Читать книгу Im Netz der Macht - Michelle Mommertz - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеEs war über 20 Jahre her, dass er diese Worte aus ihrem Mund vernommen hatte. Er war damals gerade mal 16 Jahre alt gewesen und hatte nicht viel vom Leben zu erwarten. Sein Vater war nur selten Zuhause, den Rest der Zeit trieb er sich irgendwo herum, hatte keine Arbeit und verdingte sich mit illegalen Geschäften, die jedoch viel zu wenig einbrachten, um eine 6-köpfige Familie zu ernähren. Um etwas dazu zu verdienen, arbeitete seine Mutter in der nahegelegenen Tankstelle als Aushilfe. Miguel war der Zweitälteste, und da sein älterer Bruder sich bereits mit 15 aus dem Staub gemacht hatte, fiel es ihm zu, sich um seine jüngeren Geschwister zu kümmern. In der kleinen Wohnung teilten sich alle Kinder ein Zimmer, es war das reinste Chaos, weil seine Mutter nach der Arbeit nur noch die nötigste Hausarbeit verrichtete, wie etwa Essen zu kochen. Zur Schule war er schon seit einem Jahr nicht mehr gegangen und traf sich oft mit anderen aus seiner Gegend im Park, wenn seine Geschwister vormittags zur Schule gingen. Die anderen Jungs waren älter als er und arbeitslos, weil sie genau wie er entweder nicht die Möglichkeit hatten oder die Möglichkeit nicht ergriffen, die Schule zu Ende zu machen oder sich mit den falschen Menschen eingelassen hatten. Es war eine Art Ausblick auf seine eigene Zukunft, doch er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. In seinem Viertel war das nun mal so. Seine Mutter brauchte seine Hilfe, und er würde schon noch Arbeit finden irgendwo. Eine Zeitlang hatte er auch in der Tankstelle gearbeitet, aber der Chef hatte ihn und seinen Kumpel Tony erwischt, wie sie Alkohol mitgehen ließen. Miguels Mutter hatte ihn immerhin dazu überredet, nicht die Polizei zu rufen, aber seinen Job war er natürlich los. Seine Ambitionen, sich eine neue Stelle zu suchen waren gleich null. Das Problem ist, dass er ganz und gar nicht dumm ist und ihn die meisten Jobs unterforderten, er fühlte sich zu klug, um dieses oder jenes zu tun. Nach einiger Zeit hörte er jedoch auf, darüber nachzudenken, was er aus seinem Leben hätte machen können. Er gehörte nun einmal nach hier, und Leute von hier brachten es eben zu nichts. Tony hatte ihn einigen Kleinkriminellen vorgestellt, die planten einen Supermarkt auszurauben. Als sie ihm anboten, mitzumachen, hatte er bloß zustimmend mit den Schultern gezuckt, und ehe er sich versah, war er mitten drin gewesen. Beim ersten Überfall lief alles glatt, sie teilten das Geld, niemand wurde verletzt und die Polizei hatte keine Spur von ihnen. Auch die darauffolgenden Einbrüche liefen wie geschmiert. Dann hatten sie es auf einen anderen Supermarkt abgesehen, aber der Ladenbesitzer zog unerwartet eine Waffe und erwischte einen von ihnen mit einem Streifschuss am Arm. Dieser hatte sie alle verpfiffen, und sie mussten Sozialstunden leisten. Alle hatten ein Auge auf die hübsche blonde Betreuerin geworfen, die ihnen die geleistete Arbeit bestätigen musste. Sie war Anfang dreißig und ließ sich nur zu einem ironischen Lächeln herab, als die Jungs einer nach dem anderen versuchten, sie mit halbstarken Sprüchen anzumachen. Miguel hatte sein Glück nicht versucht, sie war ihm zu arrogant und zickig, wie er großspurig behauptete. Seine Freunde brachen in Gelächter aus, nicht etwa weil sie seine Aussage amüsant fanden, vielmehr weil Frau Sislack, so hieß die Dame, direkt hinter ihm stand, als er sich über sie ausließ. „Wie wäre es, wenn du mitkommst und mir noch einmal haargenau erklärst, warum ich- wie sagtest du- ein arrogantes Miststück bin?“, schlug sie mit einem eiskalten Lächeln vor. Miguel fühlte sich, als sei er gerade gegen eine Tür gerannt, und folgte ihr zögernd in ihr Büro. Sie schloss die Tür, bat ihn, sich zu setzen und blieb hinter ihm stehen. Es war ein unangenehmes Gefühl, so dass er sich umdrehte und ausgiebig begann, sich bei ihr zu entschuldigen, was das eingefrorene Lächeln in ihrem Gesicht jedoch nicht zum Schmelzen bringen konnte. „Sie müssen mir glauben, dass war so wirklich nicht gemeint, ich wollte doch nur vor den Jungs ein bisschen angeben…“, brachte er stockend hervor. Irgendetwas an diesem Grinsen bereitete ihm eine Gänsehaut, er konnte diese Frau nicht einschätzen. Sie war nicht wie einer der Lehrer in der Schule, die man wegen des Rauchens in der Toilette belog, irgendwie wirkte sie angsteinflößend, wie sie da so stand mit überkreuzten Armen und stahlblauen Augen, die ihn zu durchleuchten schienen. Sie nickte nur verständnislos, ging jedoch gar nicht auf seine Ausflüchte ein, stattdessen kramte sie einen Stapel Papier hervor, den sie ihm hinlegte. Dann schlich sie um den Schreibtisch und setzte sich auf die Stuhlkante. Über ihre eigenen Papiere hinweg beobachtete sie ihn, während er die erste Seite überflog. „Bearbeite die Seiten, und wir vergessen den Vorfall“, sagte sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Warum? Wofür ist das hier?“, argwöhnte er. „Eine Statistik zur Jugendkriminalität“, antwortete sie leichthin: „Ich gebe dir eine Chance glimpflich aus der Sache heraus zu kommen, entweder du nimmst sie wahr oder du lässt es.“ „Schon gut“, murmelte er und begann den Test zu bearbeiten. Ein Teil bestand aus Mathe-Aufgaben, einer aus logischen Problemen, die man lösen musste, in einem weiteren wurden allgemeine Fragen gestellt. Der nächste Part behandelte Wortspiele, die es zu lösen galt und eine Seite verlangte persönliche Angaben und die ausführliche Beantwortung bestimmter Fragen, bei welchen die eigene Ansicht zu kontroversen Themen dargelegt werden sollte. Nach knapp zwei Stunden war er fertig, Frau Sislack hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und nahm nun die Papiere an sich. „Ist aber anonym oder?“, wollte Miguel wissen, was sie bejahte. Er erhob sich, verabschiedete sich knapp und verließ das Büro.
Mehrere Male las sie seine Antworten durch und war sich sicher diesmal einen Treffer gelandet zu haben. Nach dem Maßstab dieses Tests war er hochintelligent, zudem stammte er aus zerrütteten Familienverhältnissen, so dass er mehr als geeignet war. Ohne weiter zu zögern, rief sie den Boss an: „Sislack hier, ich habe einen.“ Die vertraute Stimme antwortete: „Ich schicke sofort jemanden rüber.“ Dann war das Gespräch schon vorüber. Der Boss verschwendete niemals unnötig lange Zeit.
Am nächsten Tag klingelte es, kurz nachdem Miguels Geschwister zur Schule und seine Mutter zur Arbeit aufgebrochen waren. Miguel lag noch im Halbschlaf im Bett und hatte kein Interesse daran, die Tür zu öffnen. Entweder es war sein unzuverlässiger Vater, der seinen Schlüssel erneut verloren hatte und Hilfe brauchte, oder die neugierige Nachbarin von Gegenüber, die nie Zucker im Haus zu haben schien. So oder so, er wollte einfach weiter schlafen, doch das Klingeln hörte nicht auf. Neugierig hin oder her, aber derart penetrant würde die Nachbarin nicht an der Tür schellen. Als er das nervige Geräusch auch nicht abstellen konnte, indem er sich ein Kissen auf die Ohren presste, ging er schließlich zur Tür. Es war die blonde Sozialarbeiterin Frau Sislack. „Was wollen Sie denn hier?“, begrüßte er sie unfreundlich, was sie jedoch einfach überhörte: „Ich hab die Stunden abgeleistet und den doofen Fragebogen auch ausgefüllt.“ „Das ist richtig, genau deshalb bin ich hier. Die Ergebnisse zeigen einen ungewöhnlich hohen IQ bei dir, ich würde gerne weitere Tests bei dir machen“, erklärte sie, was ihm jedoch nur ein hämisches Lachen entlockte.“ „Vergessen Sie es“, erwiderte er Schulter zuckend. „Nun ja, dann eben anders. Entweder du kommst mit mir, oder ich vergesse, dass du bereits alle Sozialstunden abgeleistet hast und lasse dich von der Polizei bringen“, fuhr sie mit ihrem kalten Lächeln fort. „Das können Sie nicht tun“, regte Miguel sich auf und blickte sie entgeistert an. Diesmal war es an ihr, hämisch zu lachen. „Na komm, ich biete dir eine gute Gelegenheit, du solltest sie nutzen“, ihr Ton war versöhnlich, und Miguel nickte: „Meinetwegen. Ich zieh mir kurz was an.“ Er warf schnell einen Pullover über sein Shirt und schlüpfte in eine weitgeschnittene Jeans. Dann stapfte er in seine Schuhe, griff nach einer Jacke, in der sein Schlüssel steckte, und zog diese ebenfalls an. Frau Sislack ging mit ihm das Treppenhaus hinab, es waren nur zwei Etagen, was in diesen Hochhäusern ohne Aufzug ein echter Glücksfall war. Miguel ging ein wenig hinter ihr und bemerkte, dass sie zur Abwechslung mal High Heels trug, die dem tristen Hosenanzug, den sie trug, eine ganz andere Wirkung verliehen. Ihr Haar war wie üblich zu einem Pferdeschwanz gebunden. Vor der Haustür wartete ein Van, dessen Scheiben abgedunkelt waren. „Das ist Ihre Karre?“, fragte Miguel überrascht, und sie nickte halb: „Nun ja, der wurde mir gestellt mit Fahrer.“ Bevor er ihr weitere Fragen stellen konnte, ging die hintere Tür auf, und sie forderte ihn auf einzusteigen, wobei sie ihm dicht folgte und augenblicklich die Tür wieder schloss. Der hintere Teil war interessant ausgebaut, mit einer Reihe von 3 Sitzen jeweils rechts und links. Ein Gitter trennte die Fahrerkabine von dem übrigen Auto, doch bevor Miguel, das alles bemerken konnte, wurde er schon in einen Sitz gedrückt, mit Handschellen an den Sitz befestigt und eng angeschnallt. Der Wagen fuhr an, ehe er überhaupt registrieren konnte, was geschehen war. Frau Sislack setzte sich ihm gegenüber und schien die Ruhe selbst zu sein. An ihrem sadistischen Grinsen konnte er erkennen, dass sie über alles bestens Bescheid wusste. „Was passiert hier? Machen Sie mich sofort los!“; brüllte er: „Hilfe, Entführung, Hilfe!“ „Wenn du aufhörst zu schreien, werde ich dir alles in Ruhe erklären“, bemerkte Frau Sislack. „Lassen Sie mich gehen, und ich verrate es niemandem“, beharrte Miguel. Nun sprach eine andere Frau, die er bisher nicht richtig bemerkt hatte. Auch sie war Anfang Dreißig, trug ihr dunkles Haar jedoch streng nach hinten gebunden, wobei sich eine Strähne daraus gelöst hatte. „Es tut mir leid, aber ich kann dich wirklich nicht gehen lassen“, sagte sie in strengem Tonfall, der keine Widerrede duldete. Er schluckte schwer und war verwirrt, er wusste nicht, was hier vor sich ging, doch er wusste, dass es nichts Gutes sein konnte. Die Handschellen schnitten ein wenig in seine Haut, er bemerkte es allerdings kaum. „Was geht hier vor?“, fragte er nun in deutlich ruhigerem Ton. „Wir bieten dir eine einmalige Gelegenheit, etwas mehr aus deinem Leben zu machen, als mit diesen Halbstarken Supermärkte auszuräumen. Schulbildung, ein Studium, einen Job, du musst nur nach unseren Regeln spielen und kannst alles bekommen, was du möchtest“, ihr Ton war beinahe verführerisch, doch er hatte zu lange auf der Schattenseite der Gesellschaft leben müssen, um zu wissen, dass man nichts umsonst bekam. „Wer sagt, dass ich das möchte? Warum sollte ich Ihnen vertrauen?“, wollte er wissen. „Nun ja, ob du es willst oder nicht, eine Wahl hast du jetzt ohnehin nicht mehr. Alles weitere erklären wir dir, wenn wir da sind“, beantwortete diesmal Frau Sislack seine Fragen. Entrüstet wollte er erneut sämtliche Fragen heraus schreien. Bevor jedoch ein einzelner Ton seine Kehle verlassen konnte, gab sie ihm eine Ohrfeige. Mit offenem Mund starrte er sie an, als sie Schulter zuckend erklärte: „Ich habe wirklich keine Lust, mir weiter dein Geschrei anzuhören, und du kannst mir glauben, es ist nur gut für dich, wenn du mich nicht verärgerst, bevor wir überhaupt da sind.“ Wütend rüttelte er an seinen Handschellen und versuchte vergeblich, sich zu befreien, hatte jedoch nicht die geringste Chance, und Frau Sislack beobachtete ihn mit einem höhnischen Grinsen. Die andere Frau ergriff erneut das Wort: „Miguel, hör besser auf damit, du wirst dich nur verletzen. Außerdem bringst du mich so dazu, die Handschellen noch enger zu stellen, damit du dich auch wirklich nicht daraus befreien kannst. Wir wollen dir schließlich nichts Böses, sondern dir nur zu einem besseren Leben verhelfen. Anstatt dagegen anzukämpfen, wäre es vielleicht klüger, diese Gelegenheit wahrzunehmen und etwas aus dieser Möglichkeit zu machen. Du kannst mir gerne glauben, wenn ich dir sage, dass dir jegliche Gegenwehr im Nachhinein ungemein Leid tun wird.“ Ihre Stimme war die gesamte Zeit ruhig geblieben. Miguel hatte ihr auch aufmerksam zugehört, es erschien ihm jedoch lachhaft, und er nahm ihre Worte nicht Ernst, sondern versuchte stattdessen weiter, sich gewaltsam zu befreien. Er riss sich ein wenig die Haut am Handgelenk auf, was nun mehr denn je scheuerte, aber schließlich wollte er sich nicht kampflos seinen Entführern ergeben. Frau Sislack sah sich sein verzweifeltes Bemühen nicht länger an, sondern stand auf, beugte sich über ihn und ließ die Handschellen auf einer engeren Stufe einrasten. Bereits nach einer kurzen Weile spürte er ein unangenehmes Kribbeln in seinen Händen, welches ihm verriet, dass die Blutzufuhr erheblich gehemmt wird. Letztlich gab Miguel auf, da es ihn zu viel Mühe kostete seine Hände überhaupt zu bewegen, und er unternahm keine weiteren Befreiungsversuche, damit er den Druck auf seine Handgelenke nicht noch verstärkte. Frau Sislack nickte zufrieden und schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln. „Hast du es gelernt?“, erkundigte sie sich und blickte ihm dabei direkt in die Augen. Er nickte eingeschnappt und ließ den Kopf hängen. „Bitte, wie war das?“, wollte Frau Sislack wissen. Miguel räusperte sich und presste wütend hervor: „Ja ich hab es kapiert.“ „Sehr schön“, stellte sie fest: „Dafür hast du es auch verdient, dass ich dir meine Kollegin vorstelle. Frau Braggs und ich werden in Zukunft deine Hauptansprechpartner und Betreuer sein auf deinem gesamten weiteren Lebensweg.“ Frau Braggs nickte zustimmend und beobachtete Miguel mit kritischem Blick, welchen er jedoch verbissen und stur erwiderte. „Das ist wirklich toll, mal ganz abgesehen davon, dass ich keine Babysitter brauche und ich keine Ahnung habe, wo sie mich überhaupt hinbringen. Ich kann mit dieser bescheuerten Information also nicht das Geringste anfangen“, ereiferte sich Miguel mit zorniger Stimme. „Mehr können wir dir jetzt noch nicht mitteilen, aber du wirst das schon sehr bald erfahren, die Fahrt dauert nur noch gut vier Stunden“, entgegnete Frau Braggs in ihrem ruhigen Tonfall, in dem diesmal jedoch etwas Bedrohliches lag, was Miguel sagte, dass er nun besser Schweigen sollte. Er suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen irgendwelcher Gefühlsregungen oder Emotionen, die es ihm leichter machen würden, sie einzuschätzen, auch wenn sich nichts in ihrem Gesicht widerzuspiegeln schien. Es war geradezu frustrierend. Nicht nur, dass er ganze vier Stunden gefesselt auf einem Autositz verbringen musste, um nähere Informationen zu seiner Entführung zu erhalten, hinzu kam noch, dass sich seine Entführer nicht den kleinsten Fehler zu erlauben schienen. Er wusste weder, was sie vorhatten, noch wer sie waren, noch warum sie ausgerechnet ihn, einen Jungen aus armen Verhältnissen, gefangen hielten, für den ohnehin niemand Lösegeld zahlen würde. Die Ungewissheit der gesamten Situation und die ruhige, eiskalte Art der Frauen flößte ihm Angst ein. Irgendeine Aura umgab sie, die er furchterregend fand, und diese Ausstrahlung war auch der Grund, warum er sie nicht weiter mit Fragen reizen wollte. Miguel blickte bedrückt auf seine Schuhe, da er nicht wusste, wohin er sonst schauen sollte, und sagte kein Wort mehr.