Читать книгу Die Lavendelschlacht - Michaela Thewes - Страница 6
Zwei
ОглавлениеAls ich die Wohnungstür aufschloss, wallte ein Gefühl tiefer Zufriedenheit in mir auf. Ich liebte es, nach Hause zu kommen. In unser Zuhause. In unsere eigenen vier Wände. Diese Wohnung war meine persönliche Festung, die mir Sicherheit und Geborgenheit gab. Draußen konnte mit Pauken und Trompeten die Welt untergehen, aber hier drinnen, davon war ich überzeugt, würde uns nichts und niemand etwas anhaben.
In der Diele schnupperte ich und sog tief den vertrauten Duft ein. Hmm! Eine Mischung aus Holz und einem Hauch Zitrone. Und etwas, das sich nicht beschreiben ließ. Nicht nur jeder Mensch, sondern auch jede Wohnung hat ihren eigenen, unverwechselbaren Geruch. Und unsere Wohnung roch einfach wunderbar!
Immer noch fröhlich vor mich hin trällernd, ging ich von Raum zu Raum und knipste die Lampen an.
Es werde Licht!
Gerade mal halb sechs, und draußen war es schon stockfinster. Im Gegensatz zu den meisten Leuten mochte ich den Herbst. Herrlich! Nicht nur der Stress der Biergartenbesuche, Grillpartys und Freibadausflüge, sondern auch die Sommerpause von Mon Chéri & Co. war endlich vorbei. Was konnte es da Schöneres geben, als sich mit einer Decke auf das Sofa zu kuscheln und Unmengen von Schokolade und Büchern zu verschlingen?
Unschlüssig blieb ich vor dem offenen Kamin stehen. Kalt genug war es ja. Und so ein bisschen knisternde Atmosphäre konnte für meine Zwecke nur hilfreich sein. Mit geübtem Blick nahm ich den Stoß Holzscheite in Augenschein. Wenn das Feuerchen bis spät in die Nacht brennen sollte – ich nahm nicht an, dass wir heute früh ins Bett gehen würden, und falls doch, dann bestimmt nicht zum Schlafen –, musste ich wohl oder übel für Nachschub sorgen.
Unsere Holzvorräte waren in einem kleinen Verschlag auf der Dachterrasse untergebracht. Obwohl meine Zähne vor Kälte kastagnettenartig aufeinander schlugen, verharrte ich einen Augenblick an der Brüstung, um den wunderbaren Ausblick, den man von hier oben hatte, zu genießen. Direkt hinter dem Haus erstreckten sich weite Wiesen und Felder, ganz in der Ferne leuchteten die Lichter von Düsseldorf. Schwer vorzustellen, dass man in gerade mal zwanzig Minuten mitten in der City war. Nur widerstrebend riss ich mich von dem friedlichen Anblick los und stapfte mit einer Ladung Holz unter dem Arm ins Wohnzimmer zurück, um das Feuer in Gang zu bringen.
Als wir vor zwei Jahren diese Eigentumswohnung gekauft hatten, brauchte man viel Phantasie und Optimismus, um sich vorzustellen, dass aus einem Gruselkabinett ein schnuckeliges Heim werden würde. Wirklich schade, dass schlechter Geschmack nicht strafbar war! Sonst hätte der Vorbesitzer seinen Lebensabend statt in einer Finca auf Mallorca im Kittchen verbringen müssen! Doch Thomas und ich hatten gleich gespürt, dass sich unter kackbraunen Badezimmerfliesen und wild gemusterten Tapeten, die einem kalte Schauer über den Rücken jagten, etwas Besonderes verbarg. Diese Wohnung hatte Charme. Wie ein Diamant wartete sie nur darauf, geschliffen zu werden.
Und geschliffen und gehämmert werden musste mehr als genug. Wochenlang verwandelte sich unser neues Zuhause in eine einzige große Baustelle. Obwohl Thomas als Architekt ständig von einem ganzen Rudel Handwerker umgeben war, stellte sich leider heraus, dass er außer dem fachmännischen Umgang mit der Bierflasche nichts von ihnen gelernt hatte. Um es einmal deutlich zu sagen: Sein handwerkliches Talent war mit dem Öffnen des Werkzeugkoffers ausgereizt. Aber wofür hat man Freunde und Bekannte?! Noch dazu welche, die uns im Brustton der Überzeugung ihre tatkräftige Unterstützung zugesichert hatten. Äußerst leichtsinnig, wie sich im Nachhinein herausstellte, denn wir nahmen ihr Angebot gerne an. Um uns die Sympathie unserer Helfer nicht vollends zu verscherzen, schmissen wir eine Mitmach-Party nach der anderen. Besonders unsere Pinsel-Party wurde der absolute Renner! Damit hatten wir die sprichwörtlichen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Alle amüsierten sich prächtig, und die Wohnung war in null Komma nichts fertig gestrichen.
Ich beobachtete die Flammen, die inzwischen knisternd um die Holzscheite züngelten. Trotz Schwielen an den Händen war es eine tolle Zeit gewesen! Bei der Erinnerung musste ich schmunzeln. Wahrscheinlich war nicht nur der Umsatz der örtlichen Baumärkte, sondern auch die Einnahmen der Getränkehändler sprunghaft in die Höhe geschnellt. Aber die Investition hatte sich gelohnt. Der Anblick der gemütlichen Dreizimmerwohnung erfüllte mich jedes Mal aufs Neue mit Stolz und Freude. Genau so ein Nest hatte ich mir immer gewünscht!
Genug jetzt!
Resolut schob ich meine sentimentalen Gedanken beiseite. Das war nun wirklich der falsche Zeitpunkt für weibische Gefühlsduseleien. Grob geschätzt blieben mir noch zwei Stunden, bis Thomas von der Arbeit kam. Zwei Stunden, in denen ich mich nicht nur seelisch und moralisch, sondern auch ganz praktisch auf den Heiratsantrag vorbereiten musste!
Nervös nuckelte ich an einer Haarsträhne. Das würde knapp. Verdammt knapp sogar. Schließlich fehlte noch der angemessene feierliche Rahmen. Ich konnte Thomas ja schlecht zwischen Spätnachrichten und Zähneputzen fragen: »Ach, übrigens, Schnuckel, hast du Bock, mich zu heiraten?« Nein, ausgeschlossen! So ging das nicht! Mein Gott, etwas dermaßen Wichtiges musste geplant werden! Teurer Schampus, Geigenschluchzen, eine Vorratspackung Kerzen, Rosen oder anderes Grünzeug, ein Fünfgängemenü und was weiß ich nicht noch alles ...
In meinem Kopf ratterte es. Wahrscheinlich war es am vernünftigsten, das Ganze zu vertagen. Andererseits wollte ich die Angelegenheit hinter mich bringen, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Vielleicht hatte mich bis morgen der Mut schon wieder verlassen.
Energisch klatschte ich in die Hände. Jetzt oder nie! Ich würde das durchziehen. Mensch, Annette, sei einfach ein bisschen kreativ, spornte ich mich selbst an. Zeig, was du draufhast!
Hier war Improvisationstalent gefragt. In Windeseile entwickelte ich einen Schlachtplan: Der Himmel würde heute Abend ohnehin voller Geigen hängen, also tat es Eros Ramazzotti zur Not sicher auch. Für den Blumenschmuck musste ich halt den Zimmerefeu zerlegen. Wir würden Wein anstelle von Schampus trinken. Und was das Essen betraf: Bei Thomas zeigten sich bereits die ersten verräterischen Ansätze eines Rettungsrings, und auch ich hatte in letzter Zeit um die schlanke Linie zu kämpfen. Wehret den Anfängen! In Gedanken strich ich drei der fünf Gänge. Der Rest würde sich finden.
Während im Badezimmer das Wasser in die Wanne plätscherte, galt es, die Menüfolge festzulegen. Mit gerunzelter Stirn checkte ich den Inhalt unseres Kühlschranks. Wer die Wahl hat, hat die Qual ... Ich hatte weder das eine noch das andere. Unsere Vorräte waren ausgesprochen übersichtlich, um nicht zu sagen spärlich. Fein, dann also Spaghetti Bolognese nach Art des Hauses. Und zum Nachtisch Vanilleeis mit heißen Kirschen: »Heiße Liebe«. Eine doppelte Portion! Hmmm ... Mein Puls setzte zu einem Trommelwirbel an.
Von solch verheißungsvollen Aussichten beflügelt, sprang ich mit einem Satz aus meinen Jeans und entledigte mich in Rekordzeit der restlichen Kleidungsstücke. Dann posierte ich splitternackt vor dem Badezimmerspiegel.
Bangemachen gilt nicht! Und Luftanhalten ist verboten. Ich kannte die Regeln. Kritisch unterzog ich meinen Körper einer Inspektion. Mit der Modelkarriere würde das wohl nichts werden – jedenfalls nicht in diesem Leben. Aber trotz kleiner Mängel konnte ich mit dem, was ich sah, eigentlich ganz zufrieden sein.
Frauen, die permanent etwas an ihrem Äußeren herumzumeckern hatten, waren mir ein Gräuel. Meine Güte! Der Busen zu schlaff, die Beine zu kurz, der Po zu fett... Apropos fett; auf den zweiten Blick registrierte ich, dass ich um die Taille herum ein wenig füllig geworden war.
»Scheiße!« Kein Gemecker, sondern konstruktive Kritik.
Ich kniff in die Speckpölsterchen und streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus. Seit ich Thomas zuliebe mit dem Rauchen aufgehört hatte, war mein Appetit kaum zu bremsen. Summa summarum hatte mir der Nikotinentzug nicht nur vier Wochen extrem schlechte Laune, sondern zu allem Überfluss auch noch drei zusätzliche Kilos auf den Hüften beschert. Die mussten wieder runter! Und zwar schnell! Schließlich wollte ich in meinem Hochzeitskleid eine gute Figur machen.
Ich pulte die Kontaktlinsen heraus und ließ mich wohlig seufzend in das warme Badewasser gleiten. Meine Umwelt nahm ich nur noch verschwommen wahr. Zum einen lag das an dem ätherischen Badeöl, das mir auf höchst angenehme Weise die Sinne vernebelte, zum anderen an meinen schlechten Augen. Ohne Sehhilfe war ich blind wie ein Maulwurf. Manchmal fand ich das sogar ganz praktisch. Wenn ich wollte, konnte ich die böse, böse Welt um mich herum einfach ausblenden.
Vor mir tanzte, wie mit Weichzeichner gemalt, ein gelber Punkt auf der Wasseroberfläche. Thomas’ Quietscheentchen. Er würde ein toller Vater werden!
Glücklich lächelnd gab ich mich meinen Träumereien von einem sorgen- und keimfreien Familienleben hin. Während ich in der Küche das Abendessen vorbereitete, würde Thomas unserem Nachwuchs einen bunten Drachen bauen oder Geschichten vorlesen.
Halt! Stopp! Nochmal von vorne! Das war eigentlich nicht die Art von Rollenverteilung, die mir vorschwebte.
Ich würde weiter arbeiten gehen. Logisch. Natürlich nicht sofort, aber spätestens dann, wenn unser Sohnemann oder Töchterchen in den Kindergarten kam. Thomas und ich würden alles miteinander teilen: Freud und Leid, die Hausarbeit, die Kosten für Nachbars Fensterscheibe, die unser Sprössling zertrümmert hatte ... Ach nein, die übernahm die Haftpflicht.
Mittlerweile fühlte ich mich wie eine glitschige Seegurke. Höchste Zeit, dass ich aus der Wanne rauskam! Nachdem ich mich mit diversen Kosmetikpräparaten aufgehübscht hatte – Thomas sollte auch sehen, was er für eine gute Partie machte –, widmete ich mich der Pasta.
Die Nudelsoße köchelte vor sich hin, und gerade setzte ich den Topf mit den Spaghetti auf, da hörte ich Thomas’ Schlüssel klimpern. Einen Augenblick später kam Linus mit Karacho um die Ecke gefegt. Mit wedelndem Schwanz warf er sich mir zu Füßen. So gehörte sich das! Wenigstens ein männliches Wesen, das mich vorbehaltlos anbetete ...
Ich kraulte ihm zärtlich den Bauch. »Brav, Linus, brav.«
Hunde und Männer haben eins gemeinsam: Weiß man ihr Benehmen nicht entsprechend zu würdigen, reagieren sie beleidigt oder werden bockig. Also legte ich vorsichtshalber noch ein paar Streicheleinheiten nach. »Ja, mein Schatz, du bist ein ganz Lieber.«
Linus war ein echter Genießer. Er räkelte sich auf dem Küchenboden. Seine dreieckigen Lauschlappen wackelten dabei lustig hin und her, das struppige Fell stand wild in alle Himmelsrichtungen ab. Es war kaum zu übersehen, dass unser kleiner Schlingel ein Mischling war, aber woraus, das wusste nur der liebe Gott.
Wir waren zu Linus auf ähnliche Weise gekommen wie die Jungfrau Maria zum Jesuskind. Nicht im Traum hatte ich daran gedacht, mir einen Hund anzuschaffen. Ich bin doch nicht blöd! Schließlich ist hinreichend bekannt, dass die kläffenden Vierbeiner ihren Besitzern viele nette Sachen bescheren: Lärm, Dreck und gelegentlich auch Feinde. Vorzugsweise in der Nachbarschaft. Das musste ich nicht haben – dachte ich zumindest. Bis ich eines Abends ein winselndes, zitterndes Bündel Hund unter meinem Auto fand. Ein Blick in die dunklen, treuen Knopfaugen, und es war um mich geschehen. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, den kleinen Welpen in ein Tierheim abzuschieben. Also gewährten wir ihm – natürlich nur vorübergehend – Asyl.
Am nächsten Tag klapperte ich gemeinsam mit Linus alle Bäume in der Umgebung ab. Er hinterließ seine Duftmarke, ich einen Zettel, auf dem ich die Bevölkerung über Linus’ Aufenthaltsort in Kenntnis setzte. Das Ergebnis unserer Bemühungen war das Gleiche: Es meldete sich niemand. Auch meine täglichen Anrufe beim Tierheim und beim Fundbüro – die Leute kamen ja manchmal auf merkwürdige Ideen – waren erfolglos. Linus’ Besitzer blieb verschollen. Und um ehrlich zu sein, war ich sogar froh darüber, denn wir hatten unser Findelkind so lieb gewonnen, dass wir es gar nicht mehr hergeben wollten. Taten wir auch nicht.
Natürlich konnte Linus nicht den ganzen Tag mutterseelenallein zu Hause hocken, aber auch für dieses Problem hatte unser neuer Familienzuwachs eine durch und durch unkomplizierte Lösung gefunden: Er eroberte das Herz meines Brötchengebers im Sturm. Thomas war ohnehin sein eigener Chef, und so begleitete Linus abwechselnd Thomas ins Büro und mich zu Diabolo. Heute war Thomas mit Hundesitten an der Reihe gewesen. Zu Linus’ Leidwesen schenkte ich nun seinem Herrchen die ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Ciao, bella!« Latinlover Ramazzotti musste Thomas inspiriert haben. Sogar der Begrüßungskuss fiel relativ südländisch-temperamentvoll aus. Soll heißen: Er küsste mich statt auf die Wange auf den Mund.
»Hmm, das riecht aber lecker.« Erst linste er neugierig in die Töpfe und dann ins Wohnzimmer. Ich hatte den Esstisch mit Teelichtern, Servietten, bunten Steinen und Muscheln liebevoll dekoriert. Auf den Efeu hatte ich verzichtet, da ich nicht besonders erpicht darauf war, Blattläuse in den Spaghetti zu finden. Aber auch ohne Blumenschmuck sah das Arrangement sehr festlich aus. Selbst Thomas schien das zu bemerken. Er machte ein bestürztes Gesicht.
»O Gott, habe ich etwa deinen Geburtstag vergessen?«
Lachend schüttelte ich den Kopf.
»Oder vielleicht meinen?«
»Thomas, nebenan brennt der Kamin. Du hast im Hochsommer Geburtstag!«
»Also was ist es dann?« Himmel, was war der Mann hartnäckig.
»Unseren Hochzeitstag kann ich ja schließlich nicht verschwitzt haben ...«
Knapp daneben ist auch vorbei.
Pling. Ich spürte, wie das Blut nach oben schoss und meinen Kopf in guter alter Feuermeldermanier zum Leuchten brachte. Wenn Thomas wüsste, wie nah er der Wahrheit gekommen war! Ich drehte ihm den Rücken zu und rührte geschäftig in der Bolognesesoße, die perfekt mit meiner Gesichtsfarbe harmonierte. »Ich dachte, wir machen es uns heute Abend mal wieder so richtig schön gemütlich.« Wider Erwarten gelang es mir, einen beiläufigen Ton zu treffen. »Machst du bitte mal die Weinflasche auf?«
Damit war er fürs Erste beschäftigt. Kurz darauf ertönte ein helles »Plopp«, gefolgt von einem leisen Plätschern.
»Übrigens habe ich meinem Bruder das neue Projekt übertragen. Du weißt schon, dieses Einkaufszentrum. Meinst du, das war richtig?«, fragte er mich, während er den Wein einschenkte. »Klar, warum nicht. Er verdient die Chance.« Ich mochte Thomas’ ›kleinen‹ Bruder, der mich um Längen überragte. Die Geschwister waren sich sehr ähnlich. Nicht nur äußerlich. Nach dem Studium war Kai mit in Thomas’ Architekturbüro eingestiegen, und er schien, nach allem, was ich bisher gehört hatte, ausgesprochen talentiert zu sein.
»Gut, Kai hat noch nicht so viel Berufserfahrung«, sagte Thomas mehr zu sich selbst als zu mir, »aber dafür viele interessante Ideen. Du würdest staunen, wenn du seine Entwürfe sehen könntest. Er entwickelt sich prächtig. Ein echter Gewinn für die Firma.«
Beim Essen drehte sich alles um den neuen Auftrag. Kai hier, Einkaufszentrum da. Normalerweise interessierte ich mich sehr für Thomas’ Arbeit, doch heute saß ich wie auf heißen Kohlen. So ’n Mist! Wie sollte ich bloß die Kurve kriegen?
»Annette, hörst du mir überhaupt zu?«
»Klar!«, beeilte ich mich zu versichern. »Es ging um die Parkplätze. Knifflige Geschichte.«
»Ja, stimmt.« Seine blauen Augen blitzten verschmitzt. »Aber das war vor mindestens zehn Minuten.« Wenigstens war Thomas nicht beleidigt. »Wollen wir den Nachtisch vor dem Kamin essen?«, schlug er vor.
Ein Ortswechsel kam mir sehr gelegen. Ein Themenwechsel auch. Irgendwie musste es mir endlich gelingen, das Gespräch in die richtige Richtung zu lenken.
Als ich aus der Küche zurückkehrte, hatte Thomas es sich bereits auf dem flauschigen Teppich vor dem Kamin gemütlich gemacht. Ich verharrte einen Augenblick im Türrahmen und genoss den Anblick.
Annette, du bist wirklich ein Glückspilz, schoss es mir durch den Kopf, als ich Thomas so entspannt daliegen sah. Den Kopf auf die rechte Hand gestützt, schaute er scheinbar abwesend in die auf und ab tanzenden Flammen. In Sekundenbruchteilen registrierte ich jedes vertraute Detail: die klaren Linien seiner markanten Gesichtszüge; die störrische dunkle Haarsträhne, die ihm wie gewöhnlich in die Stirn fiel; das kräftige, satte Blau seiner Augen und natürlich seinen Körper, der auch durch den kleinen Bauchansatz nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt hatte. Thomas war groß, und seine breiten Schultern luden förmlich zum Anlehnen ein. Wahnsinn, ich konnte es noch gar nicht richtig glauben, dass ich mit diesem Traummann bald verheiratet sein würde.
»Hey, willst du etwa da Wurzeln schlagen?« Ob er meine Blicke gespürt hatte? Ich drückte ihm Eisbecher und Löffel in die Hand und suchte nach den passenden einleitenden Worten.
»Wenn ich es mir recht überlege, habe ich gar keinen Appetit auf Eis«, kam Thomas mir zuvor. Er schob den Glasbecher beiseite und zog mich liebevoll an sich. »Ein anderer Nachtisch wäre mir lieber«, flüsterte er mir ins Ohr. »Du siehst nämlich zum Anbeißen aus.« Zärtlich knabberte er an meinem Hals herum.
O Mann, nicht nur das Vanilleeis schmolz dahin. Willenlos ließ ich mich in seine kräftigen Arme sinken. In letzter Zeit war die schönste Nebensache der Welt bei uns entschieden zu kurz gekommen. Ich konnte mich kaum daran erinnern, wann Thomas und ich das letzte Mal zusammen geschlafen hatten. Vor vier Wochen? Vor sechs Wochen? Ostern?
Wir küssten uns leidenschaftlich. Meine Hormone tanzten Salsa, sie gierten nach wildem, hemmungslosem Sex.
Mit erstaunlichem Geschick hatte Thomas ruck, zuck alle Knöpfe meiner Bluse geöffnet. Er ließ seine Hände erst ganz sanft, dann aber immer fordernder über meine nackte Haut gleiten. Seine Berührungen jagten kleine Stromstöße durch meinen Körper und legten mein Gehirn lahm: Kurzschluss. Ich erschauerte wohlig.
Während er nach dem Verschluss meines BHs tastete, sah er mir tief in die Augen. »Ich liebe dich.« Bingo, das war er, der ideale Einstieg, nach dem ich die ganze Zeit gesucht hatte. Ich pfiff meine Hormone zurück, legte sie an die Leine und vertröstete sie auf später. Sorry, Jungs, diese Gelegenheit musste ich einfach beim Schopfe packen.
»Ich liebe dich auch.« Ich richtete mich ein wenig auf. »Thomas, willst du mich heiraten?«, stieß ich atemlos hervor.
Puh, jetzt war es raus! Mit einem glücklichen Lächeln wartete ich auf seine Antwort. An diesen Moment würden wir uns unser ganzes Leben lang erinnern. Irgendwann würden wir sogar unseren Kindern und Enkeln davon erzählen ...
»Ob ich was will?«
Wahrscheinlich hatte ich vor Aufregung etwas genuschelt. »Willst du mich heiraten?«, wiederholte ich deshalb noch einmal betont deutlich und akzentuiert.
»Äh, wie meinst du das?« Offenbar doch kein akustisches Problem. Das Lächeln erstarb auf meinen Lippen. Ja, Herr im Himmel, so schwer zu kapieren war das nun wirklich nicht. Oder musste ich ihn erst bei einem Deutschkurs anmelden, damit er diese simple Frage verstand?!
Nachdenklich stierte Thomas vor sich hin. Ich konnte sehen, dass es hinter seiner Stirn arbeitete. Mein Ärger verflog. Im wirklichen Leben lief nun mal nicht alles so romantisch ab wie in einem dieser Hollywood-Schmachtfetzen. Vielleicht fühlte Thomas sich überrumpelt. Oder in seiner Ehre als Mann gekränkt. Tief in ihrem Inneren waren die Kerle doch alle Mimosen, mein Freund machte da sicher keine Ausnahme.
»Ich weiß, normalerweise fragt der Mann. Aber ich dachte, nun ja, ich dachte ...« Hilflos brach ich ab. Was? Was hatte ich gedacht? Dass er sich freuen würde? Offensichtlich war ich über das Ziel hinausgeschossen.
Thomas griff nach meiner Hand und streichelte sie mechanisch. »Annette, ich find’s völlig o.k., wenn die Frau den Antrag macht. Ehrlich.«
Mir fiel ein dicker Stein vom Herzen. »Toll, dann ist doch alles in Ordnung. Du musst nur noch ja sagen, fürs Protokoll.«
»Süße, so einfach ist das nun auch wieder nicht. Natürlich möchte ich dich heiraten.« Davon ging ich aus. Aber warum zierte er sich dann bitte schön so? Und da heißt es immer, Frauen würden die Dinge unnötig kompliziert machen ... Um Entschuldigung heischend schaute er mich an. Ich spürte, gleich kam das Aber. »Nur eben jetzt noch nicht.«
»Wann denn dann?« Ich hatte nicht vor, ihn gleich nächste Woche am Schlafittchen vor den Traualtar zu schleifen. Wie ich von Frauke wusste, brauchte man viel Zeit, um so ein Fest vorzubereiten. Und außerdem war eine Hochzeit im Frühjahr oder Sommer sowieso viel schöner. Wir könnten dann bei Sonnenschein in einer urigen Scheune feiern.
Thomas fuhr sich durch seine verwuschelten Haare. »Was weiß ich. Vielleicht in einem Jahr, in zwei Jahren oder –«
Mit einem Schlag zerplatzten meine Träume wie eine Seifenblase. »Gar nicht?«, unterbrach ich ihn barsch und entriss ihm meine Hand.
»Blödsinn! Jetzt sieh doch nicht alles gleich wieder so negativ. So ein wichtiger Schritt will gut überlegt sein. Das sollte man nicht übers Knie brechen. Denk nur an die hohe Scheidungsrate, jede dritte Ehe in Deutschland geht in die Brüche, und das ist nicht bloß trockene Statistik. Mensch, Annette, meine Eltern haben sich getrennt, als ich gerade mal zehn war.«
Schlimmer hätte er mich gar nicht kränken können. Scheidungsrate gut und schön – aber dass er jetzt auch noch seine Mutter mit ins Spiel brachte, war ja wohl der absolute Gipfel! Ich fand es bewundernswert, dass sein Vater es mit dieser alten Giftspritze überhaupt so lange ausgehalten hatte. An seiner Stelle wäre ich schon viel früher nach Australien getürmt. Wie kam Thomas bloß auf die Idee, zwischen uns und seinen Eltern eine Parallele zu ziehen! Das ließ ja tief blicken ...
»Du bist dir also nicht sicher, ob ich die Richtige für dich bin? Du bist dir nicht sicher. Ist es das?« Der Kloß in meinem Hals schwoll beängstigend schnell an, Bald würde er die Größe eines Tennisballs erreicht haben.
»Uns drängt doch niemand. Oder«, er fixierte meinen nackten Bauch, »bist du etwa schwanger?«
Plötzlich war mir meine Blöße peinlich. Thomas hatte mich schon tausendmal nackt gesehen, aber in dieser Situation fühlte ich mich ohne den schützenden Stoff noch verletzlicher. Ich raffte die Bluse über dem Busen zusammen und versuchte mit zitternden Fingern, die Knöpfe wieder zu schließen.
»Nein, ich bin nicht schwanger. Leider.«
Thomas sah ungeheuer erleichtert aus. Das machte mich wütend. »Ich dachte, wir waren uns darüber einig, dass wir Kinder haben wollen. Aber da hab ich mich offensichtlich getäuscht.« »Kinder sind toll. – Irgendwann. Verflixt, was soll denn dieses ganze Theater?!« Seine Stimme wurde immer lauter. »Wir sind doch noch so jung. Lass uns doch erst mal unsere Freiheit genießen.«
Wollte der mich verschaukeln? Wir waren schließlich keine pubertierenden Teenager mehr. Thomas hatte sogar noch drei Jahre mehr auf dem Buckel als ich. Sollten seine Kinder später mal »Opa« zu ihm sagen?!
»Man kann Kinder nicht bestellen wie ’ne Pizza«, blaffte ich ihn an. »Manchmal dauert es Jahre, bis es endlich klappt. Eure tollen Spermien sind nämlich auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Lies es nach, falls du mir nicht glaubst. Von wegen jeder Schuss ein Treffer. Stress, Alkohol, Umweltgifte – träge sind die kleinen Biester geworden«. Ich konnte mir eine gehässige Spitze nicht verkneifen. »Verdammt nochmal, Thomas, wach endlich auf. Ich bin zweiunddreißig! Die biologische Uhr tickt!«
»Das Einzige, was hier tickt, bist du. Und zwar nicht ganz richtig!«
Mittlerweile schrien wir fast. Ängstlich kroch Linus unter das Sofa, bis nur noch sein Schwänzchen zu sehen war. Er verstand die Welt nicht mehr, aber da waren wir schon zu zweit.
»Gib’s zu, du liebst mich nicht!« Heiße Tränen schossen mir in die Augen. Gewaltsam versuchte ich, sie herunterzuwürgen.
»Natürlich liebe ich dich!« Es klang mehr nach einer Drohung als nach einer Liebeserklärung. »Scheiße! Sei doch nicht so verdammt egoistisch. Lass mir ... lass uns einfach noch etwas Zeit!«
Ich sprang auf. »Mein Gott, wie lange willst du mich denn hinhalten? Vielleicht nochmal sechs Jahre? Oder darf’s noch ein bisschen mehr sein?« Ich schnaubte wütend. »Entweder wir heiraten jetzt oder gar nicht!«
»So weit kommt das noch! Ich lass mich doch nicht von dir erpressen!«
»Und ich lass mich nicht für blöd verkaufen!«
Wie zwei Kampfhähne standen wir uns mit hochroten Köpfen gegenüber.
Die Situation war völlig verfahren. Gewöhnlich lösten wir Streitigkeiten durch einen Kompromiss. Aber ein bisschen heiraten ging ja wohl schlecht. Entweder man war ein Ehepaar oder eben nicht. Wir waren es nicht, und Thomas hatte auch nicht vor, an diesem Zustand etwas zu ändern.
Nun konnte ich die Tränen beim besten Willen nicht länger zurückhalten. In salzigen Sturzbächen rannen sie über mein Gesicht. Brüsk wandte ich mich ab und flüchtete aus dem Wohnzimmer. Den Triumph, mich flennen zu sehen, wollte ich Thomas nicht gönnen. Außerdem war ja ohnehin alles bereits gesagt.
Durch lautes Türknallen verlieh ich meinem Abgang die angemessene Dramatik. Hoffentlich bekam Linus in seinem Versteck keine Herzattacke. Um Thomas machte ich mir keine Sorgen, der konnte von mir aus auf der Stelle tot umfallen!
Schniefend und schluchzend zog ich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer aus und quartierte mich mit meinem Bettzeug und einer Vorratspackung Kleenex bei Henriksberg ein. Henriksberg stand im Arbeitszimmer und war ein altes, verschlissenes Sofa. Ohne Hemmungen breitete ich mein Gefühlsleben vor ihm aus und sparte dabei nicht mit unflätigen Schimpfwörtern, die mir unter normalen Umständen nie in den Sinn, geschweige denn über die Lippen gekommen wären. Ich verfluchte Thomas und den Tag, an dem wir uns kennen gelernt hatten.
Henriksberg gab mir in allen Punkten Recht, zumindest widersprach er nicht. Aber wahrscheinlich verstand er eh nur Schwedisch.
In den folgenden Stunden durchlitt ich das schlimmste Wechselbad der Gefühle, das man sich vorstellen kann. War die Wut gerade mal ein wenig abgeebbt, übermannte mich tiefe Traurigkeit. Ich hatte mich noch nie in meinem Leben so verletzt und zurückgestoßen gefühlt.
»Er will dich nicht, er liebt dich nicht«, hallte es ununterbrochen in mir. Ich legte ihm mein Herz zu Füßen, und er kickte es weg wie eine verbeulte Coladose!
Die Geigen hatten an diesem Abend irgendwie ihren Einsatz verpasst, dafür schluchzte ich nun umso mehr.