Читать книгу Hippokrates in der Hölle - Michel Cymes - Страница 6
|7|Prolog
ОглавлениеHier ist es.
Ich stehe vor einer Baracke, ganz ähnlich den Gebäuden daneben. Die Türen sind geschlossen.
Hier ist es, dass so viele menschliche Versuchskaninchen von sogenannten Ärzten misshandelt wurden. Von Ärzten, deren Weg meine Großväter, die beide in diesem erbärmlichen Lager umkamen, vielleicht kreuzten.
Hier ist es, dass der bekannteste von ihnen – Josef Mengele – wissbegierig Zwillingspaare beobachtete, sie anschließend tötete. Und obduzierte.
Obduzieren, um zu sehen.
Um etwas zu finden.
Um etwas zu verstehen. Sehen, finden, verstehen – aber was?
Ich stehe erschüttert, stumm, versteinert, vor diesem Ort des Grauens.
Hinter diesen Mauern, diesen geschlossenen Fenstern, diesen verriegelten Türen, höre ich die Schreie, das Schluchzen.
Ich ahne die ausgezehrten Leiber, die sich vor Schmerzen krümmen, flehen. All die quälenden Bilder, die die Geschichte dieser Epoche in sich trägt.
Ich befinde mich in Auschwitz-Birkenau.
Es ist eine Reise in die Vergangenheit, eine persönliche |8|Pilgerfahrt, die ich unzählige Male weggeschoben habe.
Hier, vor diesem Gebäude, versteht mein Medizinerherz die Welt nicht mehr.
Wie kann jemand einen Beruf ergreifen, dessen Anliegen es letztlich ist, Leben zu retten, und dann Wesen töten, die man nicht einmal mehr als Menschen betrachtet?
Ich weiß, diese Frage ist naiv und einseitig, aber ich muss sie stellen. Ich will es wissen.
Wieder und wieder habe ich gelesen, wie andere das Unerklärliche zu erklären versuchen.
Doch hier, am Ort des Verbrechens, sehe ich.
Keine Analysen mehr. Keine Erklärungen.
Nur noch Entsetzen.
Stellvertretendes Grauen.
Zeugnis ablegen.
Ein Wort. Ein Gefühl. Schlagartig spüre ich an diesem Tag den Befehl. Zugleich befällt mich der Eindruck, etwas Ungehöriges zu tun. Wovon werde ich Zeugnis ablegen – ich, der ich all das nicht selbst erlebt habe? Worüber werde ich sprechen?
Über meine Gefühle? Meine moralische Qual?
Was ist sie schon, verglichen mit denen, die sich tatsächlich hinter diesen Mauern befanden?
Doch aufgrund meines Berufs, aufgrund dieses Teils meiner Familie, den ich nie kennengelernt habe, spüre ich trotz allem eine Notwendigkeit, eine Aufforderung.
|9|Jahre nach jener Reise hat sich das Gefühl der Ungehörigkeit gewandelt.
Ergänzt wurden meine Erinnerungen durch Negationismus, Revisionismus, abstoßenden „Humorismus“, all die beiläufigen sibyllinischen Sätze, die ich hörte: „Was sie getan haben, war zwar nicht richtig, aber immerhin hat es die Medizin vorangebracht …“
Und wenn es wahr wäre? Unmöglich. In meinem rationalen wissenschaftlichen Denken, meinem von Ethik geprägten bescheidenen Medizinerhirn, gründet der Fortschritt der Heilkunst nicht auf Grauen.
Ich redete mir ein, Folterknechte wie diese seien allesamt unfähige Mediziner. Von ihren Kollegen ausgegrenzt, von den Hochschulen blamiert, entdeckten sie endlich eine Möglichkeit zu beweisen, dass man sich in ihnen irrte.
Sie wollten den Professoren zeigen, dass auch sie, die sie als Taugenichtse belächelten, am Wahnsinn des Dritten Reichs mitwirken konnten.
Sie wollten etwas finden, das es dem deutschen Volk ermöglichen würde, das „gesündeste“ Volk in der gesamten Geschichte der Menschheit zu sein.
Viele Jahre lang wollte ich dieses Buch schreiben.
Meine Vorurteile auf die Probe stellen.
Beweisen, dass all das wertlos war.
Dass alles unnütz war. Unerträglich unnütz. Als der Druck allzu groß wurde, als ich zu viele Stimmen immer lauter sagen gehört hatte, jene Experimente hätten vielleicht doch dem wissenschaftlichen Fortschritt |10|gedient, sortierte ich meine Unterlagen und begann zu schreiben.
Die Wirklichkeit ist schlimmer, als ich sie mir vorstellte. Sie waren nicht allesamt wahnsinnig, diese Ärzte des Grauens, und sie waren nicht alle inkompetent.
Und die Ergebnisse jener Versuche, über die beim Nürnberger Ärzteprozess die Fachleute debattierten, diskutierten? Waren sie zu etwas nütze? Wurden sie nach dem Krieg von den Alliierten verwendet? Was wurde aus denen, die man „ausschleuste“?
Das ist es, wovon ich sprechen will.
Ich erhebe keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich bin kein Historiker.
Nur Arzt.
Einer, der Kenntnisse weitergibt. Ein Populärwissenschaftler.
Und als solcher wollte ich berichten, wie es war. Das haben vor mir schon andere auf andere Weise und besser getan, aber ich glaube, dass es in diesem Bereich nie zu viel des Guten geben kann.
Dieses Buch ist mein bescheidener Baustein für das brüchige Gebäude der Erinnerung an alle diejenigen, die den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Opfer gefallen sind.