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„Menschenmaterial“

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Sigmund Rascher

Von München nach Dachau sind es nur rund zehn Kilometer, doch trennen Welten die quirlige bayrische Großstadt vom ältesten Konzentrationslager Deutschlands. Die Idee dazu hatte ein Mann aus der Region: Heinrich Himmler, Hitlers rechte Hand. Sein Name lässt an den Himmel denken, doch in seinem Kopf fehlte es nie an teuflischen Ideen. Auf seine Anordnung hin beschmutzt ein schwankendes Gefährt, genau gesagt ein Kohlenlastwagen, im eisigen Februar 1944 den jungfräulichen Schnee. Unter strikter Geheimhaltung befördert er schweres Frachtgut durch die triste schwarzweiße Landschaft zu einem nicht minder tristen Bestimmungsziel – dem Lager Dachau. Die aufrecht stehende lange Kiste ähnelt einem Sarkophag, wären da nicht die großen Schalthebel, mit denen man das gruftartige Gebilde luftdicht verriegelt, den Druck in seinem Innern regelt und damit kontrollieren kann, in welchem Maß der darin Eingeschlossene die Hölle durchleidet.

Glücklicher Empfänger der Fracht ist Dr. Sigmund Rascher, ein untersetzter kleiner Herr, dessen rotes Haar trotz seiner Jugend bereits schütter wird. Zehn |24|Tage zuvor hat er seinen 39. Geburtstag gefeiert, und Himmler hätte ihm kein schöneres Geschenk machen können als diese wundervolle Dekompressionskammer inklusive sämtlicher Genehmigungen, die er für die Unterdruckexperimente braucht, von denen er träumt und die ihm seine Kollegen bisher stets verweigerten. Seit seinem Militärdienst bei der Luftwaffe liebt und bewundert Rascher die Fliegerei. Das Problem ist nur, dass die feindliche Royal Air Force deutsche Flugzeuge zwingt, in immer größere Flughöhen auszuweichen. Bei einem Notausstieg aus dem Cockpit sind die Piloten immer gewaltigeren Druckund Temperaturunterschieden ausgesetzt, denen der menschliche Körper nicht standhält. Viele verunglückte Piloten sterben. Ihre Leichen weisen geplatzte Trommelfelle auf, Gehirn und Lunge sind voller Flüssigkeit und das Herz ist in keinem viel besseren Zustand. Natürlich stellt sich die Frage nach der Todesursache. Theoretisch kann ein Mensch jede gewünschte Höhe erreichen – vorausgesetzt, er befindet sich in einem Flugzeug mit luftdichter Kabine. Wird diese jedoch zerstört, ist der Körper entsprechend der Höhe Unterdruck, Kälte und Sauerstoffmangel ausgesetzt. Die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt in Berlin-Adlershof wird beauftragt, die Physiologie von Herz und Atmung in großer Höhe zu erforschen. Die Medizin weiß in dieser Zeit zwar, wie sich Höhen bis 8000 Meter auf den menschlichen Körper auswirken, doch alles darüber hinaus ist so gut wie Neuland. Die Versuchsanstalt hat natürlich Experimente an Tieren durchgeführt, doch zum einen kann man diese schwerlich |25|dazu bringen, einen Fallschirm zu öffnen, und zum anderen sind Tierversuche ja per Gesetz verboten.

Der ehrgeizige junge Forscher Rascher verpasst kein Kolloquium über dieses Thema und macht 1941 sogar eine flugmedizinische Fachausbildung. Die Flugmedizin an sich ist faszinierend, zumal die Fliegerei in dieser Zeit buchstäblich als Pilotprojekt gilt. Es geht darum, Menschenleben zu retten, indem man die Grenzhöhe auslotet, oberhalb derer kein Überleben mehr möglich ist. Piloten sollen dadurch unter anderem Vorgaben erhalten, bis zu welcher Höhe sie mit dem Schleudersitz aussteigen können und wann sie ihren Fallschirm öffnen müssen. In diesem Bereich tritt die Medizin auf der Stelle, obwohl Tag für Tag deutsche Piloten sterben, während die Briten immer mehr an Flughöhe und Terrain gewinnen (wie ihnen das gelang und was sie wussten, werden wir später noch sehen).

Dass er hierfür ein Konzept hat, lässt Rascher in seinem umfangreichen Briefwechsel mit Himmler durchblicken. Um Zeit zu sparen (und somit mehr deutsche Piloten zu retten), müsse er jedoch seine Versuche direkt am Menschen vornehmen. Offen bittet er Himmler um ein paar zum Tode verurteilte Sträflinge. Mit ihrer Hilfe könne die Flugmedizin einen spektakulären Sprung machen – nach vorn, meint Rascher, nach hinten, meinen viele seiner Forscherkollegen, die damals viele Vorbehalte haben.

[Es] wurde mit großem Bedauern erwähnt, dass leider noch keinerlei Versuche mit Menschenmaterial bei uns angestellt werden konnten, da die Versuche sehr gefährlich sind |26|und sich freiwillig keiner dazu hergibt. […] Dafür stelle ich die ernste Frage, ob zwei oder drei Berufsverbrecher für diese Versuche von Ihnen zur Verfügung gestellt werden können? (Brief Raschers an Himmler vom 15. Mai 1941).

Himmler lässt sich bereitwillig von der Stichhaltigkeit der Theorien dieses jungen Arztes überzeugen, der ihn mit Briefen überschüttet und ihn hofiert. In jedem Schreiben nennt er ihn „hochverehrter Reichsführer“ und bekräftigt stets seine Dankbarkeit, seine Ergebenheit dem Führer, vor allem aber Himmler gegenüber. Doch auch wenn seine Briefe von Unterwürfigkeit und Ehrgeiz nur so strotzen, ist das noch kein Verbrechen, und Schmeicheleien werden ja oft dick aufgetragen. In Raschers Jugend jedenfalls deutet noch nichts auf seine späteren Gräueltaten hin.

Wer ist eigentlich dieser Dr. Rascher?

Zufällig blieb ein Lebenslauf erhalten, den er anlässlich der Bewerbung als Lehrbeauftragter an der Universität eingereicht hatte. Geboren wurde er in München, Vater und Onkel waren Ärzte. Seinen großen Bruder, der Musiker ist, mag er nicht, auf seinen Vater blickt er herab. Mit seinem Onkel versteht er sich besser. Sein Leben verläuft vermutlich in klassischen Bahnen. Er absolviert erfolgreich ein Medizinstudium an den sehr angesehenen Hochschulen München und Freiburg. 1936 wird er Facharzt für Chirurgie, doch es zieht ihn eher in die Forschung. Er wird Gehilfe von Professor Trumpp und assistiert ihm bei hämatologischen Untersuchungen. Auf der Grundlage dieser Arbeiten interessiert er sich später in Dachau für die Entwicklung der blutstillenden Substanz Polygal, die das |27|Leben deutscher Soldaten retten soll. Wie viele junge Deutsche interessiert sich auch Rascher für Politik, für den „neuen Menschen“, den diverse Regimes heranzüchten wollen. Wie für die meisten Mediziner dieser Zeit ist dieser neue Mensch auch für Rascher Nationalsozialist: 1933 wird er Parteimitglied, 1936 tritt er der SA bei. Bis hierher ist Sigmund Rascher ein „Mann der Stunde“, dessen persönliche Ambitionen voll und ganz in seine Zeit passen, die ihn formt und ihn letztlich zum Ungeheuer werden lässt. Aus dieser Lebensphase gibt es von ihm ein Ausweisfoto: Man sieht darauf einen „normalen“ jungen Mann, nicht mittelmäßig, aber durchschnittlich, adrett frisiert mit Seitenscheitel, noch ein wenig linkisch im Anzug mit ungeschickt gebundener Krawatte. Wie viele andere junge Deutsche der 1930er-Jahre ist auch er ehrgeizig und fürchtet, seinen Ansprüchen nicht gerecht zu werden; er träumt vom Übermenschen und möchte ein guter Arier sein, quält sich jedoch mit der verworrenen Sorge, er könnte schlicht und einfach … ein Nichtsnutz sein. Ich suche in keiner Weise nach Entschuldigungen für einen Mann, der in meinen Augen ein Schuft ist, aber gerade Rascher wurde meiner Meinung nach durch Umstände und Umfeld geprägt – angefangen mit seiner Ehefrau und Himmler. Es gibt viele Möglichkeiten, ein Dreckskerl zu sein oder zu werden, in Raschers Fall sogar ein Monstrum; der Schmutz, mit dem man sich aufgrund äußerer Umstände besudelt, ist meiner Meinung nach weder die abstoßendste noch die gefährlichste dieser Kategorien. Rascher verfällt dem Wahn zur gleichen Zeit wie sein |28|Land: zunächst 1933, als er in die Partei eintritt, dann 1939, als er die Bekanntschaft eines Blauen Engels in den Wechseljahren macht, einer Lili Marleen von weit über vierzig, die sich Nini rufen lässt. Die Schlagersängerin Karoline Diehls haucht ihm ins Ohr „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“1, macht ihn mit Himmler bekannt und sorgt dafür, dass er seiner Karriere zuliebe zur SS wechselt. Höchstwahrscheinlich Himmlers Ex-Geliebte, setzt sie ihre Talente nun für das private und berufliche Glück Sigmund Raschers ein. Wie hypnotisiert gehorcht er, steigt auf und verkauft dabei seine Seele.

Seine Kollegen im Lager Dachau schildern ihn als aufgesetzt jovial und übereifrig, aber nicht als grausam. Rascher war der Typ, der lächelnd seine Zähne zeigte, aber niemals zubiss. Einer seiner Assistenten, Walter Neff, beschreibt ihn als vergleichsweise nett im Umgang mit denjenigen, die das Pech hatten, ihm als Versuchskaninchen zu dienen. Grausamkeit ist ihm offenbar ebenso fremd wie Mitleid. Weil er das Richtige tun will, oder lediglich, um von seinem Umfeld respektiert zu werden? Als einer der Lagerwärter ihm Deportierte anstelle der angeforderten zum Tode verurteilten Häftlinge bringt, weigert er sich, mit dem Experiment zu beginnen, denunziert jedoch den Bewacher, der von seinem Vorgesetzten prompt in ein anderes Lager versetzt wird. In Sachen Denunziation ist Rascher ohnehin immer vorneweg. 1939 liefert er seinen eigenen Vater der Gestapo aus, doch der angesehene Münchner Arzt erweist sich als völlig unbescholten, sodass die Gestapo ihn nach fünf Tagen laufen lässt. Doch das |29|kümmert Rascher keineswegs: Er denunziert seinen Vater erneut, dieser wird wieder verhaftet, wieder freigelassen.

Willenlos und ohne jedes Mitgefühl fletscht Rascher knurrend die Zähne, ist aber zu allem bereit, um Herrchen Himmler und Frauchen Diehls einen Knochen zu schenken. Denn der Reichsführer ist nicht sein alleiniger Herr: Auch Nini Diehls führt ihn an der Leine, berät ihn, manipuliert ihn. Rascher hat das Herz eines Hundes, vor allem aber das eines Schoßhündchens.

In seinem Privatleben ebenso wie im Beruf schiebt er die Grenzen von Wissenschaft und Ethik immer weiter hinaus. Weil er und seine Frau unfruchtbar sind, stehlen sie Neugeborene: Ihren kriminellen Machenschaften entspringen drei „Söhne“. Jedes Mal entfaltet sich das gleiche Szenario, geradezu wie in einer griechischen Tragödie: frohe Überraschung der werdenden Eltern, ein Brief an Himmler, Kissen und anderer Mummenschanz. Nach neun Monaten schließlich endet die Farce, man gibt das freudige Ereignis bekannt und Himmler schickt Pralinen für die ganze Familie. Wie die haarsträubende Posse im Einzelnen ablief, wurde nie restlos geklärt. Manche meinen, die Raschers hätten die Säuglinge bei sich „aufgenommen“, denn in Kriegszeiten mangelt es ja nicht an Waisen und ausgesetzten Kindern. Andere glauben eher, dass die Hausangestellte der Raschers als „Leihmutter“ fungierte. So oder so gründeten die Raschers eine Art Krippe für arische Kinder – sozusagen einen Lebensborn im Kleinen. Nini Diehls wurde damit zur |30|ältesten jungen Mutter im Deutschen Reich, und das mit über fünfzig, was damals an ein Wunder grenzte – oder einfach unerhört war. Diese Dinge gaben letztlich den Anstoß zum Untergang des Hauses Rascher, aber darauf komme ich noch zurück.

Eines der bekanntesten Fotos zeigt einen lächelnden Rascher mit Stirnglatze, die spiegelglatt rasierte Wange eng an den eingemummten Babykörper eines seiner drei Jungen geschmiegt. Ich finde gerade dieses Foto sehr eindrucksvoll und aufschlussreich. Denn während der Arzt in seiner schicken Uniform entzückt und voller Stolz in die Kamera blickt, greint der Säugling entsetzt. Natürlich konnte man ein solches Foto damals nicht wie heute einfach löschen und ein neues knipsen, doch zeigt die Aufnahme ganz unbeabsichtigt die in Wahrheit abscheuliche Situation.

An zum Tode verurteilten Häftlingen jedenfalls herrscht Anfang der 1940er-Jahre in Deutschland keinerlei Mangel, und Himmler ist von der Notwendigkeit von Menschenversuchen zutiefst überzeugt. Das Hauptproblem besteht darin, den Widerstand der Ärzteschaft zu überwinden und die besagte Unterdruckkammer zu beschaffen. Rascher kann seine Ungeduld kaum bezähmen, doch seine Kollegen sehen seinen Tatendrang eher kritisch. Erst als die Skepsis der Mediziner zum Verstummen gebracht ist, was selbst Himmler einige Zeit kostete, darf Dr. Rascher als Forscher in Dachau endlich die Experimente durchführen, von denen er schon lange träumt. Er hat freie Hand. Seine Mission: aus einem Konzentrationslager heraus Menschenleben retten.

Hippokrates in der Hölle

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