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Wagih

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1. August 2014, 6:00 Uhr | 12 qm | Vergiss-mein-Nicht

Noch erfüllt von den Gedanken an sein Gebet kniete er auf einem kleinen Teppich, 60 x 90 cm, und hob nur langsam seinen Kopf. Sein Blick verweilte kurz auf der staubigen Plastikblume auf der Fensterbank, die irgendjemand dort vergessen hatte. Das blasse Lila der kleinen Blüten bildete den einzigen Farbfleck in dem kleinen WG-Zimmer eines trostlosen 60er-Jahre-Baus im Bonner Hinterland.

Neben dem Fenster standen ein einsamer Stuhl aus Kiefernholz von Ikea und eine an die Wand geschraubte Klapp-Holzplatte vom letzten Sperrmüll. Genau wie die schmale Matratze auf der gegenüberliegenden Seite auf dem Boden. Das Tuch sowie das Kissen erstrahlten in klarem Weiß, genau wie die Unterwäsche und T-Shirts, die ordentlich gefaltet in einer weiß gestrichenen Kiste neben der Matratze einen kleinen Stapel bildeten.

Das schwarze Hemd sowie die Jeans stachen dagegen wie ein erhobener Zeigefinger heraus, wie um daran zu erinnern, dass auch strahlendes Weiß den Regeln der Komplementärfarben zu folgen habe.

Wagih erhob sich von seinen Knien, legte den Koran vorsichtig auf die Tischplatte und verharrte einen Moment in seinen Gedanken. Durch die dünne Wand hörte er die Toilettenspülung.

Es war kurz nach 6 Uhr morgens, sein tunesischer Mitbewohner stand meist um diese Zeit auf. Er jobbte irgendwo auf dem Bau und wurde jeden Morgen um 6:30 Uhr von einem weißen Kastenwagen abgeholt und abends um 19 Uhr wieder her gebracht. Wagih wusste, dass sein Zimmernachbar Schwarz arbeitete.

Aber er brachte jede Woche 150 Euro nach Hause. Dass war doppelt so viel, wie Wagih zur Verfügung hatte und Wagih war froh, dass er sich von seinem Brot bedienen durfte, wenn er Hunger hatte.

Er wollte nicht klagen. Er mochte seinen Arbeitgeber, einen Landschaftsbauarchitekten, der ihn offiziell für ein Jahres-Praktikum angestellt und sogar krankenversichert hatte. Zu Hause, in Syrien, hatte er als Jüngster an einer Fachschule für Landwirtschaft seine Abschlussarbeit über die ‚Genetische Veränderung von Nutzpflanzen zur Reduzierung von Wasserverbrauch‘ geschrieben und dafür eine Auszeichnung erhalten.

Deutschland hatte ihm vor etwas über einem Jahr ein bedingtes Aufenthaltsrecht zugestanden. In einem Monat wurde er jedoch 18, damit lief sein Aufenthaltsrecht ab und er wusste nicht, ob es verlängert würde. Deutschlands Pflanzen hatten genug Wasser, es brauchte weder seine Forschungsergebnisse noch ihn selbst. Das hatte er bereits erfahren müssen.

Sein Blick schärfte sich wieder und fiel auf das Bild neben der Plastikblume. Vergiss-mein-nicht, hatte man ihm gesagt. Das Bild zeigte seine Familie. Er würde sicher nicht vergessen.

Heute war sein freier Tag und wie üblich würde er bis an die Stadtgrenze von Köln fahren. Bis dahin galt sein Job-Ticket, das ihm sein Arbeitgeber zur Verfügung gestellt hatte. Den Rest bis Bensberg konnte er laufen, dann wäre er gegen 9 Uhr an dem Kinderheim, in dem seine kleine Schwester lebte. Shamsi, die Sonne Syriens und die Sonne seines Lebens. Er war dafür verantwortlich, dass sie wieder strahlte und nicht nur schwach lächelte, wenn er sie an seinen freien Tagen besuchte.

Er hatte ihr noch nicht gesagt, dass sein Aufenthaltsrecht vielleicht nicht verlängert würde. Allah hatte ihm nicht die Kraft dazu gegeben und er wusste nicht, wie er das erklären, geschweige denn in Worte fassen könnte. Aber Allah ist groß und hat ihm den Weg gewiesen, den er zu gehen hatte. Er würde diesen Weg gehen, heute noch, für Shamsi.

Er nahm das Bild von der Fensterbank und küsste es. Sein Vater war für sie alle gestorben. Seit dem war er verantwortlich. Für Qamari, für seine Mutter. Er musste sie sterben lassen, damit Shamsi überlebte.

Er breitete seine weiße Unterwäsche ordentlich auf der weißen Decke der Matratze aus und zog seine Schlafshorts aus. Dann nahm er sich sein Handtuch und ging duschen.

Die Duschkabine war noch feucht und schmierig von altem Shampoo und Seife, aber sie war für fast 2 Minuten heiß, bis sein Zimmerkollege in der Küche den Hahn für das Kaffee-Wasser öffnete. Doch das kalte Wasser war ein willkommener Schock, den Wagih begrüßte. Er wollte klaren Gedankens sein, damit seine Schwester nicht die dunklen Schatten auf seiner Seele bemerkte, wenn er sie gleich besuchte.

Es war bereits nach halb zehn, als Wagih endlich am Kinderheim in der Broicher Straße ankam. Er musste drei Stationen zu früh aussteigen, da sich eine Gruppe Senioren über die nicht funktionierende Klimaanlage beschwerte und den Bus-Fahrer daran hinderte, weiter zu fahren, bis der die Polizei rief. Wagih wusste, dass er als Ausländer mit nur bedingtem Aufenthaltsrecht bei Aufruhren besser unsichtbar blieb. Der Mörder war immer der Fremde, im Zweifel auch der Mörder einer Klimaanlage. Also stieg er aus und lief zu Fuß weiter.

Bereits von weitem konnte er seine kleine Schwester am Zaun des Kinderheims sehen. Sie hatte ihre dunklen Haare in einem festen Pferdeschwanz geflochten, der sanft-glänzend über ihre Schulter fiel und die Minnie Maus auf dem rosa T-Shirt halb verdeckte. Dazu trug sie eine Jeans und ganz passend rosa Turnschuhe. Als er näher kam, entdeckter er eine kleine Blume im Gummiband des Pferdeschwanzes.

„Guten Morgen, Shamsi, Sonne meines Herzens, hat Allah dich diese schöne Blume finden lassen?“

Mit diesen Worten öffnete er seine Arme und Shamsi sprang hinein und schlang ihre dünnen Arme um seinen Hals.

„Nein“ antwortete sie, „das war Schwester Gabriela. Sie hat gesagt, dass ich zu meinem neuen T-Shirt auch ein paar Blumen im Haar haben sollte. Das sind Gänseblümchen, wusstest du das?“ Sie schaute Wagih fragend an, aber wartete die Antwort gar nicht ab. „Die heißen genau wie die Gänse, die wir letztes Wochenende auf dem Bauernhof gesehen haben. Und weißt du noch was, die wollen auch nicht alleine sein und deswegen haben wir sie ineinander verflochten. Siehst du?“

Damit streckte sie Wagih ihren Pferdeschwanz ins Gesicht und er konnte fast zwei Dutzend Gänseblümchen zählen, die Stiel an Stiel miteinander verbunden und als Band in die Haare gesteckt waren.

Er lächelte sie an. „Das war sehr nett von Schwester Gabriela. Sag ihr einen Dank von mir, wenn du sie wieder siehst.“ Damit setzte er sie ab. „Was möchtest du heute machen? Ich dachte, wir gehen bis zur Burg spazieren, dahinter ist doch der neue Spielplatz.“

„Oh ja, das wäre sehr schön. Ich möchte nur mein neues T-Shirt nicht schmutzig machen. Aber ich kann bestimmt schaukeln. Schubst du mich dann an?“

„Aber natürlich, Shamsi, ich schubse dich an, bist du der Sonne am Himmel Guten Tag sagen kannst.“ Damit nahm er ihre Hand und sie gingen gemeinsam los.

Auf dem Spielplatz sah er einige Mütter mit Kindern ungefähr im Kindergarten-Alter. Er spürte sehr deutlich deren vorsichtig taxierenden Blicke in seinem Rücken und versuchte sie zu ignorieren, indem er das Geplapper von Shamsi unterbrach. „Schau mal, eine Schaukel ist frei, möchtest du dort hin?“

Shamsi nickte und lief schnell durch den tiefen Sand auf die Schaukel zu. „Wagih, komm mit, du hast es versprochen. Bis zur Sonne will ich heute“.

Wagih sah, wie eine der Mütter lächelte und sich offensichtlich beruhigt wieder den anderen Frauen zuwandte, um ein wegen ihm unterbrochenes Gespräch fortzuführen. Es schmerzte ihn tief im Magen, dass er aufgrund seiner dunkleren Haut und dunklen Augen Angst hervor rief. Dabei konnten diese deutschen Frauen nicht mal im Ansatz wissen, was wirkliche Angst bedeutete. Oder Schmerz. Oder dabei zusehen zu müssen, wie Qamari, seine 12 Jahre alte Schwester, erst vergewaltigt und dann mehrfach gegen eine Wand geschleudert wurde, bis sie sich nicht mehr regte. Er saß während dessen hinter einer Holzwand, wohin seine Mutter ihn gezwungen hatte. Zusammen mit Shamsi und dem Versprechen, dass er Shamsi retten und nach Deutschland bringen musste. Das Land ihrer Träume, in der die Mädchen etwas Lernen durften und nicht als Sklavinnen mit 14 Jahren verheiratet wurden.

Während er Shamsi auf der Schaukel immer höher schubste, sah er wieder die Bilder von damals, als das Blut aus dem Kopf und aus dem Unterleib seiner Schwester strömte, weil die Männer sie erst brutal mit einem Stock weiten mussten, bevor sie sie vergewaltigen konnten. Seine Mutter lag bereits tot getrampelt und entblößt auf dem Boden.

Er war froh, dass sie Qamari nicht mehr hatte schreien hören. Das Schreien, dass ihn jede Nacht in seinen Träumen verfolgte und warum er heute tun musste, was er damals in diesem schmalen Spalt hinter der Holzwand geschworen hatte, als er Shamsi so fest den Mund zu hielt und gegen seine Brust drückte, dass sie in Ohnmacht gefallen war.

Shamsis lautes Lachen holte ihn zurück in die Gegenwart, als sie mit einem mutigen Sprung von der Höhe der fliegenden Schaukel sprang. Im letzten Moment konnte er die Schaukel zum Stoppen bringen, damit sie nicht weiter schwang und Shamsi verletzte. Dann half er ihr beim Aufstehen und klopfte mit ihr zusammen den Sand von ihrer Jeans.

„Hör bitte Shamsi, ich habe heute nicht so viel Zeit, ich muss noch ein paar Dinge erledigen. Was hältst du davon, wenn wir uns bei dem kleinen Imbiss ein paar Falafel und etwas zu trinken kaufen. Danach bringe ich dich zurück und du kannst vielleicht Schwester Gabriela bitten, noch eine Blumenkette für deinen großen Bruder zu binden. Was meinst du?“

Shamsis Gesicht hatte sich zunächst verdunkelt, aber bei dem Gedanken, ein Geschenk für ihren großen Bruder zu machen, erhellte es sich wieder. Folgsam nickte sie.

„Kommst du dann morgen vorbei und holst sie dir ab? Ich lege sie über Nacht ins Wasser und dann sind sie ganz frisch, wenn du kommst?“ Wagih nickt und hoffte, dass Allah ihm diese Lüge verzeihen würde.

4. August 2014 | EXPRESS.DE

Bonn wird zum Mekka der Salafisten

Vor sechs Tagen trafen sich mehr als 200 Salafisten in Bonn-Tannenbusch. Angeblich zum Grillen. Jetzt wird via Internet für kommende Woche schon zum nächsten Fest „All4Ummah-Grill“ eingeladen – im großen Stil in der Rheinaue, inklusive Verkauf und Vorträgen. Viele Bonner fragen sich besorgt: Was ist da los?

Schon das Grillfest im Tannenbuscher Grünzug Nord hat sich als Salafistentreff entpuppt. Mit dabei waren Hass-Prediger wie Pierre Vogel und Abu Dujana. Bonn gilt als Salafisten-Hochburg. Und jetzt zwei große Versammlungen kurz hintereinander: Eine Provokation gegen das Anti-Salafismus-Projekt „Wegweiser“, das gerade in Bonn gestartet ist? Mit ihm soll der Einstieg von Betroffenen in den gewaltbereiten Salafismus verhindert werden.

Weitere Informationen sowie ob Wagih M. Kontakt zu diesem Salafisten-Kreis hatte, finden Sie auf Seite 2 der heutigen Ausgabe.


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