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Fred
Оглавление1. August 2014, 18:10 Uhr | Elton John | rot-weiße Karos
Hilflos stand Fred vor dem Regal mit den Kaffeesorten. Wieso gab es so viele davon? Ganze Bohnen, Pulver, Pads, Kaffee in Kapseln oder auch nicht in Kapseln. Seine Mutter wurde immer so wütend, wenn er das Falsche mit brachte. Dabei gab er sich doch so Mühe, wenn er einmal die Woche die Einkäufe für seine Mutter machte, die seit Vaters Tod nicht mehr das Haus verließ.
Er könnte sie anrufen und fragen.
Seine Hand fand bereits das Handy in der rechten Tasche seiner rot-weißen Weste, die er mit Stolz trug. Diese Weste war das Zeichen seiner Selbständigkeit, seines Erfolges. Er hatte es allen bewiesen, ganz besonders seinem Vater, der ihn Zeit seines Lebens nie respektiert hatte.
Fred konnte nicht verhindern, dass das rot-weiße Karomuster ihres Küchentisches vor seinen Augen auftauchte. 106 Kästchen in der Diagonale. Er hatte die rot-weißen Kästchen oft gezählt, während sein Vater auf ihn ein brüllte, ihn einen Versager schimpfte, einen Nichtsnutz, weil er mal wieder auf dem Schulhof verprügelt worden war oder mit einer schlechten Note nach Hause kam.
Spätestens, wenn er in der diagonalen Reihe mit nur 68 Kästchen angelangt war, klatschte die große Hand seines Vaters auf sein rechtes Ohr und er wurde auf sein Zimmer verbannt. Er fand das nicht schlimm, danach war wenigstens für eine Weile wieder Ruhe.
Sein Zimmer war dank seiner Plattensammlung auch seine Rückzugshöhle. Elton John, Freddie Mercury und Georg Michael waren seine Helden und jeden Tag sang er tonlos vor dem Spiegel und übte heimlich ihre lasziven Bewegungen und Hüftschwünge.
Damit kam er in der monatlichen Schülerdisco auch ziemlich gut bei seinen Mitschülern an und spürte mehr als einmal neugierige, fast bewundernde Blicke auf sich. Selbst sein Kumpel Mark kam daraufhin öfter bei ihm vorbei und sie übten zusammen. Mark hatte ein Video von einem Queen-Konzert und wenn Freds Eltern nicht da waren, schauten sie sich das Konzert auf dem Fernseher im Wohnzimmer an und stoppten manchmal auch, um die eine oder andere Bewegung von Freddie Mercury nachzumachen.
Mark sang auch. Natürlich nicht so hoch wie Freddie Mercury, im Gegenteil, er versuchte seine Stimme so tief wie möglich klingen zu lassen. Die Mädchen stehen mehr auf dunkle Stimmen, behauptete er immer wieder, aber Fred bezweifelte das. Er war gerade durch den Stimmbruch durch und hatte eine schöne, dunkle Stimme. Die Mädchen interessierten sich trotzdem nicht für ihn. Er allerdings auch nicht wirklich für sie.
Als seine Mutter ihn und Mark eines Tages beim Tanzen im Wohnzimmer erwischte, schnappte sie sich einen Gürtel und schlug vor Marks Augen auf Fred ein. Dabei schrie sie und nannte ihn abartig, während ihr gleichzeitig die Tränen runter liefen. Erst als sich Fred schluchzend auf dem Teppich eingerollt hatte, um seinen Kopf vor den Schlägen mit den Armen zu schützen, hörte sie auf.
„Wenn das dein Vater sieht, bringt er dich um. Du bist nicht schwul, das gab es noch nie in unserer Familie und wird es auch nicht geben. Also reiß dich zusammen oder ich prügle es aus dir raus. Und du gehst morgen gleich nach der Schule zur Beichte!“
Mark war da schon weg und hatte Fred nach diesem Vorfall auch nie wieder besucht. Fred musste ab sofort jeden Sonntag in die Kirche und als Messdiener agieren. In die monatliche Schülerdisco durfte er auch nicht mehr.
Während Fred sich wieder auf die Kaffeesorten konzentrierte, wurde ihm klar, dass alles nichts genutzt hatte, weder die vielen Beichten, noch die besuchten Gottesdienste oder gar das Verstecken seiner Ängste und Gefühle vor jedem Menschen, der ihm nahe kam.
‚Im Grunde war es doch wie bei diesen Kaffeesorten‘ dachte er und die bunten Metallfarben tanzten vor seinen Augen. ‚Alle sehen so aus, als wenn sie absolut perfekt und das Beste der Besten sind. Letztendlich waren es trotzdem nur einfach zu Krümeln gemahlene Kaffeebohnen in kackbrauner Farbe. Egal, was da auf der Packung steht und wie sehr die Werbung einem etwas anderes weismachen will.‘
Auch seine Eltern achteten sehr auf ihr Äußeres. Zum Gottesdienst gab es für Vater den dunklen Anzug und Mutter hatte einige gute Sonntags-Kleider. Selbst er trug jeden Sonntag zum Gottesdienst unter seinem Talar ein frisch gebügeltes, weißes Hemd. Das hinderte seinen Vater trotzdem nicht daran, ihn regelmäßig zu verprügeln, wenn er angeblich mal wieder irgendeine ‚feminine‘ Bewegung machte. Also ging er weiter zur Beichte und tanzte auch nicht mehr vor dem Spiegel. Er war schwul. Oder zumindest stand er nicht auf Mädchen. Da half auch das beste gebügelte Hemd nichts.
Seit letzter Woche war ihm ebenfalls klar, dass auch Gott sich nicht von seiner Fassade hatte täuschen lassen. Sein Hausarzt vermutete Prostata-Krebs und in seiner Westentasche steckte die Überweisung zu einem Urologen.
Fred hatte es keinem gesagt, schon gar nicht seiner Mutter. Er dachte an das Emblem auf seiner Weste. FFT. Freds Freie Tankstelle. Für sein Verständnis hatte er alles getan, um sein Anderssein für sich zu behalten und dafür zu büßen. Selbst seine Plattensammlung verstaubte irgendwo auf dem Dachstuhl seiner Eltern und er arbeitete jeden Tag bald 16 Stunden und das 6 Tage die Woche.
Zornig zog er zwei Pakete Melitta Filterkaffee entkoffeiniert aus dem Regal und warf sie in den Einkaufswagen. Seine Mutter hatte Bluthochdruck. Wenn sie Koffein wollte, soll sie es sich gefälligst selbst besorgen. Entschlossen schob er den Wagen weiter und stieß fast mit Frau Kardiak zusammen, auch eine Kundin von ihm. Ihr Mann war Vorstandsvorsitzender irgendeiner Bank und sie rümpfte immer die Nase, wenn sie ihn sah. So auch jetzt. ‚Soll sie doch woanders tanken gehen, Geld wird sie ja wohl genug haben’ dachte Fred und ging weiter zur Kühltheke.
Er brauchte noch Milch und Käse. Bier hatte er genug zu Hause. Den Weißwein für seine Mutter würde er gleich bei Aldi einkaufen. Das war billiger und bei den Mengen, die seine Mutter so trank, kam es auf den Geschmack nicht mehr an.
29. September 1985 | St. Thomas Kirche | Beichtstuhl
Fred schob den dunklen Vorhang soweit zur Seite, dass er hindurch treten konnte. Eine kleine, schmale Bank füllte diesen Teil des Beichtstuhls, der Büßerhälfte, zu zwei Dritteln aus. Er setzte sich auf das dunkel gewetzte Holz der Bank und betrachtete das kleine Fenster zur anderen Hälfte. Er war froh, dass es so klein war und dass er den Pfarrer nicht ansehen musste. Oder angesehen wurde.
Nach einem Moment des Schweigens hörte er durch das kleine Quadrat eine raschelnde Bewegung und ein anschließendes, leises Räuspern. Dann wieder Stille.
Die Luft war feucht und kalt, er zitterte trotz eines dicken Pullovers. Er wollte das hier alles schnellstmöglich hinter sich bringen, aber wie? Vielleicht musste er ja gar nicht reden und einfach vor sich hin beten. Er dachte kurz darüber nach, einfach wieder zu gehen. Doch wenn er zu schnell wieder zu Hause war, würde seine Mutter bestimmt nachhaken.
Also sprach er, mehr für sich selbst, aber doch deutlich:
„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“
„Amen“ kam es aus der anderen Hälfte, gefolgt von einem weiteren Räuspern und einem kleinen Gebet, dass er nicht wirklich verstand, so leise war es gemurmelt. Dann wieder Stille.
„Mein Sohn, du bist hier, um deine Sünden zu bekennen. Willst du nicht anfangen?“
‚Ähm, ja. Meine Eltern schicken mich, weil ich gesündigt habe und bereuen soll.“ Schweigen.
„Was hast du denn gesündigt, dass deine Eltern dich schicken? Doch bedenke, du sollst vor Gott aus tiefstem Herzen bereuen. Es reicht also nicht, nur das zu wiederholen, was deine Eltern dir vorgaben. Gott schaut direkt in dein Herz und wird merken, wenn du nicht ernsthaft bereust. Hast du das verstanden?“
„Ja, Herr Pfarrer, ich denke wohl. Nur, ich verstehe nicht wirklich, warum Musik und Tanzen eine Sünde sein soll.“
„Du bist hier, weil du getanzt hast? Das erscheint mir ein wenig seltsam. Wie alt bist du, mein Sohn?“
„Ich bin 13 und gehe in die 7. Klasse. Meine Mutter hat gesagt, so tanzen nur Mädchen und außerdem hatte ich noch einen Freund dabei, deswegen war auch mein Vater sehr wütend und hat mich nach der Arbeit verprügelt und mich „schwul“ genannt.“ Er wollte das gar nicht alles sagen, es brach einfach aus ihm heraus und jetzt fühlte er sich seltsam erleichtert.
„Fühlst du dich denn zu Jungen hingezogen? Du bist erst 13 Jahre alt, meinst du nicht, dass du noch viel zu jung bist, um dir sicher zu sein, wohin es dich zieht?“
„Ich weiß gar nicht, ob es mich zu Jungen zieht. Eigentlich zieht es mich nirgendwo hin. Ich mag es nur, so zu tanzen wie Freddie Mercury. Aber meine Eltern meinen, dieser Mann ist voller Sünde und Schmutz. Deswegen darf ich seine Musik nicht hören, damit ich mich damit nicht anstecke und auch so werde. Schmutzig.“ Fred zog trotzig seine Tränen die Nase hoch. Er würde nicht weinen.
Auf der anderen Seite war gar nichts zu hören. Ob er den Pfarrer zu sehr geschockt hatte? Fred war schon bereit, Gott um Vergebung zu bitten, wie man das so tut am Ende einer Beichte, und dann zu gehen, als der Pfarrer endlich sprach.
„Weißt du, mein Sohn, auch wenn ich die Musik von Freddie Mercury nicht wirklich Wert schätze, denke ich doch, dass diese Art der Musik deine Wünsche nach körperlicher Wahrnehmung nicht ins Schlechte abgleiten lassen wird. Aber dennoch. Ich denke, dass du dich mit viel Bedacht durch Gebete sammeln solltest und darüber nachdenkst, was wirklich wichtig im Leben eines jungen Mannes ist.“
„Ich verstehe das jetzt nicht wirklich, Herr Pfarrer. Worüber genau soll ich nachdenken?“
„In Markus Evangelium ist geschrieben, dass von innen, aus dem Herzen der Menschen, die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft kommen. Wenn also nichts Böses an Gedanken aus dir kommt, kannst du auch nichts Böses bewirken und kann auch nichts Böses in dich eindringen. Verstehst du, was ich dir hiermit sagen möchte?“
„Ich glaube schon. Auf jeden Fall kann ich darüber nachdenken.“
„Tue das, mein Sohn. Außerdem wirst du einen Monat lang jeden Abend den Rosenkranz beten und über deine Gedanken und Gefühle nachdenken. Dann kommst du wieder zur Beichte und wir werden sehen. Und jetzt bitte Gott um Vergebung.“
„Danke und ich bitte Gott um Vergebung.“
„Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes, die Welt mit sich versöhnt und uns den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er Dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich Dich los von Deinen Sünden: Im Namen das Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.”
Fred bekreuzigte sich. „Amen.“