Читать книгу Wen immer wir lieben (Immer-Trilogie - Band 1) - Michelle Schrenk - Страница 9

KAPITEL 1

Оглавление

»Ich brauche einen Drink und eine Waschmaschine. Sofort!«

Ich knallte mein Handy wohl etwas zu fest auf den Tresen, an dem bereits meine Freundinnen Emma und Kati saßen, denn ihre Drinks – zwei Aperol Spritz – begannen, verdächtig zu wackeln. Musik dröhnte aus den Boxen. Es roch nach Parfüm und Schweiß und auch ein wenig nach Holz, so wie immer im Hinz und Kunz, einem besonders bei Studenten beliebten Club mitten in der Nürnberger Innenstadt.

»Unsere Lina ist mal wieder in ihrem Element.« Emma lachte und linste neugierig auf das Display meines Handys, während sie sich eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Ihre Wimpern waren heute wieder mal unglaublich lang und geschwungen, der Lidschatten glitzerte. Typisch Emma. Ich wohnte mit ihr und den sicher über 150 Beautyprodukten zusammen in einer WG. Wir kannten uns seit der Schulzeit und studierten an derselben Uni. Ich war unendlich froh, sie in meinem Leben zu haben. Mit ihrer Liebe zu Beautyprodukten, die sie täglich auf Instagram und Co. auslebte, war es immer lustig. Manchmal auch etwas gruselig, wenn sie wieder eine ihrer merkwürdigen Masken im Gesicht hatte, aber das war eben Emma. Und ja, ich genoss auch einige Vorteile, denn durch sie hatte ich nach langem Suchen endlich die perfekte Pflege für mein blondes Haar gefunden, konnte jegliche Flechtfrisur in Sekundenschnelle zaubern und wusste, wie ich durch kleine Tricks meine blauen Augen besser in Szene setzen konnte.

»Was ist denn los?« Auch Kati, die nun ebenfalls mein Display begutachtete, grinste und ihre Augen funkelten dabei. Kati verbreitete immer gute Laune, wenn sie dabei war. Größtenteils verbrachte sie ihre Freizeit aber mit ihrer Band Visionless, deren Leadsängerin sie war. Das ein oder andere Mal waren Emma und ich auch schon bei einem ihrer Auftritte gewesen.

»Oha, jetzt verstehe ich die Aufregung. Ziemlich heiß, der Kerl. Wer ist das?« Sie ließ einen Finger über das Display wandern.

Meine Hände schwitzten noch immer und mein Puls ging spürbar schnell. Ziemlich heiß. Ja, genau das war ja das Problem. »Erst der Drink, dann erzähle ich euch alles«, sagte ich abgehetzt, ehe ich mich umdrehte und die Hand hob, um den Barkeeper zu rufen. »Ich bekomme bitte auch einen Aperol Spritz.« Während der Barkeeper damit begann, das bestellte Getränk zu mixen, wandte ich mich wieder den Mädels zu, die noch immer das Foto auf meinem Handy musterten.

Emma sah zu mir auf. »Okay, das mit dem Drink verstehe ich. Aber wofür zur Hölle brauchst du jetzt eine Waschmaschine? Um dich darauf von unserem Adonis hier während des Schleudergangs packen zu lassen? Nackt?« Sie lachte und auch Kati, die gerade einen Schluck aus ihrem Glas nehmen wollte, prustete augenblicklich los.

»Ja, das würde euch gefallen.« Ich spürte, wie sich ein Grinsen auf meinem Gesicht ausbreitete. »Aber nein, ich …« Ich wollte gerade loslegen, hielt dann aber doch inne, weil der Barkeeper in diesem Moment den Aperol vor mir abstellte. Ich fummelte einen Zehneuroschein aus der Tasche meiner engen Jeans und legte ihn mit einem Lächeln auf den Tresen. »Danke, stimmt so«, sagte ich und fuhr an meine Freundinnen gewandt fort: »Also, die Waschmaschine brauche ich, damit ich Nika da reinpacken kann, um mal wieder alles in ihrem Kopf zurechtzurütteln.« Ich ließ meinen Zeigefinger neben dem Kopf kreisen wie bei einem Schleudergang. »Da ruft sie Kaia und mich an und meint, sie bräuchte sofort ihre Schwestern um sich. So ein Alex wäre gemein und komisch zu ihr. Ich erkläre ihr, dass dieser Alex ein bescheuerter Bad Boy ist, der nach einem Stufenprinzip vorgeht. Und dass sie bereits in Stufe vier feststeckt. Und sie? Sie hört gar nicht wirklich zu. Denn auf einmal ist wieder alles gut, weil er sie anruft und ihr Honig um den Mund schmiert.« Frustriert nahm ich einen tiefen Schluck aus meinem Glas. Dem Blick der beiden nach zu urteilen, verstanden sie nur Bahnhof. Ich nahm einen weiteren Schluck. Erst spürte ich die kühle Flüssigkeit meinen Hals hinunterrinnen, dann breitete sich Wärme in meinem Bauch aus und ich entspannte mich ein wenig. Was für ein Tag.

»Ähm, noch mal von vorne. Was? Nach Prinzip? Welches Prinzip denn?«, wollte Emma wissen und Kati fügte an: »Und welche Stufen?« Ich konnte die Fragezeichen in ihren Augen buchstäblich sehen. Es war der gleiche Blick wie der meiner Schwestern, als ich ihnen kurz zuvor alles erklärt hatte: der typische Was-hat-Lina-jetzt-schon-wieder-ausgeheckt?-Blick.

Ich streckte den Rücken durch. »Jaaa, nach Prinziiip«, wiederholte ich und zog die Worte dabei in die Länge.

»Okay, und welches Prinziiip soll das bitte sein?«, imitierte mich Emma.

Ich sah von ihr zu Kati und wieder zurück, bevor ich schließlich antwortete: »Das Bad-Boy-Prinzip! Und Nika fällt leider voll darauf rein.« Ich stöhnte auf.

Die beiden lachten. Sie hatten mich weder verstanden noch nahmen sie mich ernst. »Der wievielte Drink war das jetzt?«, wollte Emma wissen und Kati ergänzte: »Sei doch nicht so streng mit der armen Nika, sie ist eben verliebt. Und der Kerl ist ja auch unübersehbar heiß.« Sofort dachte ich an das Gespräch mit meinen Schwestern. Nika hatte ein unglaublich großes Herz, schon immer. Sie war gutmütig, aber leider auch ein bisschen naiv. Vielleicht machte ich mir deshalb solche Sorgen um sie oder eben, weil ich die Älteste von uns dreien war und deshalb einen gewissen Beschützerinstinkt entwickelt hatte. Während Nika nämlich immer nur das Beste in den Menschen sah, waren Kaia und ich skeptischer. Als Nika also von diesem Alex erzählte, schoss mir augenblicklich die Erklärung für sein Verhalten in den Sinn. Und auch, warum sie so von ihm gefangen zu sein schien. Ganz klar, meine Schwester war in die Falle eines Herzensbrechers getappt.

»Dieser Alex ist ganz offensichtlich ein mieser Kerl. Mit seiner Lederjacke, diesem Blick und der geheimnisvollen Aura: Er spielt ein Spiel, aber ich habe es durchschaut. Er weist alle Alarmsignale auf.« Seufzend griff ich nach meinem Handy, öffnete erneut Alex’ Instagram-Profil und deutete auf die Bilder, die er dort gepostet hatte. »Schaut mal, ich erkläre es euch. Allein sein Account. Und auf Tinder sieht es nicht anders aus. Zum Beispiel hier, ein Oben-ohne-Foto. Und da, in der Lederjacke, verrucht und sexy. Und dort, seht doch mal, wie er sich beinahe schüchtern durchs Haar fährt. Noch besser: einmal in Farbe und einmal in Schwarz-Weiß zum Vergleich.« Ich schob das erste Bild nach links, um ihnen auch das zweite zu zeigen. »Und dazu noch diese Texte … Was findet ihr besser, Leute? Schwarz-Weiß oder Farbe? Oder beides? Da leidet jemand ganz eindeutig an einem Aufmerksamkeitsdefizit.«

»Also, jetzt übertreibst du aber«, meinte Kati. »Klar, ein paar Bilder sind schon etwas … na ja. Aber auf diesem hier sieht er doch ganz normal aus, süß sogar, mit der Strickmütze. Ist jetzt kein schlechtes Foto.«

»Darum geht’s aber nicht.« Ich zeigte den beiden ein Bild, auf dem er halb nackt an einer Wand lehnte, das Handy verdeckte sein Gesicht und ich stieß erneut einen Seufzer aus. »Mal ernsthaft, was soll das immer? Warum halten sich die Typen andauernd das Handy mitten ins Gesicht?«

»Gute Frage, vielleicht flext er mit dem neuen iPhone«, überlegte Emma.

»Womöglich, vielleicht ist aber auch seine Nase aus der Nähe zu groß«, entgegnete ich grinsend und wischte weiter zum nächsten Foto. »Und schaut mal hier, der Text, so poetisch und kreativ: Always on fire. Fight for your desire. Niemals aufgeben. Never give up. Always on top. Gib es zu! Wie viele Liegestütze schaffst du?«

Kati lachte. »Reimemonster!«

Jetzt musste auch ich lachen. »Mädels, mal ehrlich: Dieser Blick, was soll der einem sagen?«

Emma hob kichernd die Hand und schnippte heftig mit den Fingern. »Ich weiß es, Frau Lehrerin!«

»Ja, Emma?« Ich hob mein Glas und deutete damit auf sie.

»Dass er richtig toll dichten kann – nicht!« Emma stupste mich an und ich fuhr lachend zusammen. »Lina, ey, du übertreibst.«

»Was sagt uns denn sein Blick deiner Meinung nach?«, bohrte Kati hingegen weiter.

Ich stellte das Glas wieder ab. »Ganz einfach. Sein Blick soll uns zeigen, wie selbstbewusst er ist und dass er jede haben kann, aber dass er doch auch angeblich so verletzlich ist. Ein typisches Lockmittel. Dazu noch Texte wie dieser hier: Wer würde mich jetzt gern umarmen? Umarmung zu verschenken. Wie bescheuert ist das denn!« Ich deutete auf ein weiteres Bild und sofort begannen die beiden zu lachen.

»Er ist halt liebesbedürftig«, sagte Emma. Und als sie sich beruhigt hatte: »Spaß beiseite. Du redest von Alarmsignalen. Aber Signale sind nun mal bloß Signale. Daraus ergibt sich doch nichts weiter. Du hast nicht ernsthaft ein passendes Prinzip entwickelt, oder?«

Und ob ich das hatte, denn ich war anderer Meinung. Im Zuge meines Studiums beschäftigte ich mich zurzeit mit dem Selbstbild der Frau in der modernen Literatur. Erst war ich nicht so begeistert gewesen von dem Thema, aber dann hatte es mich gepackt. Vor allem aber hatte es mich auf eine Idee für meinen Blog gebracht.

Darauf teilte ich der Welt meine Gedanken mit, alles, was mich bewegte. Stress war bereits ein Thema gewesen, außerdem Drogen, Beautywahn, Lifestyle … Ich liebte es, auf Aktuelles jeglicher Art einzugehen und Erfahrungen mit meinen Leserinnen zu teilen, ob es meine eigenen waren oder die von Menschen, die mir ihre Geschichten anvertrauten – inkognito natürlich. Deswegen wusste kaum jemand, dass ich unter dem Pseudonym Linaria schrieb. Eine Verbindung aus meinem Namen und Lunaria – einer Pflanze, die man auch Silberling nannte und die mich schon immer faszinierte. Denn ihre Bedeutung lag darin, Licht ins Dunkel zu bringen. Und genau das hatte ich mir zur Aufgabe gemacht. So auch bei meinem neuesten Blogbeitrag. Denn Schürzenjäger und Tunichtgute waren nicht mehr wegzudenken aus Büchern, Filmen und der Realität. Viele Frauen fuhren total auf sie ab. Leider! Nachdem ich also das Verhalten analysiert hatte, das diese Kerle an den Tag legten, war ich sicher, dass ein Prinzip dahinterstecken musste. Denn ihr Vorgehen war immer erschreckend ähnlich.

»Lasst es mich erklären, bevor ihr mich für verrückt erklärt«, setzte ich an und rückte dabei meinen Hocker zurecht. »Ich habe doch für die Uni diese Arbeit zu schreiben, über Frauenliteratur«, fuhr ich fort. »Dabei habe ich gemerkt, dass in Büchern und Filmen immer nach dem gleichen Prinzip vorgegangen wird. Und in der Realität genauso. Alex ist der lebende Beweis.«

Die beiden wirkten nun etwas überfordert. »Du meinst das echt ernst, oder?«, fragte Kati, während Emma mich mit offenem Mund anstarrte.

»Klar meine ich das ernst! Und deshalb darf ich euch hier und heute mit Stolz mitteilen, dass ich ihr Prinzip durchschaut habe. Und in Stufen aufgeteilt. Da schaut ihr, was?« Ich grinste sie an und nahm einen Schluck von meinem Aperol. Es wurde immer voller in dem kleinen Club, während sich die kühlen lila Lichtstrahlen mit warmen gelben vermischten und im Takt der Musik vibrierten.

»Stufen, okay … Erklär es uns.«

»Na ja, ich habe eine Art Herzensbrecherskala entwickelt. Moment, ich zeig es euch mal.« Oh, oh, der Aperol machte sich langsam bemerkbar. Aber egal. Ich war Feuer und Flamme, tippte aufgeregt auf meinem Handy herum und rief den Entwurf des Blogbeitrags auf.

»Das Bad-Boy-Prinzip«, las Kati mit zusammengekniffenen Augen vor. »Die Alarmsignale.«

»Und welche Signale sind das genau?« Emma beugte sich über den Tresen, um einen Blick auf meine Notizen zu erhaschen.

»Ganz einfach eigentlich, wie ich es hier stehen habe: Bad Boys haben Narben, Tattoos, tragen bevorzugt Lederjacken und hautenge Shirts, sind unnahbar und doch charmant. Irgendwie arrogant. Eine tragische Geschichte spielt eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Sie sind natürlich Draufgänger, haben ihre eigenen Regeln. Und klar, sie küssen umwerfend und sind ausgesprochen gut im Bett. Meistens jedenfalls. Ausnahmen bestätigen die Regel. Aber vorwiegend machen sie einen süchtig mit ihren Küssen und …«

»Mit ihren flinken Fingern«, ergänzte Emma grinsend, während sie die Finger ihrer linken Hand wackeln ließ.

»Das auch«, bestätigte ich ebenso grinsend. »Und sie machen einen auf gleichgültig, haben diese verschlossene Art. Typ einsamer Wolf, ihr wisst schon. Aber dann suchen sie doch wieder deine Nähe. Sie bringen dich zu ihren Lieblingsorten, vorzugsweise auf dem Motorrad, und hauchen dir dabei aufregende Dinge ins Ohr. Ja, sie geben dir das Gefühl, die Welt erobern zu können, dabei ist ihre Welt nicht besonders spannend, wenn man alles erst mal durchschaut hat. Und all das verpacken sie in sieben Stufen.«

»Du meinst das Ganze also tatsächlich ernst«, stellte Kati mit großen Augen fest. »Holy …«

»Holy was? Fuck? Shit?«

»Holy Boys.« Emma lachte. »Und wo hast du das recherchiert? In Teenagerheftchen, oder was?«

»Veräppelt mich nur, meine Schwestern haben genau das Gleiche gesagt. Aber nein, man muss nur ganz genau hinsehen, Filme aufmerksam schauen und Bücher konzentriert lesen. Es ist immer der gleiche Ablauf.«

Kati zog eine Augenbraue nach oben. »Ja, diese Quellen sind in der Tat sehr aufschlussreich.«

»Ihr könnt es so lange ins Lächerliche ziehen, wie ihr wollt. Aber ich habe den Durchblick.« Erneut nippte ich an meinem Aperol. »Sieben einfache Stufen, Mädels. Sieben.« Ich hob die Hand und spreizte die Finger.

»Das sind fünf«, scherzte Kati.

»Und Nika?«, mischte sich nun Emma wieder ein.

Ich seufzte. »Na ja, wie schon gesagt, die befindet sich in Stufe vier. Oder sogar schon in Stufe fünf, sie trifft sich ja gerade mit Alex. Bald ist Herzschmerz angesagt. Noch ein Date, dann Sex – und schließlich der Abschuss.« Ich verzog das Gesicht.

»Lina, mal echt jetzt.« Kati konnte sich das Lachen nun kaum mehr verkneifen. »Du hast wirklich recherchiert und diese Signale in ein Stufensystem verpackt? Ist das dein Ernst?«

»Mein voller Ernst. Und wenn man diese Stufen bei einem Kerl erkennt, sollte man sich schleunigst umdrehen und abzischen.« Ich machte ein Geräusch wie von einer startenden Rakete.

Emma lachte. »Nicht jeder Kerl ist so wie in den Büchern beschrieben. Also bleib mal locker, dieser Alex ist vielleicht ein ganz Netter. Am Ende mag er deine Schwester wirklich. Und Dating-Apps sind auch nicht so schlecht, da gibt es durchaus Kerle, die nicht nur Sex wollen. Oliver Pocher hat seine Amira schließlich auch darüber kennengelernt und die haben mittlerweile schon zwei Kinder.« Ein ganz Netter …

»Ich glaube leider, dass an diesem Alex überhaupt nichts Nettes ist«, gab ich zu bedenken.

»Na ja, ich meine, Ausnahmen bestätigen die Regel. Hast du vorhin selbst gesagt!«, verteidigte sich Emma.

Nun lachte ich. »Nur, wenn du die Regeln machst. Denn deine Ausnahmen, die bleiben Ausnahmen. Mädels, jetzt seid doch mal nicht so gutgläubig! In die Trashformate gehen die Kandidaten ja auch nur wegen der Erfahrung und nicht wegen der Hoffnung auf Follower.« Die beiden kicherten. »Und was Nika anbelangt«, fuhr ich fort, »er will sie nur ins Bett kriegen. Eine Zehn auf der Herzensbrecherskala ist der Kerl.« Es war ziemlich voll für einen Donnerstagabend und dementsprechend warm in meinem Strickcardigan. Ich zog ihn aus und atmete tief durch.

»Okay, jetzt noch mal zum Mitschreiben, Lina«, sagte Emma. »Du erkennst diese Kerle also an bestimmten Merkmalen. Alarmsignalen. Leuchtet oberflächlich betrachtet erst mal ein. Aber dass sie alle nach dem gleichen Prinzip vorgehen, kommt mir doch recht unwahrscheinlich vor. Gibt’s da ’ne Schule, oder was?«

Ich grinste sie an und nahm einen weiteren Schluck von meinem Getränk. »Tatsächlich habe ich da was entdeckt. Schaut einfach bei Google mal nach Pick-up Artist und ihr werdet erleuchtet sein.«

Emma sah mich verständnislos an. »Was soll das sein?«

»Pick-up Artists sind hochmanipulativ und verfolgen einen ganz bestimmten Plan, mit dem sie Frauen ins Bett kriegen wollen und …«

»Okay, Mädels, ich hab ’ne Idee!«, unterbrach mich Kati, während sie von ihrem Barhocker aufsprang und in die Hände klatschte. »Wir spekulieren hier doch eh nur. Alles reine Theorie. Jetzt wird’s Zeit für eine Studie am lebenden Objekt. Für deinen Blog und vielleicht sogar die Hausarbeit wäre die Idee, die ich habe, sicher enorm hilfreich«, meinte sie schmunzelnd und setzte sich wieder.

»Und die wäre?«, fragte ich skeptisch.

Ihre Augen funkelten. »Lasst uns ein Spiel daraus machen. Du, Lina, behauptest, du erkennst sie alle, die Kerle, die diese Alarmsignale aufweisen? Und kannst sie auf einer Herzensbrecherskala einordnen von null bis zehn: Langweiler bis Bad Boy?«

»So ist es«, sagte ich feierlich.

Kati zückte ihr Handy und öffnete eine App. »Dann lass uns mal auf Tinder deine Skala checken.«

»Ihr und euer Tinder …«, seufzte ich. »Aber gut, meinetwegen.« Ich beugte mich zu ihr rüber. Sofort wurde ihr ein Kerl angezeigt: Toby23. Toby mit y. Weniger als einen Kilometer entfernt. Dunkle Haare, blaue Augen, natürlich oben ohne.

»Bad Boy oder nicht? Wie hoch ist der Faktor?«, fragte sie mich mit einem Augenzwinkern. »Was siehst du?«

Ich griff nach dem Handy, um ihn genauer zu betrachten. »Okay, das weiß ich schon beim ersten Bild. Da muss ich nicht mal genauer hinsehen. Und erst der Text. Schaut doch mal, was da steht: Ich nehme das Leben leicht, wie ist es mit dir? Mein Motto: Lebe in den Tag hinein. Hobbys: Fitness, Travel the World«, las ich vor.

»Und?«

»Heißt: lockere Nummer, mehr nicht, Baby. Der kommt und geht, wann er will. Und Aufmerksamkeit widmet er ausschließlich sich selbst. Ein Poser, mindestens Herzensbrecherskala acht.«

»Na gut.« Kati wischte ihn weg. »Und was ist mit dem?«

Nun wurde ein junger Kerl mit Brille und schmalem Gesicht angezeigt. Johann, 25 Kilometer entfernt. Hobbys: Spielen und Schildkröten.

»Eindeutig«, antwortete ich diesmal, »ein Nerd, aber sicher kein Herzensbrecher.«

»Aber was, wenn er eine Lederjacke im Schrank hat und sich nachts verwandelt?«, fragte Emma von links. Ich stupste sie in die Seite und wir alle lachten. Kati wischte auch ihn weg.

Sofort erschien ein weiterer Kerl, von dem man nur Muskeln zu sehen bekam. Sie kicherte. »Echt jetzt, was denkt man sich dabei? Hallo Sixpack, ja, ich will ein Date mit dir?«

»Na, dem geht’s wohl eher um Körperkontakt. Er will Sex. Auch mindestens ’ne Acht«, sagte ich trocken.

Als uns der nächste Kerl angezeigt wurde, zischte Emma durch die Zähne. »Oh, schaut mal, wie er dasteht. Wirkt irgendwie düster. Als hätte er …«

»Was zu verbergen? Ein Geheimnis?« Ich grinste sie an.

»Ja, schon irgendwie«, antwortete Emma zögerlich.

»Hör auf, er macht einen auf einsamer Wolf und du springst darauf an. Bei so einem wird immer die Vergangenheit die perfekte Entschuldigung für alles sein. Und seht euch seine Augen an. Der kifft doch.« Die beiden blickten mich verwundert an. »Nein, Mädels, sorry, mindestens eine Neun, also ganz klar in Richtung Bad Boy. Das sind fast alles Kerle, die man auf keinen Fall in seine Nähe lassen sollte, wenn man sich verlieben will. Die gehen alle nach dem Prinzip vor, ganz sicher«, seufzte ich.

»Na schön, ich probier es auch mal.« Emma zog jetzt ebenfalls ihr Handy aus der Tasche. »Nehmen wir den da. Was sagt uns das Foto? Jan, 15 Kilometer entfernt. Liebt die Natur. Helles Shirt, breite Brust. Mit der Hand streicht er unter dem Stoff darüber.«

Ich musste nicht lange nachdenken. »Er findet sich so heiß, dass er eigentlich am liebsten mit sich selbst ausgehen würde. Aber er hat dieses eine Problem: Sex allein macht nicht so viel Spaß. Der ist eindeutig süchtig danach.«

Wieder lachten die beiden und Emma wiegte nachdenklich ihren Kopf hin und her. »Mal ehrlich, Lina, nur weil dieser Alex ein paar Oben-ohne-Fotos bei Instagram postet oder dieser Typ auf einer Dating-App in der Lederjacke dasteht, weil sich jemand durchs Haar fährt, Narben oder Grübchen hat, ist er doch nicht gleich ein Herzensbrecher. Das heißt überhaupt nichts.«

In diesem Augenblick begann Emmas Handy zu vibrieren. Sie entsperrte es und ein Strahlen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Ha, ich habe ein Match!«, rief sie und legte das Handy vor uns auf den Tresen. Ich zog es ein wenig näher zu mir heran und musterte den Kerl auf dem Foto. »Na los, sag schon«, drängte Emma. »Was hast du diesmal wieder auszusetzen?«

Doch Kati, die hinter mich getreten war und mir über die Schulter lugte, kam mir zuvor. »Ach, mit dem hatte ich auch schon ein Match«, meinte sie nur.

»Oh, ach so.« Konnte es sein, dass Emmas Stimme ein klein wenig enttäuscht klang?

»Seht ihr«, bekräftigte ich, »so einer wie er gehört euch nie allein. Die matchen so viele. Wählerisch sein kennen sie überhaupt nicht.«

»Also gut, weg mit ihm«, sagte Emma bestimmt. »Ich muss zugeben, das Spiel gefällt mir. Deine Interpretationen sind interessant. Ganz allgemein gesehen. Und ich bin offen für Neues.« Sie spitzte die Lippen. »Oder hättet ihr gedacht, dass Chili, Vaseline und Zimtöl so einen Balsam für die Lippen zaubern? Der Mega-Boost.«

Ich lachte und hauchte ihr ein Luftküsschen zu, bevor ich mich wieder dem eigentlichen Thema widmete. »Ist nicht nur allgemein so, glaubt mir.«

Kati sah mich nun ernst an. »Du behauptest also, jeder dieser Bad Boys nutzt die gleiche Masche. Das bedeutet, du könntest ihnen nie verfallen, weil du sie vollkommen durchschaust?«

»Ja, dafür stehe ich mit meinem Aperol!« Ich hob mein Glas und nahm einen tiefen Schluck.

»Okay. Das war allerdings nur die digitale Welt, wie sieht es in echt aus? Wie gesagt, lebende Objekte.« Sie kniff die Augen zusammen. »Also sag mal, wer hier im Club ist noch ein typischer schürzenjagender Herzensbrecher?«

Ausführlich ließ ich meinen Blick durch den Raum und über die Gäste schweifen, über den dunklen Holztresen, der beleuchtet war von den vielen Lichtern, die an der Decke funkelten, über die Schaukeln, die vor der Bar angebracht waren. Mein Blick blieb in einer der Ecken hängen. »Da drüben an der Säule bei der Tanzfläche, seht ihr den? Der mit dem grauen Shirt. Breit gebaut, braun gebrannt, hundert Kilo Hantelbank.« Die beiden lachten. »Wartet, ich enttarne euch noch einen«, sagte ich. »Ah, der da. Schaut mal, er hat dieses Tattoo am Arm, die Lederjacke lässig über der Schulter. Und ist das ’ne Narbe an seiner Wange? Irgendwas hat er da jedenfalls. Und der Blick, absoluter Bad Boy. Ihr solltet die Finger von ihm lassen.« Während Emma und Kati interessiert zu dem Kerl hinübersahen, fuhr ich fort: »Der ist der absolute Aufreißer. Er nimmt jeden Abend eine andere mit, erzählt aber allen, dass sie etwas Besonderes seien. Das ist einer von der ganz schlimmen Sorte. Herzensbrecher hoch zehn!«

Mit einem Mal sahen sich die beiden verschwörerisch an. »Okay, du bist also überzeugt davon, dass du dich niemals in einen wie ihn verlieben würdest? Dass du immun bist gegen seinen Charme? Und für deinen Blog brauchst du den eindeutigen Beleg, dass es klappt?«, fragte Emma. Ich nickte. »Dann beweis es und mach den Test. Wir suchen einen potenziellen Herzensbrecher und du lässt dich auf ihn ein und zeigst, dass er nach den Stufen vorgeht. Dass er all diese Alarmsignale aufweist und Mädchen sich trotzdem Hals über Kopf in ihn verlieben. Und dass es dieses Happy End aus den Romanen nicht gibt. Du schreibst darüber auf deinem Blog, und wenn du es durchziehst, ganz ohne Gefühle, kannst du ihn am Ende abservieren. Bam! Theorie bestätigt! Sozusagen eine Wie-bricht-man-einem-Bad-Boy-das-Herz?-Challenge. Oder ganz simpel: Die Bad-Boy-Challenge.« Wie bitte? Waren die beiden jetzt völlig verrückt geworden? Wobei … irgendwie hatte es was. Mit einem Mal beschleunigte sich mein Herzschlag und ich spürte ein aufgeregtes Kribbeln auf meiner Haut. Ich könnte das wirklich tun. Stellvertretend für alle Mädchen, denen das Herz von solchen Kerlen gebrochen wurde, und um alle anderen zu warnen. Für Nika.

»Ich sehe es schon in den Geschichtsbüchern stehen.« Emma kicherte. »Das Lina-Erleuchtungs-Prinzip. Lasst uns einen Kerl suchen und die Challenge starten!«

Einen kleinen Moment dachte ich noch nach. So ein Blödsinn. Aber dann lachte ich, denn irgendwie war es verdammt komisch. Und ich bekam dadurch die Möglichkeit, meine These zu belegen, das Stufensystem zu testen, es anhand von Beispielen vorzustellen. Mir wurde warm im Bauch. Oder hatte ich etwa inzwischen zu viel Aperol intus? Ach egal, sagte ich mir, trank meinen Aperol aus und bestellte direkt noch einen.

»Wollt ihr auch einen?« Die beiden schüttelten den Kopf. »Gut«, brach ich schließlich mein Schweigen, als das neue Getränk vor mir stand. Ich rückte näher an meine Freundinnen heran und sie taten es mir gleich. Ich fühlte mich wie auf einer geheimen Mission. »Wir suchen also einen Bad Boy, der vor Alarmsignalen nur so strotzt. Eine Zehn. Und wenn ich bewiesen habe, dass mein Prinzip funktioniert, dann serviere ich ihn ab.« Ein paar Sekunden ließ ich den Vorschlag noch auf mich wirken, bevor ich grinste. Ja, die Idee war wirklich nicht schlecht und meine Schwestern und Freundinnen würden sich noch wundern. »Also gut, ich bin dabei. Ihr werdet sehen, es klappt.«

»Und wir suchen ihn auf Tinder«, ergänzte Kati.

»Ach nee, muss das sein?«, fragte ich flehend.

Sofort waren ihre Blicke auf mich gerichtet. »Ähm ja, natürlich.«

»Na schön. Aber nicht von euren Handys aus. Ich mache mir meinen eigenen Account«, sagte ich, während ich nach meinem Handy griff. »Euer Algorithmus ist doch schon total versaut von den ganzen Typen.«

»Ja, eben, ist doch der Sinn dahinter. Aber mach dir ruhig deinen eigenen«, stellte Emma lachend fest.

Dann ging es ganz schnell. Im Nullkommanichts war mein Profil eingerichtet. Drei Fotos in verschiedenen Posen. Eins in den Bergen, eins am Strand, eins mit Kussmund. Und schon hatte ich den perfekten Opfer-Account. Dazu ein kurzer Schnullitext: tralala verträumt und so. Das ideale Bad-Boy-Zielobjekt war geschaffen.

»Es geht los. Reichweite auf ein Minimum reduzieren. Altersspanne bis 25.«

»Das wird toll!« Emma hob ihr Glas. »Also, Lina, Deal?«

Ich griff ebenfalls nach meinem Glas und prostete den beiden zu. »Ja, ich bin dabei. Auf die Bad-Boy-Challenge!«

Wen immer wir lieben (Immer-Trilogie - Band 1)

Подняться наверх