Читать книгу Schwarze Jahreszeiten - Michal Glowinski - Страница 14

Der Weg zum Umschlagplatz

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Ich erinnere mich erst ab einem bestimmten Augenblick an ihn, als wir uns in der Menschenmenge befanden, die sich auf der Fahrbahn dahinschleppte und nicht nur von Deutschen und ihren ukrainischen und litauisch-lettischen Helfern, sondern auch von jüdischen Polizisten getrieben wurde. Ich vermag nicht zu berichten, wie man uns aus dem Haus gejagt hatte, diese Episode ist aus meinem Gedächtnis gelöscht – sicherlich deshalb, weil ich so erschrocken war, dass ich nicht bewusst wahrnahm, was geschah. Ich bin aber sicher, dass man uns aus der Wohnung jagte und nicht aus dem Keller; vielleicht waren meine Eltern der Meinung gewesen, dass es keinen Sinn mehr machte, sich zu verstecken, vielleicht wurden sie überrascht, weil sie nicht erwartet hatten, gerade an diesem Tag herausgeholt zu werden. Ich bedauere, dass ich sie zu ihren Lebzeiten nicht danach gefragt habe. Vielleicht hätten sie auf meine Frage antworten können, obwohl sie über ihre Erfahrung einen Mantel des Schweigens hatten fallen lassen und nicht gerne darauf zurückkamen, als wäre das Erinnern gleichbedeutend mit einer Erneuerung des Leidens, das man zwar nicht vergessen kann und darf, über das man aber auch schwer sprechen kann.

Ich erinnere mich, dass wir Gepäck trugen, Vater einen Rucksack, Mutter eine Tasche. Darin hatten sie sicherlich die grundlegendsten Dinge untergebracht, vielleicht hatten sie etwas zu Essen hineingepackt. Ich weiß nicht, ob sie diese kleinen Gepäckstücke im letzten Moment gepackt hatten oder ob sie schon fertig waren, um in dem Augenblick mitgenommen zu werden, in dem das eintreten würde? Ich weiß nicht, ob sie glaubten, dass wir sie brauchen würden, oder ob sie sie mitnahmen, weil man nicht ohne Gepäck auf eine Reise geht, weil man sie für alle Fälle mitnimmt, selbst wenn man direkt ins Gas fährt. Ob sie schon damals wussten, dass der Weg dorthin führt? Oder machten sie sich noch etwas vor? Diese Frage betrifft natürlich nicht nur sie: An diesem Tag hatten die meisten – oder vielleicht alle – irgendwelche Bündel dabei, irgendwelche Sachen, selbst wenn sie ganz bescheiden waren, doch ich weiß nicht, ob diese Sachen ein Zeichen dafür waren, dass trotz allem irgendwo tief im Bewusstsein der Glaube an die Rettung glomm. Natürlich weiß ich nicht, was ich selbst damals fühlte – außer Angst und Entsetzen. In vielen Situationen, vor allem dieser Art, hat das Kind den Status eines Gegenstands, was umso offensichtlicher ist, als der Status willenloser Wesen allen zu eigen war, die in dem Marsch zum Umschlagplatz getrieben wurden. Meine Eltern sorgten zweifellos dafür, dass ich nicht alle Hoffnung verlor.

Ich erinnere mich nicht an den Anfang dieses Tages, doch denke ich, dass er so war wie die anderen Tage in der Zeit der Liquidierung und Deportationen. Und darüber kann ich etwas sagen: Wir wohnten unmittelbar an der Mauer, aus den Fenstern unseres Zimmers konnte man die arische Seite sehen und hören. Wir hörten und sahen Abteilungen im Gleichschritt zum Ghetto marschieren und Nazi-Lieder brüllen, von fern erreichte uns auch das Klappern der Schuhe. Es bestand kein Zweifel, zu welchem Zweck sich diese Abteilungen auf die andere Seite der Mauer begaben. Die Aktion war in vollem Gange. Auch dieser Tag begann sicherlich auf diese Weise. Aber wussten wir, dass wir genau jetzt auf den Umschlagplatz kommen würden?

Wie gesagt, ich erinnere mich an diesen Menschenzug erst ab einem bestimmten Augenblick. Als wir uns dem Ziel näherten, wurde eine Selektion durchgeführt. So hieß das – das Wort „Selektion” hat sich so stark damit verbunden, dass ich es bis heute nicht ruhig verwenden kann, obwohl ich mir bewusst bin, dass es in unterschiedlichen Zusammenhängen vorkommen und sich auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit beziehen kann. Die Selektion beruhte darauf, dass aus dem Menschenstrom einige wenige abgesondert wurden, die an diesem Tag nicht zur Deportation vorgesehen waren, sie sollten dableiben. Als wir an der Reihe waren, schien es mir, als seien wir zum Bleiben bestimmt worden. Ich war mir nicht darüber im Klaren, dass es die letzte Reise war, aber dennoch zog ich es vor, sie zu vermeiden, ich wollte nach Hause zurückkehren. Ich begann vor Freude zu hüpfen – einen Augenblick lang war ich glücklich. Erst nach zwei, drei Minuten dämmerte es mir, dass wir uns nicht unter den Auserwählten befanden, sondern in der Hauptgruppe, unterwegs zum Umschlagplatz. Die Begeisterung verwandelte sich in Verzweiflung. Von dem ganzen Tag erinnere ich mich an diese Episode am besten.

Als wir zum Umschlagplatz kamen, standen schon Güterwaggons bereit, der Zug schickte sich offenbar zur Abfahrt an. Es herrschte Gedränge; die Deutschen hatten an diesem Tag mehr Menschen zusammengetrieben, als sie fortbringen konnten, ein Teil musste bleiben. Ich erinnere mich daran, dass einige mit großen Buchstaben ihre Namen auf die Rucksäcke geschrieben hatten. Es war heiß, die Sonne schien, die Hochsaison des großen Sterbens fiel auf den Höhepunkt des Sommers. Das widerspricht dem, was ich geschrieben habe, dass über dem Ghetto die Sonne nicht schien. Doch wenn sie sich zeigte, so war auch sie unmenschlich, grausam und brachte, wie alles innerhalb der Mauer, Leiden. Sie brachte keine Hoffnung und peinigte die Todgeweihten noch stärker. Ein Gespräch zwischen meinen Eltern ist mir in Erinnerung geblieben. Mutter schlug vor, schneller mit allem fertig zu werden und sich zum Zug vorzudrängen, um mit dem Transport mitzukommen, der bald abfahren sollte. War sie sich voll darüber im Klaren, dass dies die Deportation in den Tod war? Vater war anderer Meinung. Er glaubte, dass wir uns so weit wie möglich von den Gleisen entfernt halten sollten, denn vielleicht würde es uns doch gelingen, vom Umschlagplatz fortzukommen. Es zeigte sich, dass er recht hatte.

Auch wenn ich dabei war, weiß ich nicht genau, wie es dazu kam. Ich kann es nicht in aller Ordnung erzählen. Als der Zug nach Treblinka fortgefahren war, wurde es auf dem Umschlagplatz leerer. Eine Gruppe von Menschen war übrig geblieben, die – wie wir – am spätesten herbeigetrieben, aus den entferntesten Gegenden des Ghettos geholt worden waren. Wir kauerten – und jeder überlegte wahrscheinlich, wie er von hier fortkommen könnte. Auch meine Eltern dachten nach. Der Zufall kam uns zu Hilfe: Vater traf einen seit vielen Jahren nicht gesehenen Bekannten aus seiner Jugendzeit, der jüdischer Polizist war. Er bat ihn, uns das Entkommen zu ermöglichen. Der Bekannte führte uns in ein Gebäude am Rand und brachte uns in einem dunklen Raum unter, eine Art Abstellkammer oder ein enger Verschlag, in dem früher Haushaltsgeräte gestanden hatten. Wir sollten hier bleiben, bis die deutschen Abteilungen nach der Erledigung der für diesen Tag vorgesehenen Aufgaben das Ghetto verlassen würden. Und so kam es auch. Dieser Bekannte aus alten Jahren ließ uns durch einen Seitenausgang vom Umschlagplatz heraus, vielleicht war es auch ein Loch im Zaun.

Wir waren gerettet, meine Eltern wurden gerettet, ich wurde gerettet. Eigentlich verstehe ich nicht, wie das geschehen ist, ich begreife nicht, wie das Schicksal gerade uns hold war. Ich wundere mich, ich wundere mich über alles. Ich wundere mich, dass ich lebe … Aber ich lebe, ich bin, ich existiere … Und ich erinnere mich!

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