Читать книгу Die Lavendelschlacht - Michaela Thewes - Страница 7
Drei
ОглавлениеAm nächsten Morgen fühlte ich mich erbärmlich. Wie mit Karacho durch den Fleischwolf gedreht. Neben Verzweiflung, Minderwertigkeitsgefühlen und Wut quälten mich zu allem Überfluss mörderische Rückenschmerzen. Auch wenn es mir verdammt schwer fiel, das zuzugeben: Thomas traf in diesem Punkt keine Schuld, das ging auf Henriksbergs Konto.
In der ganzen Wohnung war es mucksmäuschenstill. Ich atmete auf. Gott sei Dank, der Herr Architekt war schon unterwegs. Ein Zusammentreffen mit ihm war so ziemlich das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte. Ich schlurfte in die Diele, wo Linus auf seiner Schmusedecke, der er seinen Namen zu verdanken hatte, selig schlummerte. Der Glückliche! Ich hatte kaum ein Auge zubekommen.
Heiliger Strohsack! Der Blick in den Spiegel übertraf meine schlimmsten Befürchtungen: Das Trauerspiel der vergangenen Nacht hatte deutliche Spuren hinterlassen. Ich sah aus wie ein Tässchen Pipi. Verschwollene Augen, die Haare klebten platt an meinem Kopf, meine Haut wirkte fahl und fleckig. Bei diesem Anblick kamen mir erneut die Tränen. Ein hartes Stück Arbeit wartete auf mich.
Unter der Dusche versuchte ich, mir die Schönheitstipps unzähliger Frauenzeitschriften, die im Laufe der Jahre durch meine Hände gewandert waren, in Erinnerung zu rufen. Aber keines der Aschenputtel auf den berühmt-berüchtigten Vorher-Fotos hatte auch nur annähernd so zombiehaft ausgesehen wie ich. Und dabei war ich davon überzeugt, dass man die armen Frauen zwecks Steigerung des Vorher-Nachher-Effekts absichtlich verschandelte. Die Mühe hätten sie sich bei mir sparen können, Buhu! Jedes Knitterfältchen und jeder Augenring waren echt.
Hier half nur eins: Nicht kleckern, sondern klotzen! Ganz gegen meine Gewohnheit griff ich tief in die Farbtöpfe und begann in mühsamer Kleinarbeit an meinen Blessuren herumzuspachteln. Obwohl jeder Gebrauchtwagenhändler für das, was ich mit meinem Gesicht anstellte, sofort eine Klage am Hals gehabt hätte, fand ich den Erfolg eher mäßig. Aus dem Spiegel starrte mir eine traurige Clownsfratze entgegen.
Am liebsten wäre ich mit einer Papiertüte über dem Kopf zur Arbeit gegangen. Ich ignorierte, dass es draußen wie aus Kübeln goss, und verbarg meine Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille. Es musste ja nicht jeder auf den ersten Blick sehen, wie es um mich bestellt war. Und wenn mich die Nachbarn für ein versoffenes Frauenzimmer hielten, das zu tief ins Glas geschaut hatte – umso besser. Die Wahrheit fand ich weitaus beschämender!
Ich riss Linus aus seinen süßen Hundeträumen. Nachdem er brav sein Geschäft verrichtet hatte, verfrachtete ich ihn samt seiner Schmusedecke auf den Rücksitz meines Autos. Ich musste mich beeilen, denn die morgendlichen Restaurierungsarbeiten hatten wertvolle Zeit gekostet. Aber es war wie verhext! Die ganze Welt – einschließlich sämtlicher Ampeln in und um Düsseldorf – schien sich gegen mich verschworen zu haben.
Als ich eine halbe Stunde später in der Redaktion ankam, war die Krabbelgruppe, wie Josch unsere wöchentliche Redaktionssitzung getauft hatte, bereits in vollem Gange. Mist, ausgerechnet heute musste ich zu spät kommen! Ich huschte in den Konferenzraum und versuchte mich so unauffällig, wie es auf zwölf Quadratmetern möglich ist, an meinen Platz zu schleichen. Die Mühe hätte ich mir sparen können.
Bernd schaute auf die Uhr. »Ah, Annette, schön, dass du Zeit für uns gefunden hast.« Seine Stimme triefte vor Sarkasmus. Unpünktlichkeit war für den Boss eine Todsünde und kam gleich hinter fehlerhafter Orthographie.
»Tut mir Leid, ich weiß, ich bin zu spät.« Ich setzte ein zerknirschtes Gesicht auf, was mir in Anbetracht der Lage nicht besonders schwer fiel.
»Dem Glücklichen schlägt keine Stunde«, deklamierte Frauke grinsend.
Konnte der liebe Gott nicht ein Einsehen haben und den Boden unter mir auftun?!
»Muss ja ’ne heiße Nacht gewesen sein«, ulkte nun auch noch Josch, auf meine Sonnenbrille deutend. »Hätte ich dem Häuslebauer gar nicht zugetraut. Oder trägst du die Brille neuerdings als modisches Accessoire?«
»Apropos Mode. Mona, was ist mit den Bildern von der Modenschau?«, machte Bernd dem Geplänkel energisch ein Ende. Ich war ihm ausgesprochen dankbar dafür, denn ich verspürte nicht das geringste Bedürfnis, vor versammelter Mannschaft einen Seelenstriptease zu veranstalten.
Mona schob Bernd einen Packen Fotos zu. »Das Labor hat die Abzüge vorhin vorbeigebracht.« Meine Freundin war Fotografin, und zwar mit Leib und Seele. Als wir uns kennen gelernt hatten, absolvierte ich gerade mein Volontariat bei einer großen Tageszeitung, Mona arbeitete für die Konkurrenz. Ach nein, für einen Mitbewerber, wie es ja jetzt so schön heißt. Jedenfalls rückten wir eine Weile immer bei den gleichen Veranstaltungen an, und so kamen wir uns auf der Jubiläumsfeier zum sechzigjährigen Bestehen des hiesigen Männergesangvereins näher. Wir schlossen Wetten darüber ab, wie viele Gründungsmitglieder wohl in dem Chor mitbrummten. Wir erfuhren es nie, doch die gemeinsam durchgestandenen Qualen legten den Grundstein für unsere Freundschaft. Später hatte sie mich dann zu Diabolo geholt, wo wir zwar auch noch gelegentlich zusammen litten, aber bei weitem nicht mehr so schlimm.
Während Bernd die Fotos begutachtete, nutzte Josch die Unterbrechung, um mir eine Tasse Kaffee einzuschenken. Dankbar nickte ich ihm zu. Doch als ich den forschenden Ausdruck in seinen Augen bemerkte, schaute ich schnell zur Seite.
»Ihr habt mich da übrigens gestern auf eine ausgezeichnete Idee gebracht«, sagte Bernd und legte die Modeaufnahmen weg. Er strahlte mich an. »Annette, ich hab ein ganz besonderes Bonbon für dich.« Auweia! Ich zuckte zusammen. Bernds Bonbons waren in der Redaktion verschrien. Meist entpuppten sie sich als bittere Pillen, die kein Mensch haben wollte. So auch in diesem Fall. »Wir kippen den Weihnachtsartikel in der Dezemberausgabe. Stattdessen bringen wir ein großes Hochzeitsspecial. Paare, die sich im Winter das Jawort geben. Na, was haltet ihr davon?«
Beifall heischend schaute er von einem zum anderen.
Was hatte ich bloß verbrochen, dass ich so hart bestraft wurde?! Ich verspürte den Drang, einen markerschütternden Urschrei auszustoßen.
»Und was ist der Clou an der ganzen Sache?«, fragte Josch mäßig begeistert.
»In beiden Fällen gibt’s ’ne schöne Bescherung«, warf Frauke trocken ein.
Bernd ließ seine Hand so heftig auf den Konferenztisch sausen, dass die Kaffeetassen klirrend einen Satz machten. »Sapperlot, jetzt seid doch nicht so destruktiv. Ein bisschen mehr Begeisterung, wenn ich bitten darf. Ich habe mir das folgendermaßen gedacht: Der ganze Weihnachtszauber geht Jahr für Jahr immer früher los. Schrecklich, die Weihnachtsmänner geben sich mittlerweile mit den Osterhasen die Klinke in die Hand. Unseren Lesern kommt also im Dezember der ganze Schmus schon zu den Ohren raus. Trotzdem wollen wir ihnen was Romantisches, Festliches bieten. Was fürs Herz. Statt weiße Weihnachten eine Hochzeit in Weiß. Alle anderen Magazine bringen das im Wonnemonat Mai. Nun, wir von Diabolo sind eben anders. Wir schreiben darüber im Dezember.«
»Was ist eigentlich aus der Drogenrazzia im Underground geworden?«, versuchte ich verzweifelt, das Steuer in letzter Minute herumzureißen. »Brandaktuelles Thema. Sollten wir da nicht lieber mal nachhaken?«
»Die Polizei hat bei der Durchsuchung des Clubs jede Menge Steine gefunden«, klinkte Mona sich ein.
»Nur Steine?« Der Besitz von Steinen war meines Wissens nicht strafbar. »Wollten diese bekifften Freaks einen Steingarten anlegen? Oder die Polizei verarschen?«
»Crack, Annette. Steine bedeutet Crack.«
»Oh.«
Bernd grinste süffisant. Die Nummer hatte ich vermasselt. Definitiv. »Da setze ich einen unserer freien Leute drauf an, am besten Fredo. Im Gegensatz zu Annette kennt er sich in der Drogenszene aus. Vielleicht kann er uns ein paar Hintergrundinformationen besorgen.« Darauf hätte ich wetten können. Wahrscheinlich nahm der liebe Fredo das Zeug sogar selbst. Bernd machte sich ein paar Notizen. »So, und jetzt wieder zu dem Hochzeitsspecial. Josch, du weißt Bescheid, auf welche Anzeigenkunden du dich stürzen kannst. Brautmodengeschäfte, Juweliere, Floristen, Restaurants, die Hochzeitsfeiern ausrichten, und so weiter und so weiter.«
Josch salutierte. »Aye, aye, Chef!« Ohne Josch würden wir alle am Hungertuch nagen. Diabolo lag kostenlos in Kneipen, Diskos, Geschäften und Restaurants aus. Wie die meisten Stadtmagazine finanzierte es sich fast ausschließlich durch Werbeeinnahmen, und Josch, unser Charmeur, schaffte es spielend, die Anzeigenkunden, insbesondere -kundinnen, um den Finger zu wickeln.
»Was dich betrifft, Annette, versuch möglichst viel Gefühl in den Artikel reinzulegen. So richtig mit Herz, darf auch ruhig ein bisschen schmalzig rüberkommen. Die Drogengeschichte ist heftig genug.« Bernd lächelte selbstgefällig. »Das dürfte kein allzu großes Problem für dich sein, das Thema ist dir ja wie auf den Leib geschnitten.«
Da war ich aber entschieden anderer Meinung!
»Wenn es zeitlich hinhaut, kannst du vielleicht sogar eigene Erfahrungen –«
»Entschuldigt bitte, mir ist nicht gut!«, stammelte ich, sprang auf und stürzte zur Toilette. Froh, den neugierigen Blicken entkommen zu sein, lehnte ich mich aufatmend gegen die Tür des Waschraums. Dann drehte ich den Wasserkran auf und hielt mein Gesicht unter den kalten Strahl. Mein Make-up verwandelte sich in ein fieses, schmutziges Rinnsal, bevor es schließlich ganz im Ausguss verschwand.
Ob wohl so meine Zukunft aussah?
Kurz darauf klapperte die Tür. Es war Mona. »Hey, Süße, was gibt’s?«
»Frag lieber, was es nicht gibt.«
»Doch keine Traumhochzeit in Weiß?«, fragte Mona mitfühlend und reichte mir gleich mehrere Lagen Papierhandtücher.
Ich schüttelte stumm den Kopf.
»Ach komm, das ist doch nicht so schlimm.« Sie tätschelte meinen Arm. »Meine Cousine, du weißt schon, diese kleine Blonde mit dem Schmollmund, die hat auch nur im ganz kleinen Kreis geheiratet. Ohne Kirche, bloß Standesamt. Du wirst sehen, das kann trotzdem sehr schön sein.«
Mona hatte mich offenbar falsch verstanden. »Gar keine Hochzeit!«, stieß ich hervor und kämpfte erneut mit den Tränen. Herrje, wenn das so weiterging, würde ich noch die ganze Stadt unter Wasser setzen.
Ihr klappte fast die Kinnlade herunter. »Schöne Scheiße!« Die Gabe, die Dinge so treffend auf den Punkt zu bringen, war eine der Eigenschaften, die ich am meisten an meiner Freundin liebte.
»Krisenrat. Heute Abend um sieben im Casablanca«, entschied Mona. »Ich sag Frauke Bescheid.«
Als ich um kurz nach sieben mit Mona an meiner Seite und Linus im Gefolge das Casablanca betrat, ließ die Anspannung des Tages endlich etwas nach. Wie in Trance hatte ich meine Arbeit erledigt. The show must go on. Vage konnte ich mich daran erinnern, dass ich wie eine Geisteskranke auf der Tastatur meines Computers herumgehackt hatte. Bloß nicht an den vergangenen Abend denken! Bloß nicht an die geplatzte Hochzeit denken! Bloß nicht an diesen verfluchten Mistkerl denken! Keinen Schimmer, wovon der Artikel, den ich am Nachmittag zusammengeschustert hatte, handelte. Bernd würden die Haare zu Berge stehen, denn meine Rechtschreibung war an diesem Tag vermutlich nicht viel besser als mein Erinnerungsvermögen.
Auf der Suche nach einem freien Tisch ließ ich meinen Blick umherwandern. Im Hintergrund dudelte Musik, ein alter Hit von den Stones. Ganz automatisch summte ich mit. Ich mochte die Atmosphäre der kleinen Kneipe, eigentlich war es sogar mehr ein Bistro. Der blau-gelb gemusterte Stoff der Vorhänge passte toll zu den schlichten, hellen Holzmöbeln und dem abgetretenen Parkettboden. In jedem Winkel standen Pflanzen herum, und die Wände waren bis auf den letzten Zentimeter mit Bildern zugepflastert. Vom kitschigen Ölgemälde eines Sonnenblumenfelds bis zur Aktfotografie eines absolut untalentierten Künstlers – alles, was das Prädikat »geschmacklos« verdiente, war hier vertreten. Doch zusammen ergaben diese »Meisterwerke« eine einzigartige, originelle Komposition.
Das Casablanca war unter der Woche immer gut besucht, aber Freitagabend einen Tisch zu ergattern war aussichtslos. Deshalb setzten wir uns im Gänsemarsch Richtung Theke in Bewegung. Mona vorneweg.
Leicht belustigt stellte ich fest, dass ihr Auftauchen wie üblich für Unruhe unter den Gästen sorgte. Mona fiel auf. Sie war unglaublich attraktiv, wenn auch nicht im klassischen Sinne. Ihr blasses, schmales Gesicht, das von einer roten Wuschelmähne umrahmt wurde, schien nur aus Augen zu bestehen, dunkle Schokoladenaugen, so süß und zugleich herb wie Zartbitterschokolade. Zudem scherte Mona sich einen Dreck um die angesagten Modetrends, sondern kreierte ihren eigenen Stil. Die flippigen, manchmal auch etwas gewöhnungsbedürftigen Klamotten, die sie trug, stöberte sie meist auf dem Flohmarkt, in Secondhandläden oder im Ausland auf. Heute hatte sie einen giftgrünen Poncho an, der ihre sensationell gute Figur zwar nur erahnen ließ, jedoch trotzdem seine Wirkung nicht verfehlte.
Die Männer gafften und sabberten vor Entzücken, während ihre Begleiterinnen die rot lackierten Krallen wetzten, allzeit bereit, ihren »Besitz« gegen Übergriffe jeder Art zu verteidigen. Vergessen waren Geiz, Schlampigkeit und Trägheit des Herzallerliebsten. Denn wehe es drang so ein »gut aussehendes Flittchen« in ihr Revier ein, dann wurde aus »Blödmann« und »Schluffi« ganz plötzlich »Darling«, »Herzilein« und »Schnuckiputz«. Das Spiel kannte ich mittlerweile zur Genüge, trotzdem amüsierte es mich jedes Mal aufs Neue.
Wir hatten gerade unser erstes Pils bestellt, da stieß Frauke zu uns. »Entschuldigt die Verspätung«, presste sie außer Atem hervor, »zu dumm, der Babysitter ist krank geworden.«
»Und wer kümmert sich jetzt um den kleinen Rotzlöffel?«, fragte Mona grinsend. Sie dachte mit Sicherheit genau das Gleiche wie ich: Mit vierzig Grad Fieber und Schüttelfrost im Bett zu liegen war garantiert das kleinere Übel. Tillmanns Verschleiß an Babysittern war immens. Sie kamen, gingen und kamen nie wieder. Die Einzige, die tapfer die Stellung hielt, war die liebe Omi. Aber da die alte Dame Tillmann nach der Schule beaufsichtigte, bis Frauke aus der Redaktion kam, konnte man sie abends nicht auch noch einspannen.
»Tillmann? Tillmann!!« Frauke drehte sich einmal suchend um die eigene Achse, wobei sie sich um ein Haar in Linus’ Leine verheddert hätte. »Ach, da bist du ja.« Mit sanfter Gewalt zog sie ihren sich heftig sträubenden Sohnemann hinter der Theke hervor.
»Ich hoffe, es macht euch nichts aus, dass ich ihn mitgebracht habe.«
Mona und ich wechselten einen stummen Blick. Was wir zu bereden hatten, war bestimmt nicht für die Ohren eines Siebenjährigen bestimmt. Mehr Horror- als Gutenachtgeschichte.
»Meinst du denn, dieses Thema ist...«, ich suchte nach dem passenden Wort, »na, sagen wir mal: kindgerecht?« Schließlich wollte ich nicht diejenige sein, die daran schuld war, wenn Fraukes Sprössling einen irreparablen Schaden davontrug. Falls er den nicht ohnehin schon hatte.
»Ich finde das Thema sogar pädagogisch wertvoll.« Frauke bestellte für Tillmann eine Limo. »Er kann das ruhig alles hören. Damit er später nicht genauso ein Arschloch wird. Nicht wahr, Tillmann?«
Doch Tillmann gab keine Antwort. Er war voll und ganz damit beschäftigt, die herumliegenden Bierdeckel in kleine, bunte Konfettischnipsel zu zerlegen und auf dem Boden zu verteilen. Voll kreativ, der Bengel!
Die Wahrscheinlichkeit, ein männliches Wesen zu finden, das nicht so ein Arschloch war wie ihr Exmann, hielt Frauke für genauso groß, wie den Jackpot beim Lotto zu knacken. Im Gegensatz zu den Männern hatte sie dem Glücksspiel jedoch noch nicht abgeschworen. Dabei würde eine starke, durchgreifende Hand ihrem Sohn sicher nicht schaden.
»Halt!« In letzter Minute konnte Mona Tillmann den Bierdeckel entreißen, auf dem der Barkeeper die Striche für unsere Getränke gemacht hatte. Sicherheitshalber schob sie ihn in ihre Jackentasche. »So, Annette, und jetzt erzähl erst mal in Ruhe. Alles schön der Reihe nach.«
Ich schilderte jedes Detail dieses unglückseligen Abends. Angefangen von meiner wunderschönen Tischdekoration bis hin zu dem verpatzten Heiratsantrag und der anschließenden Auseinandersetzung.
Es folgte ein betretenes Schweigen. Wie auf Kommando griffen alle zu ihren Biergläsern. Nachdem Mona einen Schluck genommen hatte, wischte sie sich den Schaum von den Lippen und räusperte sich. »Mensch, mir tut das so Leid. Und ein schlechtes Gewissen hab ich auch. Im Grunde war ich es ja, die dich in diesen Schlamassel reingeritten hat.« Sie donnerte ihr Glas auf die Theke zurück. »Aber wer konnte denn auch ahnen, dass dieser Blödmannsgehilfe sich so ziert.«
»Eben. Eigentlich müsste ich dir sogar dankbar sein. Wer weiß, wie viele Jahre das noch so dahingeplätschert wäre.« Ich stöhnte auf. Erst innerlich, dann auch für meine Umwelt laut und deutlich vernehmbar. »Jetzt wundert es mich auch nicht mehr, dass er mich nicht gefragt hat. Wenigstens weiß ich nun Bescheid. Er liebt mich einfach nicht«, schloss ich frustriert.
»Ach, Süße, jetzt rede dir mal nichts ein. Egal, was gestern vorgefallen ist oder was ihr euch aus lauter Wut an den Kopf geschmissen habt – Thomas liebt dich! Davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Oder meinst du, er war die letzten sechs Jahre nur aus Langeweile mit dir zusammen?! Solche Bindungsängste sollen vorkommen. Vor allem bei Männern.«
Bestätigend nickte Frauke mit dem Kopf. »Hört sich ganz danach an, als hätte dein lieber Freund gestrichen die Hosen voll. Schiss vor der Verantwortung, Angst, sich festzulegen. Ihr kennt doch das Sprichwort: Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht noch was Besseres findet ... « Sie schrie auf. »Autsch, Mona, das tat weh. Warum trittst du mich denn? Ich sag doch bloß, wie es ist.«
Mona legte beruhigend den Arm um meine Schulter. »Thomas braucht einfach noch etwas Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Das hat er doch selbst gesagt. Wart’s mal ab, in zwei, drei Tagen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Der bekrabbelt sich. Ihm geht eure Auseinandersetzung bestimmt genauso an die Nieren wie dir. Und dann wird er sich, wie Männer es in heiklen Situationen zu tun pflegen, für eine Weile in sein Schneckenhaus zurückziehen und feststellen, dass Heiraten gar nicht wehtut.«
Monas Worte wirkten wie Balsam auf meine geschundene Seele. »Meinst du wirklich?« Vielleicht war die Lage ja doch nicht so hoffnungslos, wie ich gestern Abend noch geglaubt hatte.
»Klar meine ich das.« Mona feixte. »Und wenn er erst einmal ausgerechnet hat, was er durch eine Hochzeit an Steuern sparen kann, steht ihr schneller vor dem Traualtar, als dir lieb ist.«
»Na ja, aber nur aus steuerlichen Gründen möchte ich ... « Mitten im Satz stockte ich und fixierte wie vom Donner gerührt einen kleinen Tisch auf der Stirnseite des Raumes. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Litt ich schon unter Halluzinationen? Dieser verdammte Alkohol! Dabei war das gerade mal mein zweites Bier, an und für sich fühlte ich mich noch recht nüchtern.
Mona musterte mich besorgt. »He, Annette, was ist los? Annette! Jetzt sag doch was! Du bist ja ganz blass. Hattest du eine Erscheinung?«
»Ja, so kann man es auch nennen«, antwortete ich dumpf und versteckte mich, so gut es eben ging, hinter einem schmalen Thekenpfeiler.
Mona und Frauke verrenkten sich die Hälse, um herauszufinden, was mich so schockiert hatte. »Ach, du dickes Ei!« Von wegen Halluzinationen! Jetzt hatte Frauke ihn also auch entdeckt. Mona ließ sich nicht beirren. »Wie ich bereits sagte: Er leidet mit Sicherheit genauso wie du«, sie stutzte und rieb sich die Augen, »auch wenn es im Augenblick vielleicht nicht danach aussieht.«
Nein, danach sah es nun wirklich nicht aus. Anstatt Trübsal zu blasen, amüsierte Thomas sich glänzend. Falls er sich tatsächlich, wie Mona es prophezeit hatte, in sein Schneckenhaus zurückgezogen hatte, dann hatte er aus Angst vor Langeweile weibliche Begleitung mitgenommen. Thomas und die fremde Frau kannten sich offenbar gut. Sie lachten und steckten die Köpfe zusammen, als hätten sie etwas ungemein Wichtiges und sehr Vertrauliches miteinander zu bereden. Und immer wieder legte Thomas’ Begleiterin dabei wie zufällig ihre Hand auf seinen Arm, was meinen lieben Freund nicht im Geringsten zu stören schien. Ganz im Gegenteil! Er bedachte die Unbekannte mit Blicken, die sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf zum Schrillen brachten. Wann hatte er mich eigentlich das letzte Mal so angeschaut? Unter normalen Umständen waren mir masochistische Neigungen völlig fremd, aber ich konnte nicht anders, als immer wieder hinzusehen.
»Was findet Thomas bloß an der?«, fragte Mona.
»Eben, was findet der bloß an der Schnepfe?«, hauchte Frauke ungläubig.
»Vielleicht diese atemberaubende Figur«, schlug ich kleinlaut vor.
»Oder die schicken Fummel. Das ist garantiert nicht H&M.« Frauke klang neidisch.
»Möglicherweise auch die üppigen Kurven.« Da konnte selbst Mona nicht mithalten.
»Oder diese vollen Lippen. Bestimmt aufgespritzt.«
»Eventuell auch die langen Beine.«
»Oder vielleicht die tollen Haare?«
»Damit wäre die Frage, was Thomas an ihr findet, ja wohl hinreichend beantwortet, oder?«, fragte ich streng.
Schuldbewusstes Kopfnicken war die Antwort. Mein angeschlagenes Selbstbewusstsein verabschiedete sich mit einem letzten müden Winken.
An ihrer Art, sich zu kleiden und zu schminken, konnte man auf Anhieb sehen, dass die Frau Stil und Kohle hatte. Alles an ihr, von den modischen Pumps (Gucci?) bis zu den Haarspitzen (splissfrei, soweit man das aus dieser Entfernung beurteilen konnte), zeugte von Geschmack und Klasse. Sie hatte ungefähr Monas Größe und Figur, abgesehen von den bereits erwähnten Rundungen, die an strategisch günstiger Stelle positioniert waren. Ihre lange schwarze Mähne wurde durch eine raffinierte Hochsteckfrisur gebändigt. Ich wollte mir lieber erst gar nicht vorstellen, wie unverschämt gut die Frau mit offenen Haaren aussah.
Aber es musste doch eine Art ausgleichende Gerechtigkeit auf dieser Welt geben, redete ich mir ein. Bestimmt war diese Trulla dumm wie Bohnenstroh ...
Fehlanzeige! So fasziniert, wie Thomas an ihren Lippen hing, war sie sogar eine ausgesprochen geistreiche und amüsante Gesprächspartnerin.
Mona versuchte mich mit aller Kraft hinter dem Thekenpfeiler hervorzuzerren. Ich wehrte mich eisern.
»Jetzt gehst du dort rüber und sagst brav hallo. Die Sache ist bestimmt ganz harmlos. Hörst du! Vielleicht ist die Tussi eine alte Jugendfreundin von ihm, eine Cousine dritten Grades, oder was weiß ich ...«
Vor dem gestrigen Abend hätte ich das sicher genauso gesehen. Mit Ausnahme der Cousine, denn eine Dame, die in diesem verwandtschaftlichen Verhältnis zu ihm stand, gab es meines Wissens nicht. Ich spielte Puzzle, in meinem Kopf reihte sich ein Teilchen an das andere. Und langsam fügte sich alles zu einem Bild zusammen. Kein Wunder, dass Thomas mich nicht heiraten wollte! Mit so einem Megaweib konnte ich natürlich nicht konkurrieren. Ob die beiden etwas miteinander hatten? Plötzlich verspürte ich das dringende Bedürfnis, mein Mittagessen, eine große Salamipizza und eine Cola light, auf die Theke zu katapultieren.
Frauke, die anscheinend Gedanken lesen konnte, riss ihr Bierglas hektisch an sich. »Ach komm, Mona. Cousine – pah, das ist doch wohl nicht dein Ernst. Prinzipiell glaube ich zwar auch an das Gute im Menschen, aber bei Männern muss man da gelegentlich eine Ausnahme machen.«
In diesem speziellen Fall war ich sogar geneigt, Frauke Recht zu geben. Wenn die »Sache«, wie Mona es genannt hatte, wirklich so harmlos wäre, dann hätte mir Thomas bestimmt von dieser Superfrau erzählt.
In meiner angeschlagenen Verfassung – der Magen rumorte, zudem litt ich unter dem Hässlichen-Entlein-Syndrom, fortgeschrittenes Stadium – fühlte ich mich einem Treffen mit einer potenziellen Nebenbuhlerin, noch dazu einer solchen Kreuzung aus Vamp und Karrierefrau, nicht gewachsen.
Während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wie ich mich unauffällig durch den Hinterausgang aus der Kneipe schleichen oder ganz einfach in Luft auflösen könnte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Thomas gerade bezahlte. Das Casablanca war wohl nur ein kurzer Zwischenstopp gewesen. Ich warf einen raschen Blick auf die Uhr. Viertel nach acht. Bei unserem Eintreffen um sieben Uhr hatten die beiden noch nicht da gesessen, das wäre Mona oder mir todsicher aufgefallen. Warum hatten Thomas und seine Begleiterin es so eilig? Waren sie noch mit jemandem verabredet? Wollten sie noch wohin? Oder konnten sie es am Ende etwa gar nicht erwarten ... Autsch, die Vorstellung war zu schmerzhaft, um weiter darüber nachzudenken.
Unglücklicherweise hatte Linus in diesem Augenblick die vertraute Witterung seines Herrchens aufgenommen. Der kleine Bursche war vor Freude schier aus dem Häuschen. Eine Empfindung, die ich nur schwer teilen konnte. Linus jaulte, tänzelte aufgeregt hin und her und zerrte mit der Kraft eines Bulldozers an seiner Leine.
»Pst, Linus, wenn du jetzt schön still bist, gibt’s zu Hause ein feines Leckerchen.« Ich tätschelte ihm den Kopf, aber der gute Linus war unbestechlich. Er jaulte, als wollte ich ihn abmurksen. Die Leute um uns herum guckten schon alle ganz vorwurfsvoll. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mir jemand den Tierschutzverein auf den Hals hetzen oder Thomas auf uns aufmerksam werden würde.
»Herrchen ist heute pfui«, zischte Mona. Das schien Linus verstanden zu haben, denn plötzlich gab er Ruhe. Puh, ich atmete auf. Wenigstens die Gefahr, von einer wild gewordenen Horde Tierschützer massakriert zu werden, war schon mal gebannt.
Während Thomas und die Inkarnation einer Superfrau auf den Ausgang zusteuerten, blieb ich weiter in Deckung. Genauso idiotisch wie überflüssig. Denn zum einen war der Thekenpfeiler so schmal, dass er noch nicht einmal ein magersüchtiges Model verdeckt hätte; zum anderen waren die beiden so intensiv miteinander beschäftigt, dass neben ihnen eine Bombe hätte hochgehen können, ohne dass sie es überhaupt bemerkt hätten. Gentlemanlike hielt Thomas seiner Begleiterin die Tür auf, sie dankte es ihm, indem sie sich lächelnd bei ihm unterhakte. Die Selbstverständlichkeit dieser besitzergreifenden Geste versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Weshalb so schüchtern? Warum knutschte sie ihn nicht gleich in aller Öffentlichkeit ab?