Читать книгу Im Netz der Macht - Michelle Mommertz - Страница 6

Kapitel 4

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Brutal wurde er aus dem Auto gestoßen, so dass er fast gestolpert wäre. Seine Hände waren mittlerweile auf seinem Rücken gefesselt, und um ihn herum waren gleißende Lichter, die es ihm erst einmal unmöglich machten, seine Umgebung zu erkennen. Vage erkannte er die Umrisse eines Zauns. Auf der einen Seite erstreckte sich ein dichter Wald, und auf der anderen Seite konnte er schemenhaft eine hohe Mauer ausmachen. Wo war er nur? Bevor er sich weiter umschauen konnte, packte jemand seinen Arm mit festem Griff und bugsierte ihn einen gepflasterten Weg lang. Rechts und links des Weges war eine Absperrung befestigt, die mit Scheinwerfern dekoriert war und welche ihn blendeten. Kurz dahinter öffnete sich ein großes Glasportal, das in einen dunklen Raum führte. Plötzlich erstrahlte ein grelles Licht, und ehe Miguel sich versah, hatte man seine Handschellen gelöst, ihn auf einen Stuhl gewuchtet, der in der Mitte des Raumes stand, und seine Hände mit Metallmanschetten an den Lehnen befestigt. Danach wurden seine Füße an die Stuhlbeine geschnallt, und ohne Vorwarnung erlosch das Licht wieder. An der Wand vor ihm blitzten Worte auf. Es dauerte einige Momente, bis Miguels Augen sich an diese Lichtverhältnisse gewöhnt hatten und er die Worte entziffern konnte. In großen Lettern stand dort: Regel Nummer 1: Jegliche Entscheidungsgewalt wird an die Organisation und stellvertretend an die Betreuer abgegeben. Ein lautes Klicken ertönte, und neue Worte erschienen: Regel Nummer 2: Jeder ist der Organisation zu Gehorsam und zur Geheimhaltung verpflichtet. Verwirrt betrachtete Miguel die Worte. Von welcher Organisation war dort die Rede? Und was sollte das ganze hier überhaupt? Wieder änderte sich die Schrift: Regel Nummer 3: Das Nichtbefolgen der Regeln zieht Konsequenzen verschiedenster Art und Härte nach sich, die jeweils von den verantwortlichen Betreuern zu wählen sind. Was für Konsequenzen? Welche Betreuer? Warum hatten diese Leute ihn entführt, und was hatten sie mit ihm vor? Regel Nummer 4: Die Betreuer dürfen alles Nötige tun, damit der Beitrag zur Organisation eines jeden gewährleistet ist und jeder am Ende bestmöglich ausgebildet ist. Was für eine Ausbildung? Bei jeder neuen Regel stieg Miguels Verwirrung, denn er hatte sich nie in einer vergleichbar absurden Situation befunden, noch von derartigen Entführungen oder einer solchen Organisation je gehört. Doch mit jeder weiteren Regel wandelten sich seine Befürchtungen in Wut. Wut auf seine Entführer und die seiner Meinung nach irrsinnigen Regeln. Wut auf den unbequemen Holzstuhl und die Fesseln, die ihn daran hinderten, sich frei zu bewegen. Als nach Regel Nummer 48: Jeder muss Betreuern mit Respekt und Höflichkeit begegnen, die erste Regel wieder erschien, begann Miguel mit aller Macht an den Metallmanschetten zu rütteln. Er riss sie nach oben, zog daran und schlug frustriert mit seinen Händen auf die hölzernen Armlehnen. Das gleiche probierte er sogleich mit seinen Füßen, doch bis auf schmerzende Druckstellen zeigte auch dies keinerlei Wirkung. In einer Dauerschleife wurden die Regeln an die Wand projiziert, und nachdem Regel Nummer 1 zum vierten Mal auftauchte, hatte Miguel das Gefühl zu verzweifeln. In seinem Kopf drehte sich alles, und er schloss die Augen. Selbst in der Dunkelheit seiner geschlossenen Augen, konnte er die Regeln vor sich sehen, und bei jedem Klicken und Aufblitzen schrak er zusammen. Miguel schwang hin und her und versuchte den Stuhl umzukippen, damit er sich von dieser Wand abwenden konnte, allerdings schien dieser am Boden befestigt zu sein, denn ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, der Stuhl bewegte sich keinen Zentimeter. Seine untersten Rippen schmerzten, weil er mit diesen immer wieder gegen die Lehne geprallt war, und er gab schließlich auch diesen Plan auf. Die Enttäuschung über die fehlgeschlagenen Versuche, sich selbst aus dieser misslichen Lage zu befreien, ließen Miguel aufschreien. „Lassen Sie mich sofort gehen!“, brüllte er durch den dunklen Raum und hörte außer dem Wiederhall seiner eigenen Stimme, rein gar nichts. „Hören Sie nicht?! Blödes Miststück, lass mich endlich hier raus!“, schrie er noch einmal und versuchte, seiner Stimme einen drohenden Unterton zu verleihen, in der Hoffnung, seine Entführer würden ihn auf diese Weise ernst nehmen. Abermals tat sich nichts, was ihn noch mehr aufbrachte, und er versuchte, sich die Fesseln vom Leib zu schütteln. Seinen Rücken ließ er wieder und wieder gegen den Stuhl krachen, ohne darüber nachzudenken, ob ihm dies überhaupt etwas nützen würde. Wutschnaubend und zitternd gab er schließlich auf und versuchte, sich langsam zu beruhigen, um wieder klar denken zu können. In seinem Kopf spielte er verschiedene Möglichkeiten durch, wie er fliehen könnte.

„Gut, wir hätten die Phase der Wut damit wohl abgehakt“, stellte Frau Braggs in sachlichem Ton fest und blickte Frau Sislack an. „Ich will es hoffen. Das Rumgeschreie ist wirklich nervig, außerdem verletzen sie sich so oft dabei“, stimmte Frau Sislack zu: „Für die Beleidigung bekommt er trotzdem noch Ärger.“ „Will der Boss ihn sehen?“, fragte Frau Braggs und erhielt als Antwort ein einfaches Kopfschütteln. Sie stand auf und holte sich eine Tasse Kaffee. Es würde eine lange Nacht werden, zwar konnten die beiden Frauen sich abwechselnd schlafen legen, doch da sie zum ersten Mal Betreuer wurden, waren sie beide zu aufgeregt. Sie hatten einen langen und mühseligen Weg hinter sich, um so weit aufgestiegen zu sein, aber in ihren Augen war es all das wert gewesen. Immerhin würden sie einen entscheidenden Beitrag leisten, um die Organisation noch mehr zu unterstützen. „Gleich wird er verhandeln“, unterbrach Frau Sislack ihre Gedanken und deutete vom Kontrollraum aus auf Miguel. Sie beobachteten ihn die gesamte Zeit, obgleich sie den Verlauf bereits auswendig kannten, weil jeder auf die gleiche Weise reagierte. Nach der Überwindung des ersten Schocks, wurden sie wütend, dann besannen sie sich eines Besseren und machten die tollsten Versprechungen, wenn man ihnen die Freiheit schenken würde. So auch Miguel, der rief: „Ich verrate der Polizei nichts, ich verspreche es, ich sage zu niemandem ein Wort, wenn Sie mich gehen lassen, bitte.“ Frau Sislack lachte spöttisch und flüsterte: „Na, das kriegen wir bestimmt noch besser hin.“ Sobald Miguel registrierte, dass ihm niemand antworten würde, hob er die Stimme erneut: „Sie können Geld bekommen, meine Familie zahlt Ihnen eine hohe Summe, wenn Sie mich zu ihr zurück lassen.“ Diesmal war es Frau Braggs, die lachen musste: „Wir haben seine Familie überprüft. Sie kommen gerade so über die Runden. Der Vater verkauft geklaute Autoteile, und die örtliche Polizei wird ihn wohl demnächst festnehmen. Aber mal sehen, was er uns noch anzubieten hat.“ „Ich kann Ihnen alles besorgen, was Sie wollen, ich kenne da jemanden. Ein Anruf genügt“, lockte Miguel nun mit einem neuen Angebot. „Nicht sehr einfallsreich“, bemerkte Frau Sislack grinsend: „Ich glaube kaum, dass er uns etwas Besseres als sich selbst bieten kann.“ Zustimmend nickte Frau Braggs den Kopf, als Miguel sich wieder verzweifelt meldete: „Bitte, lassen Sie mich gehen. Was wollen Sie denn von mir? Ich habe doch gar nichts, meine Familie ist arm, es lohnt sich nicht, mich zu entführen.“ „Aha, der junge Mann rückt endlich mit der Wahrheit raus, sollen wir ihn noch ein wenig leiden lassen oder Phase 2 einleiten?“, fragte Frau Sislack. Ein sadistisches Grinsen umspielte Frau Braggs Lippen, aber sie entschied sich doch dazu, die nächste Etappe zu beginnen und drückte auf einen Knopf, der es Miguel möglich machte, ihre Stimme zu hören: „Du solltest besser die Regeln lernen, alles Weitere erfährst du später.“ Sie ließ den Knopf wieder los und beobachtete Miguels Reaktion.

Beim ersten Klang ihrer Stimme war er ein wenig zusammengezuckt, doch hatte sich schnell wieder gefangen. „Warum sollte ich das tun?“, fragte er in der vergeblichen Hoffnung auf mehr Informationen. Sein Blick glitt in dem Raum umher, aber nirgends konnte er ein Anzeichen auf eine Person entdecken. Bis auf die Wörter an der Wand war alles in seiner Umgebung dunkel. Er glitt unruhig auf dem Stuhl hin und her, denn das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden, den er selbst nicht sehen konnte, machte ihn ungemein nervös. Ganz gleich, was diese Stimme gesagt hatte, er würde die Regeln nicht lernen, die in seinen Augen vollkommen nutzlos waren. Nutzlos und dem Kopf eines Geisteskranken entsprungen. Regel Nummer 34: Niemand darf sich selbst physischen oder psychischen Schaden zufügen, unter diese Regel fallen auch der Konsum von Tabak und Alkoholwaren, sowie jegliche Form von bewusstseinsverändernden Mitteln. Es war wohl seine Sache, ob er trank, rauchte oder sonst irgendwelches Zeug zu sich nahm. Man konnte ihm nicht einfach die Autonomie und Entscheidungsfreiheit nehmen. Wer hatte sich diese kranken Dinge ausgedacht? Glaubten diese Leute wirklich, dass sie damit durchkommen würden? Eine Entführung war schon schlimm genug, aber das Festhalten und Nötigen eines Jugendlichen würde noch üblere Konsequenzen nach sich ziehen. Miguel hoffte nur, dass die Polizei ihn rechtzeitig fand, wer weiß, wozu diese Irren noch im Stande sind. Er beschloss, die Worte der Stimme sowie die an der Wand einfach zu ignorieren und schweifte mit seinen Gedanken ab. Überlegungen, was er mit der Schadensersatzsumme alles anstellen könnte, heiterten Miguel auf. Seine Vorstellungen gingen von einer neuen Uhr über ein schnelles Auto bis hin zu einer eigenen Jacht mit Pool und einer Menge Mädchen im Bikini, die um seine Aufmerksamkeit bettelten. Ein breites Grinsen bildete sich auf seinem Gesicht, als er sich selbst auf seinem Boot im Licht der Wörter sah. Endlich würde er sich all die Sachen kaufen können, die er von seinen Eltern nie bekommen hatte. Teure Restaurants und Einkaufsläden schwebten ihm vor, bis ihn ein Klicken plötzlich aus seinen Träumen riss und in die Realität zurückholte. Sein Grinsen verschwand, sobald er realisiert hatte, dass er die riesige Schadensersatzsumme erst einmal bekommen müsste und dafür musste ihn die Polizei finden. Hoffentlich glaubte seine Mutter nicht, dass er wie sein Bruder abgehauen sei, sonst würde sich die Polizei wohl kaum bemühen. Wenn sie es überhaupt taten. In seinem Viertel war die Polizei vielmehr der Feind als Freund und Helfer. Auch er selbst war bereits vor den Überfällen öfter von der Polizei aufgegriffen worden. Zu Anfang, weil er die Schule geschwänzt hatte, später dann, weil er mit Tony Marihuana geraucht hatte. Zum Glück waren sie nur verwarnt worden und mussten zu irgendeiner Anti-Drogen-Veranstaltung, bei der ihnen erzählt wurde, wie schädlich das war. Es gab wesentlich schlimmere Typen in seiner Straße, die in seinem Alter bereits ein Vorstrafenregister hatten, dass länger war als sie selbst. Manche Geschichten waren auch erfunden, damit man vor den anderen härter wirkte. Einerseits war Miguel klug genug zu wissen, dass es nichts Positives war mit solchen Geschichten anzugeben, andererseits war er noch naiv genug, um sich recht leicht von anderen beeinflussen zu lassen. Außerdem überlebte man in seiner Gegend nur so. Die Schwächeren waren oft ausgestoßen und wurden ausgeraubt. Er schüttelte leicht den Kopf, als wolle er so die Gedanken an seine Kumpanen vertreiben. Miguel blickte auf und sah gerade noch, wie Regel Nummer 48 verblasste, mit der Erwartung, dass gleich Regel Nummer 1 wieder erscheinen würde, starrte er gelangweilt auf die Wand. Mit einem Mal wurde er jedoch von einer hellen Lampe geblendet, die ihm direkt in die Augen schien. Reflexartig wollte er sich die Hand vors Gesicht halten, wurde jedoch von der Metallmanschette gestoppt. „Regel Nummer 1?“, fauchte ihn eine weibliche Stimme an. Miguel verstand nicht recht, was vor sich ging, und blinzelte, um nach der Person suchen zu können, zu der die Stimme gehörte. Als er nicht antwortete, traf ihn wie aus dem nichts eine Ohrfeige, und die Frage wurde wiederholt. Er zuckte verwirrt mit den Schultern und murmelte: „Keine Ahnung“, woraufhin er eine weitere Ohrfeige erhielt. Seine Wange brannte leicht, doch die Frau fuhr fort: „Regel Nummer 2?“ Miguel schüttelte verständnislos den Kopf: „Ich weiß nicht genau.“ Prompt traf ihn die Hand erneut. Er zuckte zusammen und winselte kurz auf. Ohne darauf Rücksicht zu nehmen, fuhr die Stimme fort, und bei jeder Frage, die er nicht beantworten konnte, erhielt er einen weiteren harten Schlag, wobei immer wieder dieselbe Stelle getroffen wurde. „Regel Nummer 34?“, bellte die Stimme, und Miguel zuckte instinktiv zusammen, als er sagte: „Irgendetwas mit nicht rauchen und trinken oder so.“ „Lass ich dir diesmal durchgehen, beim nächsten Mal will ich den korrekten Wortlaut hören“, verlangte die Stimme in hartem Tonfall. Miguel spürte das Blut in seiner glühenden Wange pochen und war dankbar für die kurze Unterbrechung, auch wenn diese nur bis zur nächsten Frage hielt. Nachdem er von allen 48 Fragen gerade einmal zwei hatte beantworten können, war der Schmerz in seinem Gesicht geradezu unerträglich. Seine Wange fühlte sich wund und aufgescheuert an, jedoch Mitleid hatte er von der Unbekannten keines zu erwarten. Er presste seine Schulter dagegen, in der Hoffnung, dies würde ihm Linderung verschaffen, realisierte aber, dass jegliche Berührung den Schmerz nur noch verstärkte. Die Lampe, die ihn geblendet hatte, ging wieder aus, und nachdem er einige Zeit in vollkommener Dunkelheit verbracht hatte, ertönte die Stimme erneut: „Du solltest besser die Regeln lernen!“ Diesmal war sie nachdrücklicher und bedrohlicher, so dass Miguel schwer schluckte. Er wollte sich nicht ausmalen, was diese Wahnsinnigen noch mit ihm anstellen würden. Vielleicht würde die Polizei ihn doch nicht so leicht finden, so geplant wie hier alles zu laufen schien. Er erschrak sich und zuckte stark zusammen, als das Klicken ertönte und wieder die erste Regel auf die Wand projizierte. Miguel las sich die Regel aufmerksam durch, aus Angst, die Unbekannte würde wieder aus dem Nichts auftauchen und ihn schlagen.

„Sieh doch nur, wie brav er auf einmal lernt“, bemerkte Frau Sislack mit einem Grinsen, als Frau Braggs wieder den Überwachungsraum betrat. „Ja, ich glaube, ich habe ihn ganz schön eingeschüchtert“, fügte sie emotionslos hinzu. „Geben wir ihm 3 Durchläufe bis zur nächsten Befragung, das sollte reichen, um zumindest die meisten Regeln in seinem Kopf zu verankern“, entschied Frau Braggs und setzt sich. Wenn man sie fragen würde, ob sie Spaß an ihrem Beruf hatte, wüsste sie nicht genau, was sie antworten sollte. Das Gefühl, totale Macht über eine andere Person zu haben, gefiel ihr sehr, und zudem tat sie es nur zum Besten dieser Person. Die physische Gewalt, die sie dabei anwenden musste, war für sie nie ein Problem gewesen. Es war nun mal ein Mittel zum Zweck, welches sie sich gerne bediente, wenn es sie schneller zum angestrebten Erfolg brachte. Den wirklichen Spaß hatte sie an den Resultaten, wenn alles genauso lief, wie sie es sich vorgestellt hatte und ihre Schützlinge taten, was sie von ihnen verlangte. Spaß machte es ihr auch, zu beobachten, wie sich ihre Macht auf die Personen auswirkte, wie es diese veränderte und schließlich zu einem ganz anderen Menschen machte. Man konnte also schon sagen, dass Frau Braggs Spaß an ihrer Arbeit hatte. Es störte sie auch nicht sonderlich, dass sie mit Jugendlichen arbeiten musste, bzw. dass es Jugendliche waren, welche die Arbeitsmethoden erdulden mussten. Ebenfalls gleichgültig ging sie mit der Tatsache um, dass alles auf unfreiwilliger Basis geschah. Wichtig war nur, dass sie ihre Ziele erfüllte, koste es, was es wolle. So hatte sie auch keinerlei Mitleid mit Miguel gehabt, als er sie bat, mit den Schlägen aufzuhören, und vergeblich versuchte, diesen auszuweichen. Tatsächlich zählte für sie nur, dass er jetzt das tat, was sie von ihm verlangte. Schließlich hatte sie es ebenfalls auf diese Weise gelernt, denn letztlich befolgte auch sie nur die Befehle vom Boss. Darüber dachte sie jedoch nur selten nach. Es war wie es war, und so war es gut, jedenfalls in ihren Augen. Sie nahm einen Schluck Kaffee, welcher jedoch bereits kalt geworden war, woraufhin sie das Gesicht verzog. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder Miguel. „Was glaubst du, wie lange wir hier noch brauchen?“, fragte Frau Sislack. „Ich weiß nicht genau, drei Stunden würde ich schätzen“, bemerkte Frau Braggs achselzuckend und fügte hinzu: „Wenn du vorher weg musst, ich schaffe das auch allein.“ Frau Sislack schüttelte den Kopf und erwiderte: „Nein, ich habe bis spät nachmittags Zeit, danach nur noch einen Termin mit Frau Landers.“ Frau Landers ist die Stellvertreterin vom Boss und hatte ihre Schützlinge nach kürzester Zeit in ihrer Eisernen Hand. Sie hatte einen wirklich üblen Ruf bei den Jugendlichen, der nur noch von dem des Bosses zu übertreffen war, da das Gerücht umherging, der Boss habe schon einmal jemanden umgebracht. Die Betreuer wussten es zwar besser, hatten sich jedoch nie die Mühe gemacht, die Jugendlichen aufzuklären, damit sie diese noch besser kontrollieren konnten. Frau Landers ist ein sehr genauer Mensch, und nicht jeder konnte gut mit ihrer Art umgehen, manch ein Betreuer hatte auch Schwierigkeiten damit, was die gemeinsame Arbeit jedoch nicht störte, da Frau Landers bei der Zuteilung der Betreuer keine persönlichen Differenzen entscheiden ließ. Alles in allem konnte sie die Dinge sehr gut differenzieren, was sie in Frau Braggs Augen zur idealen Chefin und Kollegin machte. Von Beginn an hatten sich beide sehr gut verstanden. Für die Jugendlichen war es dafür umso schwieriger, sich vor Konsequenzen zu drücken, da Frau Landers diese strikt durchführte, ohne auf gute Leistungen in anderen Bereichen Rücksicht zu nehmen. Diese Methoden hatte Frau Braggs versucht, sich so gut wie möglich abzuschauen, als sie vor Jahren von Frau Landers ausgebildet worden war. Vielleicht war ihre Bewunderung ein weiterer Grund für ihr gutes Verhältnis zu einander. Mit Sicherheit war dies auf jeden Fall der Grund, aus dem Frau Braggs bereits mit jungen Jahren hauptverantwortlich für Miguel wurde, weil Frau Landers ihr vertraute und gewährleistet war, dass die richtigen Arbeitsmethoden angewandt wurden. Frau Braggs hatte es sehr stolz gemacht, und sie war vollends entschlossen, ihre Aufgabe mit Bravur zu meistern. „Jedenfalls bin ich mir nicht sicher, ob mir die Rekrutierung nicht besser gefällt“, führte Frau Sislack einen Satz zu Ende, dessen Anfang Frau Braggs nicht gehört hatte, weil sie in Gedanken versunken war. „Rekrutierung ist gar nichts für mich“, bemerkte sie in der Hoffnung, nichts Elementares überhört zu haben. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Betreuung reizt mich schon, aber vielleicht erst mal als Stellvertreterin, so wie jetzt. Glaubst du, das geht von Frau Landers aus?“, fragte Frau Sislack. „Ich denke schon. Es spricht schließlich nichts dagegen, und wenn du ihr das gleich sagst, wird sie dem auch zustimmen“, erwiderte Frau Braggs zuversichtlich und warf einen Blick auf einen Monitor. „Das war schon der dritte Durchlauf oder nicht?“, wollte sie von ihrer Kollegin wissen, welche nickte und hinzufügte: „Dann viel Spaß.“ Frau Braggs antwortete darauf nicht, denn den Spaß würde sie erst dann haben, wenn Miguel die Regeln allesamt auswendig beherrschte, dennoch nickte sie zuversichtlich und verließ den Kontrollraum mit schnellen Schritten.

Es dauerte noch zwei weitere Durchläufe und einige Schläge, bis Miguel alle achtundvierzig Regeln auswendig kannte. Die Fesseln wurden gelöst, und Frau Braggs packte seinen Arm, um ihn so aus dem Raum zu führen. Frau Sislack war doch schon zu ihrem Termin mit Frau Landers aufgebrochen, aber Frau Braggs würde Miguel ohnehin nachher dort hinbringen. Nun schob sie ihn zunächst einmal zum Haupttor. Miguel starrte nach oben und schätzte die Mauer auf vier Meter. Ein großes Tor schob sich auf, und Frau Braggs zog Miguel hinter sich her, da dieser wie angewurzelt stehen geblieben war in Anbetracht dieses überwältigenden Gebäudekomplexes. Am ehesten war der Bereich hinter der Mauer wohl mit einem Campus zu vergleichen. Von seinem jetzigen Standpunkt aus konnte Miguel das andere Ende nur erahnen. Ein langer Weg wies grade nach vorne und zog sich vermutlich über das gesamte Gelände. Zwei sehr hohe Gebäude taten sich links und rechts des Weges auf, die Miguel an die Hochhäuser in seinem Viertel erinnerten. „Das ist das Jungengebäude, daneben das Mädchengebäude. In den unteren zwei Etagen befinden sich jeweils Büros und der Speisesaal“, erklärte Frau Braggs, und Miguel dachte an Regel 15, die intime Beziehungen untersagte. Frau Braggs führte ihn weiter den Hauptweg entlang, von dem zwei schmalere zu den Wohngebäuden abzweigten. Kurz dahinter befanden sich zwei etwas kleinere Gebäude. Das eine war komplett weiß gestrichen, das andere blau. „Im blauen Gebäude wird unterrichtet. Im weißen Gebäude sitzt die Leitung, die Verwaltung, die Krankenstation und einiges mehr, aber das zeige ich dir später noch genauer. Dahinten haben wir noch ein Schwimmbecken und einen Sportplatz mit Laufbahn. Der eingezäunte Bereich, den du davor siehst, ist zur Besinnung gedacht, für den seltenen Fall, dass jemand andauernde Schwierigkeiten hat, sich an unsere Regeln zu halten “, erläuterte Frau Braggs in monotoner Stimme. „Was meinen Sie damit?“, platzte Miguel hervor. Ohne zu zögern, ohrfeigte Frau Braggs ihn erneut. Er schrie auf vor Schmerz und presste seine Hände gegen seine Wangen, die brannten wie Feuer. Sie packte ihn am Kinn und zog sein Gesicht hoch, so dass er gezwungen war, sie anzusehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen fragte sie ihn: „Warum hab ich das gemacht?“ Miguel erwiderte ihren Blick mürrisch und antworte widerwillig: „Regel 11, Reden ist nur nach Aufforderung gestattet.“ „Dann beherzige das demnächst“, sagte sie ohne Mitleid und ließ ihn wieder los. Dann führte sie Miguel in das weiße Gebäude, welches von einer Art Glaskuppel überdacht zu sein schien, doch er achtete nicht weiter darauf. „Die oberste Etage betrittst du im für dich besten Fall nur einmal, um den Boss kennenzulernen, und ein zweites Mal, um deine letzten Instruktionen zu erhalten. Jedes weitere Mal wirst du bereuen, deswegen halt dich besser an die Regeln. Die erste Etage ist die Krankenstation, und dazwischen liegen auch nur Büros, Konferenzräume und dergleichen. Wir werden jetzt Frau Sislack und die stellvertretende Leiterin treffen. Ich verlange, dass du dich vorbildlich benimmst, verstanden?!“, wollte Frau Braggs wissen. „Ja, verstanden“, meinte Miguel und nickte, um dies zu bekräftigen. Er war zwar keineswegs gewillt, sich dieser Organisation hier zu beugen, doch seine Wangen erinnerten ihn schmerzlich, dass er sich zunächst besser ruhig verhalten sollte, zumindest bis er sich einen konkreten Plan überlegt hatte, um von hier zu flüchten. Sie fuhren mit dem Aufzug in die dritte Etage und Frau Braggs steuerte zielsicher auf eine Bürotür zu. Davor stand ein Mädchen in Miguels Alter. „Was hast du nun schon wieder angestellt?“, frage Frau Braggs streng und schaute das Mädchen böse an. „Oh, ähm, ich also ähm ich soll das hier Frau Landers geben“, sagte sie zögerlich und hielt einen Brief in ihrer Hand. Frau Braggs entriss ihr den Brief und warf ihr einen weiteren zornigen Blick zu. „Ich gebe das weiter. Ihr wartet beide hier, bis wir euch reinholen. Miguel, versuch gar nicht erst zu fliehen, das hat keinen Sinn, das Gebäude ist komplett überwacht“, zischte Frau Braggs und verschwand in dem Büro, ohne eine Antwort abzuwarten. „Neu hier?“, fragte das Mädchen und Miguel nickte. „Ich bin seit drei Monaten hier und kann dir sagen, es wird nur noch beschissener. Vor allem mit der da“, sagte sie und nickte in Frau Braggs Richtung: „Nach Frau Landers ist sie die Übelste und ich hab den Hauptgewinn und beide als Betreuer. Du bist ja auch nicht besser dran, aber ich will nicht einfach so klein beigeben.“ „Das will ich sicher auch nicht. Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als sich selbst zu verraten“, stimmte Miguel ihr zu. Das Mädchen grinste begeistert: „Es ist nur verdammt schwer, was zu machen. Man ist total selten unbeobachtet, und ich hab gehört, es hat noch niemand wirklich geschafft zu fliehen. Also nicht für länger als ein paar Tage. Total übler Mist ist das hier!“ „Das heißt, die meinen das total ernst, die ganzen beknackten Regeln?“, fragte Miguel, obwohl er die Antwort eigentlich schon kannte. „Ja, alles ist ernst für die. Das sind Verrückte. Man muss den ganzen Tag irgendwelche dämlichen Aufgaben erledigen, selbst in der sogenannten Freizeit. Kein Spaß, kein Rauchen, kein Trinken, keine Partys, gar nichts ist hier erlaubt. Nicht mal rumknutschen, ich meine geht’s noch. Wenn ich einen Kerl küssen will, dann können die mir das nicht einfach verbieten oder?“ „Auf keinen Fall“, sagte Miguel mit einem Grinsen, weil das Mädchen sich so sehr darüber aufregte. „Wenn ich dich zum Beispiel küssen wollte, dann könnten die nix dagegen machen“, sagte sie und blickte trotzig nach oben, wo Miguel eine Kamera entdeckte. Dann küsste das fremde Mädchen ihn einfach, und Miguel erstarrte kurz, weil er nicht damit gerechnet hatte. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, erwiderte er den Kuss, bis die Bürotür neben ihnen schwungvoll aufflog und eine wutentbrannte Frau Braggs herausstürmte, dicht gefolgt von Frau Sislack und einer Miguel Unbekannten, vermutlich diese Frau Landers. Frau Braggs riss das Mädchen von Miguel weg, welcher halb an der Wand gelehnt hatte. „Das kann ich dagegen machen!“, schrie Frau Braggs und drehte dem Mädchen den Arm auf den Rücken, bis sie aufschrie. „Ich bin übrigens Kayla“, hauchte sie Miguel unter Schmerzen zu, bevor Frau Braggs sie in das Büro stieß. Irritiert blieb Miguel wie angewurzelt stehen, als Frau Sislack ihn wütend betrachtete und drohte: „Darüber reden wir gleich noch.“ Sie ließ ihn stehen und folgte den anderen ins Büro. Die Tür fiel ins Schloss und trotz der Drohung konnte Miguel nur an das Mädchen denken. Ihre Art hatte ihm sehr gefallen, und der Kuss war auch gut gewesen. Er dachte an ihre Worte und wie süß sie ausgesehen hatte, als sie wütend die Kamera provoziert hatte. Ein bisschen hatte er sich wohl in sie verknallt, wie er glaubte.

Im Netz der Macht

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