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„Ich experimentiere an Menschen, nicht an Meerschweinchen oder Mäusen.“
ОглавлениеSigmund Rascher
Hypoxie und Hypothermie – Sauerstoffmangel und Unterkühlung – sind die Hauptgefahren für Flieger. In einer luftdichten Flugzeugkabine kann der menschliche Körper theoretisch jede Höhe aushalten, doch im Krieg bleiben die Kabinen nicht lange dicht. Deutsche Flieger starben in den eisigen Armen der Nordsee und des Ärmelkanals an Hypoxie beziehungsweise Hypothermie, sogar dann, wenn sofort Hilfe eintraf. Es fehlte an Erkenntnissen. Vor allem ein gewisser Dr. Weltz in Hirschau unweit von Dachau hat zwar einige Experimente durchgeführt, aber nun müsste man weitere Versuche an größeren Tieren wie Affen vornehmen, damit die Forschung in gehörigem Maße vorankommt. Doch aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt aufgrund der Tierschutzgesetze von 1933 und 1935, ist in den Labors kein einziger Schimpanse zu finden. Angesichts der Luftschlacht um England und des Russlandfeldzugs werden die Fragen zur Hypoxie und Hypothermie immer drängender. In der |32|Not frisst der Teufel Fliegen, sagte man früher ergeben, ganz im Einklang mit der alten unterwürfigen Gesinnung, doch Himmler hat der Ärzteschaft Besseres zu bieten: Anstatt an Affen dürfen die Forscher an Gefangenen experimentieren. Er antwortet Rascher deshalb: Ich kann Ihnen mitteilen, dass Häftlinge für die Höhenflugforschung selbstverständlich gern zur Verfügung gestellt werden.2 Manche Helden der Lüfte starben im Meer, andere in der Luft, etwa hundert von ihnen am Boden, ohne überhaupt fliegen zu können, im finsteren Block, den man Rascher für seine widerlichen Versuche zuwies.
Schon bald zieht Rascher es vor, allein zu arbeiten – vielleicht aus Lust am Geheimnisvollen, sicher auch aus Angst vor Fehlschlägen. Dennoch bittet er den Lagerarzt um Unterstützung und drängt schließlich Himmler zu einem Besuch, denn seine Ergebnisse würden ihn „außerordentlich interessieren“.
Die von mir selbst und Dr. Romberg durchgeführten Versuche haben Folgendes ergeben: Der Sauerstoffmangel bzw. der niedere atmosphärische Druck haben im Fallschirmsinkversuch weder aus 12 km noch aus 13 km Höhe tödlich gewirkt. Es wurden insgesamt 15 Extremversuche dieser Art angestellt […]. Es trat schwerste Höhenkrankheit mit Bewusstlosigkeit auf, jedoch stets völlige Aktionsfähigkeit, wenn etwa 7 km Höhe im Abstieg erreicht war.
Weder die Qualen seiner Opfer, deren Schreie offenbar weit über den Block hinaus zu hören waren, noch das völlige Fehlen wissenschaftlicher Strenge bei der Auswahl seiner Versuchspersonen, und schon gar |33|keine ethischen Bedenken hindern den Arzt daran, die 12-Kilometer-Grenze zu überschreiten und Sauerstoff zu entziehen. Schon bald (in weniger als zehn Minuten) wird das Opfer bewusstlos, seine Atmung verlangsamt sich auf drei Atemzüge pro Minute und hört dann ganz auf. Nun ist eine ausgeprägte Cyanose erkennbar, der Schaum vor dem Mund trocknet, das EKG zeigt keine Herztätigkeit mehr. „Ruhe in Frieden“, möchte man diesem Mann wünschen, über den wir nicht mehr erfahren als Raschers rassistische Äußerung, es handle sich um einen „37-jährigen Juden in gutem Allgemeinzustand“. Doch nicht einmal Frieden bekommt er, denn kaum eine Stunde später zückt der Doktor sein Skalpell für die Sektion. Ebenso sachlich wie unhaltbar schildert er, wie er den Brustkorb aufbricht, wie sich gelbliche Flüssigkeit im Strahl aus dem Herzbeutel entleert und das Herz (als Reflex auf die beseitigte Tamponade) wieder zu schlagen beginnt. Daraufhin eröffnet er den Schädel und entnimmt das Gehirn, das ein massives Ödem aufweist. Das Herz schlägt noch acht Minuten weiter.
Ein so grauenhaftes Geschehen bedarf keines Kommentars. Wer diese Zeilen liest, kann sich des Gefühls von Ekel, Entrüstung, sogar Wut nicht erwehren, doch Dr. Rascher beschließt seinen Bericht seelenruhig mit den Worten:
Die anatomischen Präparate werden konserviert, um zu einer späteren Auswertung durch mich vorhanden zu sein. Meines Wissens ist der letztgeschilderte Fall der erste beobachtete dieser Art beim Menschen überhaupt. Wissenschaftlich gewinnt der oben geschilderte Herzvorgang noch |34|besonderes Interesse, da ich die Herzaktion bis zum Schluss mit EKG mitgeschrieben habe.
Die Versuche werden weitergeführt und noch weiter ausgebaut. Nach Erlangung neuer Ergebnisse wird ein weiterer Zwischenbericht erfolgen.
In der Tat werden die Versuche weitergeführt und ausgebaut, denn Himmler ist hingerissen. Tief beeindruckt von dem, was er für eine Wiederbelebung hält, fragt er an, ob es nicht möglich ist, […] derartige Menschen wieder ins Leben zurückzurufen.
Großer Gott, er fügt sogar noch hinzu: Sollte ein solcher Versuch des Zurückrufens in das Leben gelingen, so ist selbstverständlich der zum Tode Verurteilte zu lebenslänglichem Konzentrationslager begnadigt […] Freundliche Grüße und Heil Hitler!
Da Versuche in den größten Höhen den sicheren Tod zur Folge haben, befasst sich Dr. Rascher bei seinen Versuchen, sie „ins Leben zurückzurufen“, mit einem anderen Problem, das nicht nur Flieger betrifft, sondern auch Seeleute oder Soldaten an der Ostfront: Unterkühlung. Es wurde noch Ende der 1980er-Jahre diskutiert, doch zu Raschers Zeit ging es um den Vergleich der Überlebenschancen zum einen bei schneller Wiedererwärmung (im heißen Wasserbad) und zum anderen bei langsamem Aufwärmen (beispielsweise durch menschliche Körperwärme). Aus wissenschaftlicher und historischer Sicht ist die Erforschung der Hypothermie deshalb durchaus gerechtfertigt, keinesfalls jedoch am Menschen. Ich bat meinen Kollegen Xavier Bigard um seine Einschätzung. Wie er mir schrieb, hätte man die Fragenstellungen genauso gut |35|anhand vorangegangener Versuche beantworten können, die unter wissenschaftlich einwandfreien Bedingungen an Tieren erfolgt waren (gemeint sind die Ende des 19. Jahrhunderts von Lepczinsky durchgeführten Arbeiten über Notfallmaßnahmen bei Unterkühlung). All diese Versuche, deren Modelle zum Teil dem pelzlosen Menschen physiologisch sehr ähnlich waren (etwa am Schwein) führten zu genau denselben Schlussfolgerungen, wie man sie im Lager unter ethisch unannehmbaren Bedingungen erzielte. Das wussten die deutschen Forscher durchaus (wahrscheinlich auch Rascher, der zwar hierfür kein Experte war, sich aber in die Materie eingelesen hatte), denn in Hirschau unweit von Dachau führte man Unterkühlungsversuche an Tieren durch. Allerdings lag über dem Forschungszentrum Hirschau der Schatten des Dr. Weltz, der dort unter der Hand womöglich selbst an Menschen experimentierte.
Natürlich hielt Himmler nicht Wort (wobei man sich natürlich fragen könnte, ob ein lebenslanges Eingesperrtsein in einem NS-Lager einem schnellen Tod wirklich vorzuziehen gewesen wäre). Die Unterkühlungsversuche waren womöglich noch qualvoller als die Höhenversuche. Um die Blutwerte nicht zu verfälschen, achtet Rascher strikt darauf, dass seine Opfer nicht etwa betäubt wurden. Er führt zwei Versuchsreihen mit trockener und mit feuchter Kälte durch. Im Rahmen der Trockenunterkühlung setzt er seine Versuchskaninchen einfach in Lumpen oder völlig nackt im Freien dem deutschen Winter aus. Weil die Erfrierungsopfer furchtbar brüllen, bittet Rascher |36|Himmler, die Versuche nach Auschwitz verlegen zu dürfen, wo mehr Raum zur Verfügung stehe. Für die andere Versuchsreiche füllt man ein zwei mal zwei Meter großes Becken mit Wasser und hält dieses durch Zugabe von Eis konstant auf 2°C. Einige der Männer, die man dort eintaucht, tragen Fliegermontur und Schwimmweste, andere sind nackt. Mit Unterstützung von Professor Holzlöhner als Zeitnehmer überwacht Rascher mit einem überlangen Spezial-Stethoskop Herz und Atmung der Versuchspersonen direkt im Wasser. Von Zeit zu Zeit holt man die Männer heraus und misst ihre Körpertemperatur, nach Möglichkeit rektal. Wer überlebt kommt in den Genuss einer Sonderbehandlung: Manche wirft man einfach auf eine Matratze, andere hüllt man in Decken, wieder andere legt man zwischen Prostituierte. Himmler und in seinem Gefolge auch Rascher sind nämlich überzeugt, animalische Wärme – die Lebenskraft – sei für die Wiedererwärmung das Beste. Obendrein betätigen sich die feinen Herren auch noch als Spanner, indem sie die Ärmsten zum Koitus auffordern. Nicht, dass viele von ihnen nach einer solchen Behandlung überhaupt dazu in der Lage sind!
Es kommt zu einem Miniatur-Drama, einem tragikomischen Vorfall: Eine der Prostituierten ist nicht nur hübsch, sondern blond und blauäugig. Rascher ist entrüstet, dass eine junge Arierin den Häftlingen zu Diensten sein soll, und erwirkt bei Himmler ihren Ausschluss aus dem Versuch. Der Abschlussbericht des Nürnberger Prozesses führt insgesamt 13 Todesopfer |37|dieser Experimente an, doch dürften es erheblich mehr gewesen sein.
Doch selbst in solchen Situationen glimmt stets ein Hoffnungsschimmer. Es gab Überlebende, deren spätere Zeugenaussagen erschreckend beredt waren. Hendrik Bernard Knol wurde als etwa 20-Jähriger im August 1942 in Dachau interniert. Er musste zwei Experimente über sich ergehen lassen: einen Höhenlagenversuch und einen Unterkühlungsversuch. Nach der Befreiung sagt er beim Amt für die Ermittlung von Kriegsverbrechen in Amsterdam aus:
Eines Morgens befahl man mir, Eisblöcke von einem Lastwagen abzuladen und in ein wassergefülltes Bassin zu werfen. Wozu das dienen sollte, verstand ich nicht, aber das wurde mir kurz darauf klar. Als ich mit dieser Arbeit fertig war, entnahm ein Arzt mir Blutproben; das war im Februar 1943. Abends um neun Uhr musste ich mich auszuziehen. Man legte mir eine Schwimmweste und verschiedene Instrumente an, die ich nicht kannte. Himmler war persönlich bei den Vorbereitungen behilflich, sein Hund war auch dabei. Plötzlich erhielt ich einen Fußtritt und fiel ins eiskalte Wasser. Als ich mich darin befand, fragte mich Himmler, ob ich rot oder grün sei.3 Ich sagte ihm, ich sei rot. Daraufhin erwiderte er: „Wären Sie grün, hätten Sie eine Chance gehabt, frei zu kommen.“
Ich weiß nicht, wie lange ich im Eiswasser war, oder was mit mir geschah, denn ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Bett zwischen zwei splitternackten Frauen, die mich zum Geschlechtsverkehr zu animieren versuchten, aber vergeblich.
Als ich wieder ganz bei Sinnen war, trug man mich auf |38|die Krankenstation, wo ich drei Tage gut versorgt wurde. Dann nahm ich meine Arbeit wieder auf. Kurze Zeit später hatte ich eine Entzündung an den Zehen und wurde erneut auf die Krankenstation geschickt. Nachdem das verheilt war, etwa im Sommer 1943, rief man mich wieder und zog mir eine komplette Fliegeruniform an. Man legte mir eine Schwimmweste und die gleichen medizinischen Instrumente an wie beim ersten Mal. Dann stieß man mich erneut in ein Becken mit Eiswasser. Ich wurde bewusstlos, und als ich zu mir kam, lag ich in einem heißen Bad. Meine Brust war ganz aufgebläht. Dann legte man mich in eine Art horizontale Kiste, in der es furchtbar heiß war. Ich schwitzte stark. Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Kiste war. Danach lag ich drei Tage lang im Bett und nahm dann meine Arbeit wieder auf.
Einer so präzisen und packenden Schilderung ist nicht viel hinzuzufügen, es sei denn, dass die genannten Instrumente den Kern des ethischen Problems darstellen, das später zu Tage kam. Im Gegensatz zu den Höhenlagenversuchen wurden diese Experimente nämlich mit der erforderlichen wissenschaftlichen Strenge durchgeführt, um verwertbare Resultate zu erhalten. Mehr noch: Während unethische Experimente normalerweise im Verborgenen stattfinden, führte Rascher seine Versuche mit Unterstützung des damaligen Staates durch. Der Gutachter Leo Alexander, der nach der Befreiung mit der Aufklärung beauftragt wurde, fand selbst im zerstörten Labor noch Berge gut dokumentierter Ergebnisse. Der renommierte Dr. Alexander schloss seinen Bericht mit den erschreckenden Sätzen:
|39|Man muss einräumen, dass Dr. Rascher sich blutrünstig verhielt (Autopsie unmittelbar nach der Tötung der Probanden) und sich an Obszönem ergötzte (er ließ die Erfrierungsopfer im Bett zwischen nackten Frauen sterben, um die vergleichsweise Ineffizienz dieser Erwärmungsmethode zu beweisen, maß jedoch bereitwillig die Rektaltemperatur derjenigen, die sich so weit erholten, dass sie den Beischlaf ausüben konnten). Immerhin löste er offensichtlich die Frage, wie man einen Kälteschock am sinnvollsten behandelt.
Abläufe, die zum Tode führen, die besten Methoden, um einen Mann wieder zu erwärmen, die Wirkungslosigkeit des bis dato eingesetzten Ethanols – zu all diesen Fragestellungen liefern die Dachauer Experimente Erkenntnisse, auch wenn Tierversuche, wie wir ja wissen, ausgereicht hätten. Stellen Sie sich die Situation vor: Was würden Sie tun? Vor allem im Hinblick darauf, dass einige der Opfer ja einer Verwertung der Versuchsergebnisse zugestimmt haben? Was würden Sie tun, wenn Sie erführen, dass einige dieser Forscher ihre Talente anschließend in den Dienst der größten Demokratien stellten?4
Sigmund Rascher wurde ebenso wie seine Frau im Frühjahr 1945 kurz vor der Befreiung auf Befehl Himmlers verhaftet. Es heißt, der Reichsführer war sehr erbost darüber, dass ihm das teuflische Paar nicht nur eine, sondern gleich mehrere Kindsgeburten vorgegaukelt hatte. Manchmal sorgt die Geschichte selbst für ausgleichende Gerechtigkeit: Nach einem Fluchtversuch wurden Rascher und seine Frau von der SS getötet.