Читать книгу Wen immer wir lieben (Immer-Trilogie - Band 1) - Michelle Schrenk - Страница 14

KAPITEL 4

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»Kaffee?« Emma hielt mir eine Tasse entgegen. Mein Kopf pochte. Das war schon so gewesen, als ich kurz zuvor die Augen geöffnet hatte. Die Erinnerung an den gestrigen Abend hatte es nicht besser gemacht. Mist. Ja, ein Riesenmist. Plötzlich waren all die Bilder in meinen Kopf geschossen. Der Aperol. Die Typen auf Tinder, die Idee mit der Challenge. Ben. Mein Verhalten. Wieder Ben. Ich fühlte mich mies.

»Oh ja, bitte!« Seufzend griff ich nach der Tasse.

»Und wenn das nicht hilft, habe ich einen tollen Tipp: Teebeutel auf die Augen. Hab ich heute auch schon gemacht.« Mit dem Zeigefinger deutete sie auf ihr Gesicht.

Ich verzog meins zu einem Grinsen. »Alles gut. Kaffee ist perfekt.« Ich nahm einen Schluck von dem heißen Getränk und atmete tief durch. Mein Blick blieb für einen Moment an einer Postkarte hängen, die hinter Emma am Kühlschrank klebte. New Orleans. Dann setzte ich mich an unseren großen runden Tisch, auf dem bereits die ersten Tulpen in einer Vase blühten. »Der ist echt gut. Mir tut alles weh. Vor allem mein Kopf.«

»Auweia, so schlimm?«

»Geht schon …«, murmelte ich.

»Und, was war gestern noch mit Nika? Drama oder nicht?«, wollte Emma wissen, während sie sich zu mir an den Tisch setzte.

Ich war froh, dass sie damit das Thema wechselte. »Kein Drama. Sie hat nur geschwärmt, wie gut Alex doch im Bett sei und dass sie bei ihm schlafen werde. Sie meinte, ich solle mich doch mal verlieben. Es würde guttun. Und überhaupt sei doch mein Prinzip der totale Unfug. Und das, obwohl Alex gesagt hat, dass er nicht so viel planen und sich Zeit lassen wolle.« Seufzend sah ich sie an. »Ganz ehrlich, da weiß man doch schon, wohin das alles geht. Nika befindet sich kurz vor Stufe sechs, ähm, sieben. Denn Sex hatten sie ja mittlerweile schon.«

»Wette gewonnen!« Emma strahlte übers ganze Gesicht. Doch als sie meinen Blick sah, fügte sie hinzu: »Du meinst also immer noch, er serviert sie bald ab?«

Lange musste ich nicht darüber nachdenken. »Ja, das meine ich, leider. Das ist das Prinzip, weißt du?« Zerknirscht blickte ich zu ihr, bevor ich einen Schluck von meinem Kaffee nahm.

»Na ja, ehrlich gesagt, weiß ich nichts. Es sah jetzt gestern nicht unbedingt danach aus, als ob das mit diesem Prinzip wirklich klappen würde.« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Und dieser Ben war echt etwas sauer.«

Ich seufzte noch einmal und verzog das Gesicht. »Hör auf, erinnere mich bloß nicht daran.«

»Warum?«

»Weil ich mich so blamiert habe«, erwiderte ich und warf dabei die Arme in die Luft. »Das mit der Challenge bin ich ganz falsch angegangen. Eine Katastrophe. Stell dir vor, Ben hat sogar das Match aufgelöst.« Ich legte meine Hände wieder um den dampfenden Kaffee.

Emma grinste. »Heißt das etwa, du wolltest das wirklich noch weiter durchziehen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Irgendwie schon. Nur anders, nicht so verrückt wie gestern. Das war echt daneben.«

»Und mit wem dann?«

»Keine Ahnung. Am liebsten wäre mir schon Ben. Er ist der perfekte Bad Boy, an ihm könnte ich meine Theorie ganz wunderbar beweisen. Aber … kein Plan. Vielleicht sollte ich mich entschuldigen«, überlegte ich laut.

»Ich will dir nicht zu nahe treten, mein Herz, aber ich glaube, der hat mal so was von keine Lust mehr auf dich. Vergiss es einfach. Vergiss das Ganze.«

Ich sah Emma nachdenklich an, ihr Blick wirkte ernst. »Kann alles sein, aber abwarten, man sieht sich schließlich immer zweimal im Leben, richtig?«

Als wir den Kaffee ausgetrunken, uns gewaschen und geschminkt hatten, machten wir uns auf den Weg. Denn heute war Uni angesagt, trotz des etwas zu ausufernden Vorabends. Da unsere Wohnung nicht allzu weit vom Unigelände entfernt lag, brauchten wir zu Fuß nicht länger als eine Viertelstunde. Ich hatte eine Jeansjacke über meine weiße Bluse gezogen, dazu trug ich dunkle Jeans und Boots. Bald würde der Frühling Einzug halten und wir bräuchten keine Jacken mehr, doch jetzt war es noch etwas frisch am Morgen.

Mit meinem leichten Tages-lass-die-gestrige-Nacht-verschwinden-Make-up wirkte ich gegen Emma eher blass. Sie hatte wie so oft ihre Augen groß geschminkt. Der Lidschatten war golden und ihre Lippen schienen voll und überzogen mit Lipgloss.

Sie blickte auf das Display ihres Handys, nachdem es Pling gemacht hatte. »Kati schreibt, wir sind eingeladen. Celine feiert am Wochenende ihren Geburtstag im Hinz und Kunz. Wollen wir hin? Dann fügt sie uns der Gruppe hinzu.«

»Klar, können wir machen. Du weißt, beim Feiern bin ich immer dabei.« Ich zwinkerte, doch spürte noch immer die Müdigkeit.

Emma boxte mir sanft in die Seite. »Jaja«, kicherte sie, weil sie wusste, dass ich innerlich noch immer litt.

Bevor an Feiern zu denken war, mussten wir allerdings unsere Kurse rumkriegen. Ich lief in Richtung Hauptgebäude, wo ich den ersten Stock ansteuerte. Als ich in dem kleinen Vorlesungssaal angekommen war, suchte ich nach einem freien Platz in den hinteren Reihen und ließ mich schließlich auf einen der Klappstühle aus Holz fallen. Professor Brandner stand vor dem großen weißen Board, auf dem bereits ein paar Begriffe zu lesen waren. Früher hatte ich mir Vorlesungen immer vorgestellt wie in amerikanischen College-Filmen: große, überfüllte Hörsäle, in denen es nach Schweiß und Deo roch. Hier roch es nur nach frischer Farbe und altem Holz.

»Dann wollen wir mal«, begann Professor Brandner und tippte gegen das Board. »Sprache im Wandel.« Ich lehnte mich zurück. Dann wollten wir mal.

Im Anschluss an mein Linguistik-Seminar wartete ich vor dem Haupteingang auf Emma. Als ich sie erblickt hatte, lief ich auf sie zu und streckte ihr einen Zettel entgegen. »Was meinst du? Lust?«

Sie griff danach. »Was ist das? Oh, eine Lesung mit anschließender Diskussion zum Thema Zufälle und Schicksalsbegegnungen in Romanen der Neuzeit. Heute im Salon Regina in Gostenhof. Das hört sich zwar verdammt verlockend an … aber nein.« Sie schüttelte den Kopf.

Ich lachte. Ich hatte natürlich schon geahnt, dass Emma keine Lust darauf haben würde, und wollte den Abend sowieso mit meinen Schwestern verbringen. Professor Brandner hatte die Flyer am Ende seines Seminars verteilt, und da ich bei ihm meine Hausarbeit schrieb, war ich quasi indirekt zur Teilnahme gezwungen. Ein bisschen hatte die Beschreibung aber auch mein Interesse geweckt, denn ich glaubte weder an Zufälle noch an Schicksal. Bei Kaia war ich mir sicher, dass sie dabei sein würde. Wenn es um Vorträge jeglicher Art ging, war sie immer am Start. Und bei Nika, na ja, da hatte ich darauf gehofft, sie emotional packen zu können, indem ich ihr sagte, wie schön es wäre, mal wieder etwas zusammen zu machen. Und siehe da, sie hatte zugesagt. Lina, die Schwesternflüsterin.

»Warum? Wird bestimmt total interessant. Oder hast du was anderes vor?«, fragte ich neckend.

Als Emma von dem Zettel in ihrer Hand aufblickte, konnte ich bereits an ihrem Gesicht ablesen, dass sie etwas anderes vorhatte. »Ich liebe es, Zeit mit dir zu verbringen …«

Ich lachte und ihr Blick wurde fragend. »Schon okay, reingelegt. Ich habe Kaia und Nika gefragt. Ich wusste, dass du darauf keine Lust hast.« Ich knuffte sie in die Seite und wir setzten uns in Bewegung.

»So ein Glück! Außerdem treffe ich mich eventuell kurz mit Kati.« Emma gab mir den Zettel zurück. »Sie wollte, dass ich sie mal style, probeweise für ihren nächsten Auftritt sozusagen. Falls du also das lieber machen möchtest …?«

»Nee, ich muss mir das echt anhören.« Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Und ich habe so das Gefühl, der Abend könnte wirklich interessant werden.«


Als ich gegen sieben vor der Regina stand, einer kleinen Bar im Stile der Siebzigerjahre, war schon einiges los. Ich mochte es hier, ihr ganz besonderes Flair machte die Bar zu einem der coolsten und beliebtesten Orte in Nürnberg. Normalerweise kam ich zum Frühstücken vorbei oder auf ein leckeres Stück Kuchen. Heute freute ich mich auf die erste Lesung, die in der außergewöhnlichen Bar stattfand.

Ich war noch alleine und sah mich suchend nach meinen Schwestern um. Nika war die Erste, die um die Ecke bog und mich gleich darauf an sich drückte.

»Na, da bin ich aber mal gespannt, was das wird.« Sie sah sich um. »Wo ist Kaia?«, fragte sie, als diese schon keuchend um die Ecke und schließlich kurz vor uns zum Stehen kam. Sie trug einen schicken grauen Blazer, darunter ein weißes Shirt, lässige Jeans und hatte ihre Haare zu einem Dutt verknotet, während Nika in einem geblümten Kleidchen und Strumpfhosen danebenstand. Ich lächelte, als ich wieder mal bemerkte, wie unterschiedlich wir drei waren – aber wie verbunden im Herzen.

»Da bin ich! Sorry, ich musste noch ein bisschen was machen. Ich sag’s euch, diese App macht mich echt fertig. Aber es macht so Spaß!« Sie pustete sich eine lose Strähne aus der Stirn.

»Welche App?«, wollte ich interessiert wissen und Kaia grinste.

»Erzähl ich euch gleich.«

»Okay, dann lasst uns schnell reingehen.« Ich hakte mich bei den beiden unter und zog sie Richtung Eingang.

»Ich hoffe, du hast reserviert«, meinte Kaia sofort an mich gerichtet, ganz die Strukturierte, die sie war. Ich nickte, während wir die Bar betraten. Die meisten der Tische rund um den türkisfarbenen Tresen mit roten Hockern waren schon belegt. Kaia zupfte an meinem Jackenärmel. »Du hast doch reserviert, oder?«

Ich sah sie an. »Ja, hab ich. Mach dir keine Sorgen.«

Sie wirkte erleichtert. »Zum Glück. Wohin müssen wir?«

Ich ließ meinen Blick schweifen und suchte mit den Augen nach einem Kellner. Ziemlich schnell entdeckte ich einen jungen Kerl mit dunkler Schürze, der gerade an einem der kleinen runden Tische stand. Unsere Blicke trafen sich und ich lächelte. Er nickte und wandte sich zu einem Kollegen um. Als ich sah, wer sein Kollege war, ging ein kurzer, aber intensiver Ruck durch mich hindurch. Das durfte doch wohl nicht wahr sein!

Der Kollege war Ben.

Ja, man sah sich tatsächlich immer zweimal im Leben. Ohne dass ich es wollte, beschleunigte sich mein Herzschlag. Sofort musste ich an den letzten Abend denken und daran, und wie wütend er am Ende gewesen war.

Als er mich entdeckte, wirkte er alles andere als begeistert. Eher ziemlich genervt. Na wunderbar. Ich war auch nicht gerade begeistert, ihn zu sehen. Doch Ben ließ mir keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn schon kam er schnurstracks auf uns zu. Er trug ein helles Hemd, das er an den Armen hochgekrempelt hatte, wodurch seine definierten Unterarme deutlich zum Vorschein kamen, dazu dunkle Jeans und eine Schürze mit dem Lokalslogo der Regina. Er arbeitete hier. Shit.

»Du schon wieder?«

Meine Schwestern sahen mich fragend an. Ich beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. »Ich habe einen Tisch für drei reserviert. Auf Schiffner.«

Er nickte, zückte sein Lesegerät und schaute mich dann an. »Alles klar, Schiffner habe ich hier. Mir nach.«

»Kennst du ihn?«, wollte Nika sofort flüsternd wissen. Ich reagierte erst mal nicht und folgte stumm Ben, der zielstrebig vorausging. Vorbei an einem lila Sofa, auf dem sich zwei Mädels in unserem Alter angeregt miteinander unterhielten, hin zu einem Tisch, der nicht weit entfernt war von der kleinen Bühne. Wobei Bühne übertrieben war. In erster Reihe stand mittig ein Tisch, davor ein Stuhl und ein Mikrofon.

»Da wären wir, kann ich euch was zu trinken bringen?« Er wirkte gereizt. Eher Soto als Scrat. Ob es meinetwegen war?

»Was gibt’s denn? Oder was kannst du uns empfehlen?«, fragte Kaia, nachdem sie sich gesetzt hatte.

Ben musterte meine Schwester, während sie ihren Blazer über die Stuhllehne hängte. »Wir haben heute spezielle Limonaden im Angebot. Die alkoholische Variante mit Rosé und zwei weitere mit Zitronengras und Holunder.«

»Super.« Sie sah uns an. »Jeweils eine? Dann probieren wir durch?«

»Okay«, sagte ich und Ben nickte.

»Alles klar, wird erledigt.« Er wandte sich ab und Kaia und Nika schauten mich eindringlich an.

»Was?«

»Wer ist das?«, wollte Nika schon wieder wissen.

Ich griff nach der Karte, die vor uns auf dem Tisch lag, und betrachtete die Zeichnungen darauf. »Niemand. Ein Idiot.«

»Ein sehr heißer Idiot«, gab Nika mit einem Schmunzeln auf den Lippen zu bedenken. »Habt ihr seine Unterarme gesehen?«

Ich stöhnte auf und legte die Karte wieder weg. »Das war ja klar, dass so einer wie der in dein Beuteschema fällt. Aber glaub mir, er ist bescheuert. Und mit seinen starken Armen kann er nicht mal ein Bier halten.«

Sofort versteifte sich Nika. Augenblicklich tat es mir leid, ich wollte nicht so forsch sein.

»Etwa auch ein Bad Boy und Herzensbrecher?«, fragte sie und betonte die beiden Wörter dabei besonders. »Hmmm? Aber dann frage ich mich, woher du ihn kennst? Nach deinem Prinzip ist er ja nichts für dich … Und was meinst du eigentlich mit dem Bier?«

Am liebsten hätte ich den beiden von der Challenge erzählt, doch das ging in diesem Moment leider schlecht. »Es tut mir leid, ich hab’s nicht so gemeint. Aber meine Theorie stimmt. Und er ist wirklich bescheuert und …« Ich stoppte, als Ben mit einem Mal wieder vor uns stand.

»Die Getränke«, sagte er nur und Nika kicherte. Gar nicht lustig.

»Danke.« Kaia sah entschuldigend zu ihm hoch, dabei hatte er sicherlich nichts mitbekommen. Und falls doch, war es mir egal.

»Alles klar, wenn was ist, einfach Bescheid geben.« Und schon war er wieder weg.

»Er ist doch nett. Ich frag mich echt, wo dein Problem ist.«

»Jetzt streitet nicht, dafür sind wir nicht hier«, mischte sich nun Kaia ein. »Der Plan war, gemeinsam einen schönen Abend zu haben. Wenn ihr also nicht aufhört, poste ich auf Instagram das Bild von dem Tag, an dem ihr euch die Haare blau gefärbt habt.« Herausfordernd blickte sie uns an.

Als ich mich daran zurückerinnerte, musste ich lachen. »Genau, und auch nicht, um über Kerle wie Alex und Ben zu reden.« Ich streckte Nika die Zunge heraus, doch grinste sie gleich darauf an. Ein bisschen kindisch vielleicht, aber unter Schwestern durfte man das. Kaia war immer diejenige, die kleine Streitereien wie diese zwischen uns schlichtete. Sie war top organisiert und überließ nichts dem Zufall. Im Gegensatz zu Nika, die bei Weitem die Emotionalste von uns war. Deswegen gerieten wir auch öfter mal aneinander. Und ich? Ich war irgendwie eine Mischung aus den beiden.

»Dafür, dass du ihn nicht kennst, weißt du aber seinen Namen.« Nika streckte mir nun ihrerseits die Zunge raus.

»Schluss, aus! Ihr wollt also was über die App wissen? Oder soll ich den Post schon mal vorbereiten?« Kaia blickte schelmisch zwischen uns beiden hin und her. Lachend schüttelte ich den Kopf.

Hinter mir wollte sich jemand setzen, also rückte ich kurz mit meinem Stuhl vor, bevor ich gespannt antwortete: »Ja, ich will auf alle Fälle etwas darüber wissen!«

»Okay, passt auf. Ich bin gerade dabei, eine App zu entwickeln, und ihr glaubt es nicht, wenn das klappt, das wäre einfach so genial! Man könnte sich so gut organisieren damit. Die App ist nämlich vorausschauend.« Sie sprach so schnell, dass sie sich bei dem letzten Wort fast verhaspelte. »Zusammen mit dem Team aus meinem Zukunftsseminar. Wir wollen sie einreichen bei einem Wettbewerb für junge Entwickler. Wer da gewinnt, wird finanziell bei der Umsetzung unterstützt.«

»Du bist eindeutig ein Superhirn«, bemerkte ich anerkennend, was Kaia eine leichte Röte auf die Wangen trieb.

»Na ja, jetzt übertreib mal nicht. Aber ich denke, die Idee ist gut. Nika, ich hab da auch an dich gedacht.« Sie drehte sich auf die andere Seite. »Wie oft verschwitzt man mal einen Arzttermin? Oder andere Termine. In die App kannst du alles eintragen und sie sagt dir, wann du wieder hinsolltest, und erinnert dich ganz automatisch. Aber nicht nur das: Sie macht das gleich auch mit anderen Ärzten und schlägt dir Termine vor. Ist das nicht toll?«

Wir sahen zuerst uns und dann unsere Schwester begeistert an. »Das ist es. Allerdings!«

Kaia strahlte. »Ja, und sie berechnet sogar noch mehr. Man kann allerlei Befindlichkeiten eintragen und sie reagiert darauf. Ich bin so gespannt, ob das alles funktioniert. Und ob wir für den Wettbewerb alles hinbekommen. Bis jetzt ist es nur ein Pitch, die besten Ideen werden gefördert. Danach wäre ein Prototyp an der Reihe.«

»Lina hat recht, du bist echt ein Superhirn.« Nika hob ihr Glas. »Auf dich und deine grandiosen Ideen!« Kaia und ich hoben ebenfalls unsere Gläser und stießen mit Nika an.

Ich war froh, dass durch dieses Thema Ben und das Prinzip nicht mehr zur Sprache gekommen waren. Gleich würde es sowieso losgehen. Ich sah auf mein Handy: noch zehn Minuten. Kaum vorstellbar, dass dann all die Gespräche verstummen würden. Mein Blick wanderte von den vielen Menschen in dem kleinen Raum zu der bunte Tapete, den hellen Blüten auf moosgrünem Grund, bevor ich mich aufrichtete.

»Ich gehe mal eben auf die Toilette, gleich fängt’s an. Muss noch jemand?« Kaia und Nika schüttelten den Kopf.

»Geh ruhig und beeil dich.«

Lächelnd nickte ich den beiden zu und bahnte mir schließlich meinen Weg an den Tischen vorbei in Richtung der ausgeschilderten WCs. Ein herber Duft kroch mir in die Nase, der mir irgendwie bekannt vorkam. Als ich an der Treppe angekommen war, erkannte ich, warum.

Da stand ausgerechnet Ben.

Er unterhielt sich mit einem Kerl, doch sah in meine Richtung. Sein Gesicht hellte sich auf, und nachdem er sich über die Schürze gestrichen hatte, winkte er mir zu. Merkwürdig … vielleicht hatte er sich wieder beruhigt? Vielleicht war doch alles halb so wild – aber warum hatte er dann das Match aufgelöst? Ich überlegte, was ich nun tun sollte. Zurückwinken? Wenn die Challenge eine Chance haben sollte, musste ich das wohl oder übel tun. In dem Moment, in dem ich die Hand hob, erkannte ich jedoch, dass sein Winken nicht mir gegolten hatte, sondern einem Kerl, der nun an mir vorbei und direkt auf Ben zuging. Wie peinlich!

Du gehst einfach vorbei, sagte ich mir und lief eilig auf die Treppe zu, die zu den Toiletten führte. Er hatte mich nicht bemerkt. Hoffte ich jedenfalls. Einfach nicht weiter darüber nachdenken. Als ich unten angekommen war, beeilte ich mich auf der Toilette, wusch mir fix die Hände und strich noch einmal schnell durch mein Haar. Nachdem ich fertig war, ging ich genauso eilig wieder zurück.

Ben hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Unsere Blicke trafen sich. Diesmal wirklich. Schnell vorbeigehen, erinnerte ich mich, bis ich eine Stimme hörte.

»Wer ist das?« Die Frage richtete sich wohl an Ben.

»Die? Echt crazy ist die. Hat mich gestern den ganzen Abend verfolgt, mir irgendwelche Anschuldigungen an den Kopf geknallt und jetzt denkt sie, ich würde ihr danach noch zuwinken.« Um ihn herum brach Gelächter los. Ich stoppte mitten in der Bewegung. Lästerte der etwa über mich? Das konnte ja wohl nicht wahr sein!

Betont langsam drehte ich mich zu ihm um und hob eine Augenbraue. »Was hast du gerade gesagt? Redest du etwa über mich?«

Ben wandte sich mir zu. »Wer? Ich?« Seine Stimme klang ganz entspannt.

»Ja, du!« Wütend machte ich einen Schritt nach vorn.

»Möglicherweise.« Herausfordernd blickte er mich an.

»Und wieso erzählst du hier so einen Schwachsinn?«

»Schwachsinn? Es stimmt doch, dass du gestern Abend überall dort aufgetaucht bist, wo ich war, nur um mich anzuzicken. Und jetzt echt geglaubt hast, ich winke dir zu.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn, dann warst du überall dort, wo ich war. Und nein, das dachte ich nicht. Ich habe jemand anderem gewunken, sicher nicht dir.«

»Ach ja? Und wem?« Shit, wem könnte ich gewunken haben? Glücklicherweise entdeckte ich genau in diesem Moment etwas weiter vorne ein Mädchen, das ich aus der Uni kannte. Zumindest hatte ich sie schon mal auf dem Unigelände gesehen. Mira? Oder Melli? Oder … egal.

»Ihr da hinten, wir kennen uns aus der Uni. Also bild dir mal nichts ein.«

»Ach so, klar, na dann.« Seine Mundwinkel begannen zu zucken. Nichts wie weg. Ich wandte mich ab und ging schnell auf den Tisch zu, an dem meine Schwestern bereits warteten. Natürlich hatten sie alles mitbekommen.

Aufgeregt wippte Nika mit einem Bein. »Okay, raus mit der Sprache, was ist da los?« Sie sah mich eindringlich an. Und auch Kaias neugieriger Blick war auf mich gerichtet.

»Ich hab ihn gestern im Club getroffen und er ist ein Idiot, mehr nicht. Ein Idiot, der gerade über mich gelästert hat.« Ich kniff die Augen zusammen.

»Was? Warum denn das?«, fragte Nika überrascht.

»Keine Ahnung, weil … ich ihm vielleicht die Tour mit einem Mädchen versaut habe?« Stöhnend ließ ich mich gegen die Stuhllehne fallen. Beiden standen nun noch mehr Fragezeichen im Gesicht. »Ach egal, unwichtig. Ich …«

»Du hast dem Mädchen doch nicht etwa von deinem Prinzip erzählt, oder?«, unterbrach mich Nika mit gerunzelter Stirn.

Zögerlich antwortete ich. »Und wenn doch?«

»Das hast du nicht!« Schockiert starrten mich die beiden an, bevor sie in einen Lachanfall ausbrachen. »Du bist echt unverbesserlich. Lina, die Rächerin der gebrochenen Mädchenherzen!«

Glücklicherweise kam in genau diesem Moment Professor Brandner auf die Bühne und Applaus übertönte meine Worte, als er sich auf den Stuhl setzte und ihn näher zum Tisch rückte. Sofort wurde es ruhiger, die Gespräche verebbten.

»Guten Abend, es freut mich sehr, dass so viele gekommen sind. Wie Sie alle wissen, widme ich mich heute einem äußerst interessanten Thema in der Literatur und auch in unser aller Leben: Zufälle oder Schicksalsbegegnungen?«

Die Zeit verflog nahezu, während wir gebannt Professor Brandners Vortrag lauschten. Zumindest die meiste Zeit, denn immer wieder riskierte ich einen heimlichen Blick zu Ben. Er hatte sich ebenfalls gesetzt und verfolgte Herrn Brandners Ausführungen. Nur ab und zu wurde er für eine Bestellung gerufen.

Ich versuchte wirklich, ihn zu ignorieren, was allerdings nicht so leicht war, da mich die Sache von eben tatsächlich ein wenig getroffen hatte. Was dachte er eigentlich, wer er war?

Noch dazu konnte ich ihn von meinem Platz aus genau sehen. Ich erwischte mich sogar dabei, wie ich ihn zwischen Vorsehung und Bestimmung abcheckte. Zu meinem Widerwillen musste ich zugeben, dass er gut aussah in dem hellen Hemd, das sich verdächtig um seine Schultern spannte. Von seinem Tinderprofil wusste ich ja, dass er viel Sport trieb.

»Wir reden oft von Zufällen«, riss der Professor mich aus meinen Gedanken, »aber nur, wenn sie uns als solche bewusst sind. Ein Beispiel: Zwei Menschen sind zufällig am gleichen Ort. Ist das wirklich Zufall oder doch Fügung?«

»Nun, kommt drauf an«, hörte ich Bens Stimme. Ich erstarrte. Warum mischte er sich denn jetzt ein?

»Inwiefern?«, wollte der Professor wissen.

»Ab und an wirken Dinge wie Zufälle, aber sind es nicht.«

Einen Moment lang überlegte Herr Brandner, bevor er wieder ansetzte: »Interessant, führen Sie das weiter aus.«

»Na ja, es ist doch in der Literatur genau das Gleiche. Es gibt verschiedene Handlungsstränge. Der eine führt ganz zufällig zum anderen. Aber eigentlich ist es genau so gewollt – eingefädelt –, richtig?«

»Ja, vom Autor«, bestätigte der Professor.

»Genau. Und irgendwie sind wir ja die Autoren unseres Lebens. Heißt, wenn nach außen hin jemand aus Versehen, ganz zufällig in etwas hineinpfuscht, das eigentlich anders verlaufen wäre, wenn die Person nicht da gewesen wäre, schreibt diese Person die Geschichte um. Wenn jemand einen zum Beispiel auf einer Dating-App anschreibt, sagen wir Tinder, und so tut, als hätte er ihn zufällig angerempelt, sich etwas davon verspricht und ihm dann eins auswischen will, wenn es nicht funktioniert – aus Eifersucht, weil der Angeschriebene kein Interesse an besagter Person hat –, verändert diese Person durch ihr Verhalten den Lauf der Dinge. Das ist weder Schicksal noch Zufall, das ist gewollt.«

»Genau, das ist es eben. Wir wissen nicht, ob eine Begegnung zufällig ist oder Fügung. Wir werden immer nur einen Weg im Leben nachvollziehen können. Dadurch kann durchaus ein Ungleichgewicht entstehen, das …«

»Ein Ungleichgewicht. Soso.« Ben blickte direkt in meine Richtung. »Das bedeutet, eine Person, die etwas ins Ungleichgewicht gebracht hat, kann es wieder ausbügeln. Und das Gleichgewicht damit wiederherstellen?«

»So ein Unsinn. Man kann doch nie wissen, was gewesen wäre, wenn. Dinge im Leben kommen, wie sie kommen«, rutschte es mir heraus und mit einem Mal waren alle Augen auf uns gerichtet. Es war mucksmäuschenstill im Raum. Man hätte eine Stecknadel fallen gehört.

Bens Blick lag noch immer auf mir. »Das würde ich an deiner Stelle jetzt auch sagen.«

»Ähm, meint der dich?« Nika sah mich mit großen Augen an.

»Spannend, ich mag Diskussionen. Also, ja, ich würde es genauso formulieren. Ungleichgewicht wird durch Gleichgewicht ausgebügelt, aber …« Herrn Brandners Worte verschwammen in meinem Kopf. Ich war erleichtert, dass er mit ihnen die Aufmerksamkeit von uns nahm. Wieso tat Ben das?

»Du hast ja kein Tinder, also kann er dich nicht meinen, oder?«, sagte Kaia jetzt und ich nickte.

»Ganz genau, der nervt nur, vergessen wir ihn.« Ich nippte an meiner Limo, um nicht weiter darauf eingehen zu müssen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Kaia und Nika sich verschwörerisch angrinsten, aber ich tat so, als wäre es mir vollkommen egal.

Als die Lesung vorbei war, hatte ich Ben zum Glück aus den Augen verloren. Aus dem Kopf ging mir die Diskussion allerdings nicht.

»Also, dann machen wir uns mal auf«, meinte Kaia, nachdem wir ausgetrunken und gezahlt hatten – bei einem anderen Kellner – und schließlich vor der Tür der Regina standen.

»Sollen wir dich mitnehmen?«, wollte Nika wissen. »Mama kommt gleich und holt uns ab.«

Ich schüttelte den Kopf. Emma hatte mir vor ein paar Minuten eine Nachricht geschickt, dass sie mich einsammeln könne. Sie war schon von Kati losgefahren.

»Okay, dann sehen wir uns die Tage, war schön!« Wir umarmten uns und die beiden machten sich auf zu der großen Kreuzung. »Und reden noch mal«, rief mir Nika über die Schulter zu. Na toll.

»Sind deine Freundinnen schon weg?« Erschrocken wirbelte ich herum. Ben. Na ganz toll.

»Was willst du?«, fuhr ich ihn an. Die Schürze hatte er nun ausgezogen und durch eine dunkle Lederjacke ersetzt. War ja klar.

»Nichts, ich schau nur.«

»Dann schau woanders hin.« Ich wusste selbst, dass ihn das nur in dem bestätigen würde, was er sowieso schon von mir dachte. Ich war wirklich zickig. Aber er hatte mich so provoziert und das vor all den Gästen! Er konnte vergessen, dass ich jetzt irgendwie nett zu ihm war. Und dann auch noch diese unverschämte Sache vor der Treppe.

»Du hattest heute Morgen sicherlich ’nen ganz schönen Kopf, oder?«, wollte er wissen.

»Hast du nichts anderes zu tun, abkassieren zum Beispiel?«, fragte ich schnaubend.

»Ich helfe nur aus. Carlo, meinem besten Freund, gehört die Hälfte der Bar. Ist Teilhaber. Also?«

Ich atmete tief durch. »So schlimm war’s nicht. Aber schön, dass du dir Gedanken darüber gemacht hast. War das heute Morgen, als du alleine aufgewacht bist ohne deine Begleitung aus dem Club? Da hattest du bestimmt viel Zeit zum Nachdenken.« Ich blickte ihn herausfordernd an.

Er verzog das Gesicht zu einem leichten Grinsen. »Für dich war es sicherlich schlimmer zu sehen, dass ich das Match aufgelöst habe. Wo du doch so scharf auf mich warst. Oder warum bist du heute hier?« Dieses Grinsen würde ihm schon noch vergehen.

»Ich war sicherlich nicht scharf auf dich. Und bin wegen der Lesung hier«, schoss ich zurück.

»Klar, die Lesung.« Er schaute mich an mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. »Hat Spaß gemacht eben. Wie schön du dich aufregen kannst … Gefällt mir.«

Ich verdrehte die Augen. Er wollte mich also in Verlegenheit bringen? Darauf konnte er lange warten. »Freut mich, dass ich dir den Abend versüßen konnte.« Lichter blendeten mich. »Viel Spaß noch, ich muss dann mal.« Eilig ging ich auf den Wagen zu, der direkt vor uns anhielt. Emma, endlich!

Ohne mich noch einmal nach Ben umzudrehen, stieg ich ein und ließ mich erschöpft in den Beifahrersitz fallen. Emma hingegen verdrehte sich ganz schön, um Ben hinterherzublicken. »Ist das Ben?«

»Jap.« In diesem Moment drehte er sich noch einmal um und hob die Hand. Als ich nicht zurückwinkte, wendete er sich schmunzelnd ab. »Idiot!«

»Oh, mein armes Baby.« Emma fuhr los. »Was ist passiert? War es so schlimm?«

Stöhnend ließ ich meinen Kopf in die Hände fallen. »Der hat mich total genervt, wer konnte denn damit rechnen, dass er da sein würde? Also echt. Was für ein Zufall.«

Emma lachte. »Irgendwie lustig, hast du eben etwa nicht aufgepasst?« Ich sah sie an, ohne ihr eine Antwort zu geben. »Nein, okay. Du hast ja recht, ist wirklich überraschend.«

»Und als es dann um ein paar Beispiele zu Zufällen, Schicksal und Gleichgewicht ging, hat er mich vor allen bloßgestellt und irgendwelche Vergleiche und Anspielungen gebracht, mit denen er eindeutig auf mich abgezielt hat. Und ich hatte heute Morgen tatsächlich noch überlegt, mich zu entschuldigen!« Wütend verschränkte ich die Arme vor der Brust.

Emma sah über ihre Schulter und anschließend zu mir, bevor sie den Blick wieder auf die Straße richtete. »Echt jetzt? Du wolltest dich entschuldigen? Wie denn das? Wolltest du ihn suchen? Übers Radio? Oder Fernsehen? Hi, ich bin Lina und suche Bad Boy Ben. Melde dich bei mir!«

»Sag mal, hast du bei Kati zu viel Haarspray eingeatmet?«, fragte ich sie lachend. »Keine Ahnung, auf Insta vielleicht oder doch noch mal über Tinder. Ich weiß nicht. Ich hätte mir was einfallen lassen.« Ich ließ meinen Kopf gegen die Stütze fallen. »Wegen der Challenge, verstehst du? Ich wollte weitermachen und hatte überlegt, das alles noch mal anders aufzurollen. Denn in einem sind wir uns ja hoffentlich einig: Er ist ein bescheuerter Bad Boy und ich will ihn enttarnen. Für meine Leserinnen. Für Nika.«

»Wirklich? Du wolltest das echt weitermachen?« Emma sah entgeistert zu mir rüber.

»Ja, hatte ich vor. Aber darüber bin ich hinweg. Weißt du, was er sich danach noch geleistet hat? Nicht nur, dass er so frech war und diese Anspielungen gemacht hat.«

»Erzähl.«

»Gerade eben ist er auch noch angekommen und hat mich geärgert. Von wegen, ob ich bemerkt hätte, dass er das Match aufgelöst hat. Wie arrogant ist er denn bitte? Als ob mich das interessieren würde.« Dass ich tatsächlich ein wenig getroffen war, erwähnte ich nicht.

Sie runzelte die Stirn. »Tut es das nicht?«

»Nein, natürlich nicht. Alles, wozu ich ihn gebraucht habe, war zu beweisen, dass mein Prinzip Hand und Fuß hat. Nur darum ging es. Gut, gestern habe ich mich schon etwas danebenbenommen, aber ich musste auch erst überlegen, wie ich das alles angehe, und bin praktisch ins kalte Wasser gesprungen.« Ich hatte mich in Rage geredet.

Emma legte mir beschwichtigend eine Hand auf den Arm und parkte das Auto. »Wir sind da.« Vor lauter Ben-Gefluche hatte ich gar nicht gemerkt, dass wir schon an unserem Wohnhaus angekommen waren. »Ist doch egal, was der Kerl sagt, lass ihn einfach. Hak es ab.«

»Versuch ich auch, aber …« Ich atmete tief durch. »Irgendwie hat mich der Ehrgeiz gepackt in Bezug auf dieses Challenge-Zeug. Und abhaken ist da gerade irgendwie nicht. Ich meine, schau mal, offensichtlich …« Und da dämmerte es mir. »Ja, offensichtlich sucht er meine Nähe. Was, wenn es kein Zufall war, dass er heute da war, wenn er irgendwo gesehen hat, dass ich dort sein würde. Wenn er mich stalkt, auf Insta oder so, und …«

»Du verrennst dich da. Wie sollte er dich auf Insta stalken können? Da müsste er schon deinen ganzen Namen wissen. Ab und an muss man Dinge sein lassen.« Sie stieg aus. Ich tat es ihr gleich und folgte ihr nach oben zu unserer Wohnung.

»Ja, aber …«, versuchte ich es noch mal.

»Lina, was ich dir damit sagen will: Ich bewundere deinen Ehrgeiz. Aber du solltest deine Energie lieber in Wichtigeres stecken als in diese Challenge. Du verstehst, was ich meine?«

Vor unserer Wohnungstür angekommen, atmete ich noch einmal tief durch. »Ja, ich verstehe es. Nach heute Abend verschwende ich sicher keine Energie mehr daran.«

»Tust du wohl.«

In diesem Moment bekam ich eine Nachricht von Nika, die in unsere Schwesterngruppe geschrieben hatte: Hey, Schwestern! War echt schön heute. Wiederholen wir das die Tage? Und Lina, du hast Tinder … ich hab es gesehen. Nur mal so. Ich will eine Erklärung. Wo hatte sie das gesehen, etwa bei Alex? Er hatte noch eine Dating-App?! Mein Puls beschleunigte sich.

»Wer ist das?«, unterbrach Emma meine Gedanken und schloss die Tür auf.

»Nika. Sie will, dass wir uns die Tage wiedersehen, und hat mich nach Tinder gefragt. Diese alte Spionin.«

Emma lachte. »Wie kommt sie auf Tinder?«

»Ich hab doch gesagt, Ben hat Anspielungen gemacht. Dabei hat er mal schön Tinder mit ins Feld geworfen und natürlich wurden die beiden da gleich hellhörig.«

Wir traten durch die Tür. Während wir Jacke und Schuhe auszogen, erklärte ich Emma noch mal ganz genau, was Ben gesagt hatte, dann sah ich sie an und wartete auf ihre Reaktion.

Sie verzog das Gesicht. »Im Ernst, das mit der Challenge war lustig. Dein Ehrgeiz und deine Prinzipien in allen Ehren, aber lass es gut sein. Stress dich nicht wegen dem Typen und seinen Provokationen oder der Challenge. Das ist doch morgen schon wieder vergessen.«

»Du verstehst nicht«, widersprach ich ihr, schlüpfte in meine Hausschuhe und lief in die Küche. »Es ist nicht nur wegen dieser Challenge, sondern auch wegen meines Blogs. Und vor allem wegen Nika. Es wäre tatsächlich super gewesen, wenn ich all meine Thesen hätte belegen können … Egal, ich krieg das auch so hin. Irgendwas fällt mir schon ein.« Die letzten Worte kamen nur noch gemurmelt aus mir heraus.

»Da glaube ich ganz fest dran. Aber jetzt ab ins Bett.« Emma nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank, gab mir ein Küsschen auf die Wange und verabschiedete sich in ihr Zimmer. Auch ich wollte ins Bett. Der Tag war lang gewesen und ich war müde. Wirklich müde.

Emma hatte recht, ich durfte meine Energie nicht verschwenden. Die Challenge war durch und mir würde schon was anderes einfallen, wie ich meine Theorie beweisen konnte. Irgendwie musste ich Nika schließlich davon überzeugen, dass es nicht normal war, wenn Verliebte Dating-Apps hatten. Blieb nur die Frage, wie. Ich sollte einen Plan aufstellen. Einen richtigen. Einen, der durchdacht war, meine Gedanken und …

Mein Handy summte. Wahrscheinlich hatte nun auch Kaia ihren Senf zum Tinderskandal abgegeben. Ich sollte die Gruppe stumm stellen. Doch als ich mein Handy aus der Hosentasche zog, erkannte ich, dass die Nachricht von einer unbekannten Nummer stammte. Ich öffnete WhatsApp und ließ meinen Blick über den Text wandern:

Muss dir nicht peinlich sein, das Winken vorhin. ;) Ben

Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte, während ich die Nachricht noch einmal las. Erstens: Woher hatte er meine Nummer? Und zweitens: Warum interessierte es ihn überhaupt? Hatte er etwa doch angebissen? Gab es noch eine Chance?

Ich starrte die Wörter an. Ich hatte recht gehabt, von Anfang an. Ben hatte angebissen. Emmas Worte schoben sich in meinen Kopf: Ich sollte meine Energie lieber in Wichtigeres stecken. Ich wusste, dass sie recht hatte – und doch war da dieser Drang in mir. Ich tippte auf Kontakt speichern und gab Bens Namen ein, bevor ich mich meiner Antwort widmete:

War mir nicht peinlich. Peinlich ist, erst das Tindermatch aufzulösen und sich dann meine Nummer zu besorgen. Woher hast du sie?

Ich drückte auf Senden und wartete. Die Haken wurden blau und schließlich schickte Ben drei Lachsmileys zusammen mit einem kurzen Text zurück.

Ich hab sie halt. Woher, ist doch egal. Ich bin eben ein super Detektiv. ;)

So was Bescheuertes. In meinen Fingerspitzen kribbelte es.

Jetzt sag schon.

In die Reservierungsliste muss man seine Nummer eintragen.

Das sagst du mir einfach so? Das ist eine Straftat! Datenschutz und so?

Ich war völlig baff. Das hatte er getan, um an meine Nummer zu kommen? Ich lief zu unserem Esstisch und ließ mich auf den erstbesten Stuhl fallen.

Verklag mich doch. ;)

Meine Finger schwebten einen Moment über dem Display, dann gab ich die Frage ein, die ich mir seit unserem Wiedersehen stellte:

Was willst du von mir?

Es dauerte nicht lange, da folgte schon Bens Antwort.

Ich habe mir Gedanken gemacht. Laut dem Professor hast du gestern durch deinen gespielten Zufall ein Ungleichgewicht in mein Leben gebracht. Dafür brauche ich jetzt eine Entschädigung. Heißt, du schuldest mir was, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Du verstehst?

Oh. Mein. Gott. Ich hatte es tatsächlich geschafft! Seine Aufmerksamkeit galt nun mir. Aufgeregt tippte ich eine weitere Nachricht:

Ich wüsste nicht, weshalb ich dir irgendetwas schulde. Und was heißt hier überhaupt Ungleichgewicht und Gleichgewicht wiederherstellen? Unsinn! Funktioniert nicht.

Ich wüsste schon, wie das funktioniert. Also?

Also was?

Also wie stehst du zu einem Date? Wegen des Gleichgewichts und alldem? Denn wenn der Professor recht hat, müssen wir das durchziehen, sonst endet es für dich und mich richtig mies.

Der Kerl war verrückt. Noch verrückter als ich. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Wir waren schon längst in Stufe zwei!

Entspannt lehnte ich mich in dem Stuhl zurück und schickte meine letzte Nachricht des Abends:

Erinnerst du dich an Herrn Brandners Theorie über Zufälle? Entweder sehen wir uns wieder – zufällig – oder eben nicht. Ich bin gespannt, was in dir steckt.

Dann packte ich das Handy weg.

Wen immer wir lieben (Immer-Trilogie - Band 1)

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