darauf herum. Als könnte ich nicht selbst rechnen!
Aber Gefühle hatten doch nichts mit Mathematik zu tun. Langsam war ich es echt leid, die heimliche Geliebte zu spielen. Was anfangs unserer Beziehung noch einen gewissen Reiz oder Nervenkitzel verliehen hatte, ging mir mittlerweile gewaltig auf den Keks. Ich fand es albern, Conrad bei der Arbeit zu siezen. Und ich war es leid, nach einer gemeinsam verbrachten Nacht in getrennten Autos zum Hotel zu fahren. Abgesehen davon wurde ich nicht jünger. Wenn ich eine Familie gründen wollte, war es langsam wirklich an der Zeit, die Weichen für die Zukunft zu stellen. In diesem Punkt war ich mit Charlotte voll und ganz einer Meinung.
»Ich mag Conrad, das weißt du«, erklärte Charlotte. »Nicht nur als Boss, sondern auch als Mensch. Er ist wirklich ein feiner Kerl. Aber wenn du jetzt nicht aufpasst, vergeudest du deine besten Jahre«, machte meine Freundin mir Vorhaltungen. Die Leier kannte ich schon in- und auswendig! Außerdem hatte Charlotte leicht reden. Männer wie ihren Andreas fand man nun mal nicht an jeder Straßenecke. Ihre bessere Hälfte war nicht nur ein wunderbarer Ehemann, sondern darüber hinaus der liebevollste Vater, den man sich wünschen konnte.
»Frag Conrad endlich, ob er es ernst mit dir meint und wie es mit euch weitergehen soll«, drängte Charlotte. »Ehe du dich versiehst, bist du zu alt zum Kinderkriegen.«
»Ach, komm, jetzt übertreibst du aber.« Sie tat ja gerade so, als wäre meine Gebärmutter bereits kurz vorm Verschrumpeln! »Zweiunddreißig ist doch heutzutage kein Alter. Viele Frauen bekommen erst mit Ende dreißig oder sogar Anfang vierzig ihr erstes Kind. Ich höre jedenfalls noch keine biologische Uhr ticken.«
»Im Alter lässt eben auch das Hörvermögen nach«, konterte Charlotte trocken.
»Ja, ja, schon gut. Mittwoch«, versprach ich ihr, bevor sie mir noch mehr altersbedingte Verschleißerscheinungen unter die Nase reiben konnte, »Mittwochabend steht ein Theaterbesuch auf dem Programm, und anschließend wollen Conrad und ich gemütlich essen gehen. Dann können wir in aller Ruhe quatschen. «
»Gut.« Charlotte nickte besänftigt. »Lass die Gelegenheit aber bloß nicht ungenutzt verstreichen.«
Nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hatte, die Angelegenheit, wie Charlotte es nannte, auch wirklich ganz sicher und bestimmt mit Conrad zu klären, wandten wir uns wieder Ben zu, der versonnen an seinem Daumen nuckelte. Nach der ausgiebigen Planscherei war der kleine Mann müde und ließ sich ausnahmsweise anstandslos in sein Bettchen verfrachten. Nachdem er eingeschlummert war, schlichen Charlotte und ich auf Zehenspitzen aus dem Kinderzimmer und steuerten in stillschweigendem Einvernehmen die gemütliche Sofaecke im Wohnzimmer an.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte Charlotte.
»Gerne.«
»Irgendwelche besonderen Wünsche? Wie wär’s mit einem schönen Glas Wein? Ich darf ja keinen Alkohol trinken, das ist das Blöde am Stillen, aber ich öffne gerne einen Rotwein für dich.«
»Mach dir nur keine Umstände.« Ich deutete auf die Thermoskanne, die in der Mitte des Couchtisches stand. »Gib mir einfach ’ne Tasse davon.«
»Bist du sicher?« Unschlüssig, ob sie meinen Wunsch erfüllen sollte, griff Charlotte zögernd nach der Kanne. »Magst du Anis? Und Kümmel? Das ist nämlich Stilltee.«
»Dann mal nichts wie her damit! Wenn ich davon auch solche Brüste bekomme wie du, trinke ich in Zukunft nichts anderes mehr.«
Charlotte beäugte aus der Vogelperspektive kritisch ihre Oberweite, und obwohl sie mit dem Ergebnis wirklich mehr als zufrieden sein konnte – etliche Frauen würden für solche Brüste morden oder zumindest eine schöne Stange Geld auf den Tisch eines Schönheitschirurgen legen –, stieß sie einen tiefen Seufzer aus. »Da hat man ein Mal im Leben solche Dinger, und im Bett herrscht trotzdem tote Hose.« Mit abwesendem Blick schüttete sie meine Tasse voll. Kurz bevor der Tee überschwappte, setzte sie abrupt die Kanne ab. »Ich glaube, Andreas geht fremd.«
Ich traute meinen Ohren kaum. Verflixt, was war denn heute bloß los?! »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Hör mal, Charly, mit so etwas scherzt man nicht.«
»Sehe ich so aus, als würde ich Witze machen?«
Nein, weiß Gott nicht. Diesen grimmigen Gesichtsausdruck kannte ich. Das letzte Mal, als meine Freundin das Kinn so weit vorgereckt hatte, als wollte sie jemanden damit aufspießen, war sie wie eine Furie auf zwei jugendliche Halbstarke losgegangen, die in der S-Bahn herumgepöbelt hatten. Die Burschen hatten nicht nur Charlottes Unmut, sondern auch die geballte Kraft ihrer Wickeltasche zu spüren bekommen. In Zukunft gingen sie bestimmt zu Fuß. Aber das war ja sowieso viel gesünder.
Ich hoffte für Andreas, dass ihm solch ein schmerzhafter Denkzettel erspart bleiben würde. »Ein Seitensprung? Du spinnst wohl. Jeder andere – aber doch nicht Andreas«, nahm ich ihn in Schutz.
Ohne ihr Kinn auch nur einen Millimeter wieder einzufahren, zuckte Charlotte die Achseln. »Er ist auch bloß ein Mann.«
»Ja, schon. Aber doch nicht so einer!« Per Zeichensprache gab ich ihr zu verstehen, was ich von ihren Unterstellungen hielt: gar nichts.
Charlotte stieß einen tiefen Seufzer aus, bereits den zweiten an diesem Abend. »Eigentlich bin ich es ja selbst schuld. Ich hätte Andreas niemals heiraten dürfen. War ja klar, dass das schiefgeht. Schließlich hat er nie einen Hehl aus seinem Stern-Zeichen gemacht. Widder können einfach nicht treu sein, selbst wenn sie es wollten. Das liegt ihnen im Blut.«
»Ach, Bullshit! Verschon mich bitte mit diesem halb garen Mist.«
Astrologie war Charlottes Steckenpferd. Ihrem Zeitungshoroskop vertraute sie mehr als dem Wetterbericht. Im Gegensatz zu meiner Freundin, die sofort ein halbes Dutzend Lottoscheine ausfüllte, wenn irgendein zwielichtiger Wald- und Wiesenstemgucker, der in Wirklichkeit ein arbeitsloser Sozialpädagoge und Hartz-IV-Empfänger war, ihr eine Glückssträhne voraussagte (gewonnen hatte sie noch nie etwas), hielt ich mich lieber an die Fakten.
»Wie kommst du denn überhaupt darauf, dass er eine Affäre hat?«
»Er duscht jeden Morgen.«
»Ja und?!« Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum regelmäßige Körperhygiene ein Indiz für Andreas’ Untreue sein sollte. »Die meisten Menschen duschen einmal am Tag.«
»Ich nicht.«
Plötzlich war der grimmige Gesichtsausdruck verschwunden. Eine vorwitzige Träne stahl sich aus Charlottes Augenwinkel und kullerte im Zeitlupentempo über ihre Wange. Am liebsten hätte ich meine Freundin ganz, ganz fest an mich gedrückt und ihr versichert, dass auch ich beim Duschen gelegentlich mal fünf gerade sein ließ. So wie letztes Jahr, als ein unterbelichteter Einzeller von den Stadtwerken mir einfach vierundzwanzig Stunden lang das Wasser abgestellt hatte. Weil er so dämlich gewesen war, ein Rohr anzubohren, hatte ich einen ganzen Tag lang im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Trockenen gesessen.
Aber irgendwie dämmerte mir, dass diese kleine Anekdote im Augenblick nicht dazu angetan war, meine Freundin aufzuheitern. Außerdem war die Sache mit dem Duschen vermutlich nur die Spitze des Eisberges. Deshalb beschränkte ich mich darauf, Charlotte einfach nur wortlos an mich zu ziehen und ihr tröstend über den Kopf zu streichen. Irgendwie fühlte sich das komisch an ... Gut, ihre braune Wuschelmähne war tatsächlich ein bisschen fettig, aber es gab Schlimmeres. Mundgeruch oder Käsefüße beispielsweise.
»Meistens hält Ben mich so auf Trab, dass kaum Zeit bleibt, um in Ruhe auf die Toilette zu gehen. Und dann sind da noch die riesigen Wäscheberge und ... und ...«, Charlottes Körper wurde von unterdrückten Schluchzern geschüttelt, »... und der restliche Haushalt. Wenn Andreas von der Arbeit nach Hause kommt, hat er Hunger und möchte was essen. Und zwar nicht immer bloß Tiefkühlpizza. Irgendwie krieg ich das alles nicht auf die Kette. Obwohl ich abends fix und fertig bin, frage ich mich dann, was ich eigentlich den ganzen Tag getrieben habe.« Charlotte richtete sich abrupt auf, befreite sich aus meiner Umarmung und schnäuzte sich schluchzend die Nase. »Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen. Wo war ich noch gleich stehen geblieben?«
»Andreas duscht jeden Morgen«, soufflierte ich. In einem unbeobachteten Moment wischte ich meine Hand an den Hosenbeinen ab.
»Ach ja, richtig. Und danach steht er zehn Minuten vor dem geöffneten Kleiderschrank und überlegt, ob die Krawatte zum Hemd passt.«
»Mensch, sei doch froh, dass Andreas auf sein Äußeres achtet. Die meisten Frauen wären froh, wenn ihre Ehemänner etwas mehr aus sich machen würden.«
»Außerdem benutzt er ein neues Aftershave«, redete Charlotte sich, ohne auf meinen Kommentar einzugehen, immer weiter in Rage. »Obsession. Ausgerechnet Obsession. Da ist der Name wohl schon Programm.«
»Vielleicht täusche ich mich, aber hast du ihm nicht genau dieses Aftershave zu Weihnachten geschenkt?« Ich nippte an meiner Teetasse. Pfui Teufel, der Tee war mittlerweile kalt geworden. Angewidert schob ich die Tasse zur Seite. O. K., dann halt keine dicken Möpse.
»Sehr richtig. Und jetzt benutzt er mein Geschenk, um andere Weiber zu betören. Findest du das nicht auch gleich doppelt geschmacklos?«
»Ich glaub das einfach nicht. Jedem würde ich das zutrauen, aber nicht Andreas. Ihr seid schon so lange ...«
»Genau das ist ja das Problem«, heulte Charlotte, die nur auf dieses Stichwort gewartet zu haben schien. »Wir sind schon so lange zusammen, dass irgendwie alles Routine geworden ist. In jeder Sprudelflasche prickelt es mehr als in unserem Schlafzimmer. Wahrscheinlich sehnt Andreas sich nach Abwechslung. Ach, was rede ich denn, wahrscheinlich wäre er froh, überhaupt mal wieder Sex zu haben. Seit Ben auf der Welt ist, bin ich einfach viel zu müde dafür. Wir müssten es schon im Stehen miteinander treiben – und selbst dann würde ich vermutlich noch dabei einschlafen.«
»Mach dir mal nicht so viele Sorgen. Kein Wunder, dass dir im Moment der Sinn nicht nach heißem, hemmungslosem Sex steht. Die vielen durchwachten Nächte kosten Kraft, und das Stillen geht bestimmt auch ganz schön an die Substanz. Ich bin mir sicher, Andreas weiß, wie du dich im Moment fühlst. Nie im Leben würde er für eine Affäre eure Beziehung aufs Spiel setzen. Dafür ist er viel zu anständig und außerdem ...«
»Anständig? Ach, papperlapapp«, fiel Charlotte mir ins Wort. »Es gibt zwei Sorten von Männern. Die einen gehen fremd, und die anderen sind tot. Warum sollte ausgerechnet Andreas die Ausnahme sein?«
»Weil ... weil...« Also, wenn sie mich schon so direkt fragte ... fiel mir auf die Schnelle leider nichts Überzeugendes ein. Natürlich hoffte ich von ganzem Herzen, dass Andreas über genügend Willensstärke und Körperbeherrschung verfügte, um sein bestes Stück im Zaum zu halten. Und zwar nicht nur aus Sorge um meine Freundin, sondern auch aus reinem Egoismus. All die Jahre waren die beiden für mich ein Vorbild gewesen. Der Inbegriff eines harmonischen und glücklichen Paares. Der lebende Beweis dafür, dass es so etwas wie eine (fast) perfekte Beziehung allen Unkenrufen und gescheiterten Ehen zum Trotz eben doch gab und dass es sich lohnte, auf den richtigen Partner zu warten! Sogar – wenn es wie in meinem Fall – ein paar Jährchen länger dauerte.
Natürlich flogen auch bei Charlotte und Andreas ab und zu die Fetzen – und wenn’s richtig zur Sache ging, flog auch mal eine Kaffeetasse oder ein Pantoffel. Aber wer an die Liebe glaubt, muss nicht zwangsläufig auch an Wunder glauben. So ein bisschen Zoff um die Hausarbeit oder die Schwiegermutter, davon war ich überzeugt, gehörte zu einer guten Beziehung dazu. Solange man hinterher gemeinsam darüber lachen konnte. So wie Charlotte und Andreas.
Um ihr Glück perfekt zu machen, hatten die beiden vor einem halben Jahr auch noch Ben bekommen. Eine echte Bilderbuchfamilie mit einem Häuschen im Grünen, einem Kredit bei der Sparkasse und einem selbst gemachten Tonschild an der Haustür. Herz, was willst du mehr? Das konnte Andreas doch jetzt nicht einfach so zerstören. Das konnte er uns nicht antun! An wem sollte ich mich denn dann noch orientieren? Außer Charlotte und Andreas kannte ich kein Paar, das meiner Vorstellung von der einen wahren großen Liebe im Leben auch nur annähernd das Wasser reichen konnte. Außer Romeo und Julia vielleicht oder Kate Winslet und Leonardo di Caprio in Titanic. Doch weder ein gemeinsamer Tod durch Gift noch ein Zusammenstoß mit einem Eisberg schien mir so ganz das Wahre zu sein.
Zum Glück waren Charlotte und Andreas quicklebendig und erfreuten sich bester Gesundheit. Obwohl sich das in Andreas’ Fall verdammt schnell ändern konnte, wenn Charlotte ihn tatsächlich beim Fremdgehen erwischen sollte. Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass Andreas seine Frau betrog – meine Hand würde ich nicht für ihn ins Feuer legen. Denn schließlich wusste man nie, was sich hinter der Fassade eines Menschen für Abgründe auftaten.
Charlotte, die von meinen Gedanken glücklicherweise nichts ahnte, sah mich abwartend an. Richtig, ich war ihr noch eine Antwort schuldig.
»Du willst wissen, warum Andreas die Ausnahme ist? Weil er dich liebt, du Dummerchen«, erklärte ich in einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ. Und weil ein Grund allein möglicherweise ein wenig dürftig klang, packte ich als Gratiszugabe noch einen zweiten obendrauf: »Außerdem habe ich das im Gefühl.«
Dass mein Gefühl mich – insbesondere bei Männern und bei den Lottozahlen – schon des Öfteren an der Nase herumgeführt hatte, musste ich in diesem Zusammenhang ja nicht noch einmal extra erwähnen.